von Erhard Crome
Zu den sympathischen Zügen des Wissenschaftlers Dieter Segert gehört, dass er verwinkelte historische und politische Zusammenhänge mit persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen in einem Text so geschickt zu verbinden vermag, dass der Leser sie rasch und ohne große Mühe begreift. Das war schon so in seinem sehr lesenswerten Buch „Das 41. Jahr: Eine andere Geschichte der DDR“ aus dem Jahre 2008. Da wies er darauf hin, dass in der offiziellen Geschichtsschreibung Deutschlands die Ereignisse des Herbstes 1989 und seiner Folgen immer mit dem Blick auf den 3. Oktober 1990 dargestellt und ihr nationales Moment überzeichnet werden, Ausreisende und die großen Demonstrationen in den Mittelpunkt gerückt sind. Eine tatsächliche Geschichte des „41. Jahres“ müsse jedoch auch von dem Traum von einer anderen DDR erzählen, die wirklich demokratisch wäre, und von denen, die sich dafür engagierten.
Diese Geschichte erzählte er aus der Sicht eines Beteiligten. Dieter Segert, geboren 1952, war 1989 bereits berufener Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und gehörte zusammen mit Michael Brie, Rainer Land, Rosi Will und anderen der SED-Reformergruppe an dieser Alma Mater an, die einen anderen, „modernen Sozialismus“ auf demokratischer Grundlage anstrebten. In seinem Buch über das „41. Jahr“ beschrieb er anhand von Ereignissen und Aktivitäten, dass ohne diese Reformer aus der Staatspartei der Wandel des Systems anders verlaufen wäre. Der friedliche Wandel wurde möglich, als sich auch die SED-Basis von den Parteioberen löste.
Nachdem die Humboldt-Universität Anfang der 1990er Jahre von den neuen Herren umgestaltet worden war, bewarb sich Dieter Segert um eine nach BRD-Recht ausgeschriebene unbefristete Professur für Vergleichende Politikwissenschaft, auf die er 1993 in der Tat berufen wurde. Der CDU-geführte Berliner Senat berief ihn jedoch nur auf fünf Jahre und tat 1998 alles, um entgegen allen Voten aus der Universität sein Arbeitsverhältnis zu beenden. So hatte er 1998 bis 2001 eine Gastprofessur an der Karls-Universität Prag und ab 2005 bis zu seiner kürzlichen Emeritierung eine ordentliche Professur für Politikwissenschaft an der Universität Wien – er war in seinem Leben Politologie-Professor an vier verschiedenen Universitäten in zwei unterschiedlichen politischen Systemen. Sein Arbeitsschwerpunkt lag immer auf Osteuropa.
Vor diesem Hintergrund muss sein neuestes Buch betrachtet werden, in dem er über die „Transformation“ und die politische Linke unter einer dezidiert „ostdeutschen Perspektive“ schreibt, wieder unter Hinzuziehung persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse in den vergangenen über dreißig Jahren. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Ostdeutschen nach 1989 aus einer scheinbar sicheren Zukunft in eine große Unsicherheit geworfen wurden undsich dem stellen mussten. Dies steht jetzt den westlichen Gesellschaften bevor. Analog der damaligen Situation im Realsozialismus fällt es den Verantwortlichen auch heute schwer, das als richtig Erkannte in die Tat umzusetzen. Zugleich sind die westlichen Gesellschaften heute reicher als zuvor, während die Entwicklungschancen vieler Menschen stagnieren, weil der Reichtum einer kleinen Schicht Superreicher immer weiter wächst.
Die Politik erweist sich demgegenüber als unbeweglich. Die „westlichen Sieger“ haben die Chance, aus dem Scheitern des sowjetischen Sozialismus zu lernen, nicht genutzt. In Deutschland wurden die Erfahrungen der Ostdeutschen ignoriert, in ganz Westeuropa wurden die osteuropäischen Erfahrungen nur einseitig wahrgenommen, als Erfordernis nachholender Verwestlichung Osteuropas, nicht aber als „Spiegel, in dem eigener Änderungsbedarf sichtbar wird“. Nach 2004 „schien es zunächst so, als ob dieser Teil des Kontinents erfolgreich eingeebnet worden wäre“. Als Teil der EU wurden die Länder „zu zwar noch unentwickelten, aber tendenziell vollwertigen Mitgliedern jenes höchstentwickelten Staatenbundes, der seine Werteordnung an seinen Grenzen und weltweit zu verbreiten strebte. Ihre Spezifik schien nur noch der Vergangenheit anzugehören.“ Tatsächlich wurde die Region wieder „eine rückständige Peripherie des Westens“. Das mache die Besonderheit Osteuropas auch heute aus. Seit dem Wahlsieg von Fidesz 2010 in Ungarn artikuliere sich die Besonderheit Osteuropas politisch vor allem als „rechter Populismus“, der dem Wesen nach eine „ungewollte Nebenwirkung der radikalen Transformation Osteuropas“ sei.
Das zeige sich auch in Ostdeutschland, hier in Gestalt der „Wut ostdeutscher AfD-Wähler“. Typische Probleme von Migranten betreffen auch die Ostdeutschen: „Sie müssen häufig unter ihrer Qualifikation arbeiten. Sie sind in den Funktionseliten auch ein Vierteljahrhundert nach 1990 weit unterrepräsentiert.“ Hinzu kommen wechselseitige kulturelle Missverständnisse zwischen Ost und West sowie der Unwille „der westdeutschen Gesellschaft, eigene, natürlich – in der Eigenwahrnehmung – bewährte Regeln aufzugeben. Anpassung wird so sehr einseitig nur von den Ostdeutschen gefordert.“ Etwa 2,5 Millionen Ostdeutsche sind nach 1990 nach Westdeutschland übergesiedelt, das sind etwa 15 Prozent der Ausgangsbevölkerung; rechnet man die Zuwanderung aus dem Westen gegen, bleibt ein Minus von 11 bis 13 Prozent. Das entspricht in etwa der Abwanderung aus den osteuropäischen Ländern nach Westeuropa.
Hinzu, so Segert, kämen Medien, die Probleme nicht deutlich artikulierten. Obwohl es eine institutionelle Zensur nicht gebe, hätten wir es mit einem „inhaltlichen Einheitsbrei“ zu tun, der offensichtlich mit der Auswahl der Kandidaten für Chefsessel und einem begrenzenden Wertekanon zu tun habe. Eine der Folgen sei die „Kluft zwischen der Mehrheit der Politikerinnen […] und der deutschen Bevölkerung bezüglich der wünschenswerten Beziehungen zu Russland“. Die Berichterstattung folgte dem Motto: „Russland ist schuld!“.
Eines der Hauptprobleme, mit denen sich Segert befasst, ist die Artikulation des Protestes in Gestalt des „rechten Populismus“. Dringend nötig sei die Überwindung der „postsozialistischen Depression“ der Linken. 1989 sei weder das „Ende der Geschichte“, noch das Ende der großen Ideologien oder das „Ende des utopischen Zeitalters“ gewesen, wie Anfang der 1990er Jahre viele behaupteten. „Genauer betrachtet hatte allerdings nur die eine Utopie über die andere gesiegt. Die Utopie einer ausbeutungsfreien und klassenlosen Gesellschaft (Kommunismus) war durch die Doppel-Utopie von der fortschrittsfördernden Liaison des freien Marktes mit der liberalen Demokratie ersetzt worden. Diese Verbindung sollte zukünftig allen Menschen Freiheit, Wohlstand und Frieden bringen.“ Damit war es spätestens mit der Finanzkrise 2008 vorbei, in Osteuropa definitiv.
Nötig seien neue soziale Utopien, ein Ende der „Manipulation der Demokratie“ sowie einer „elitären Parteipolitik“. Segert diskutiert im Sinne utopischen Denkens Arbeitszeitverkürzung als „solidarische Antwort auf steigende Produktivität“, ein allgemeines Grundeinkommen als „Ausweg aus steigender Arbeitslosigkeit“, bezahlbares Wohnen als aktuelle Dringlichkeit, partizipative Demokratie. „Mehr Utopie wagen“ heiße, Wege zur Erneuerung der politischen Linken zu eröffnen, um politische Mehrheiten für eine andere Art von Politik zu gewinnen, für ein solidarisches Miteinander.
Ein sehr lesenswertes Buch, dringend zu empfehlen.
Dieter Segert: Transformation und politische Linke. Eine ostdeutsche Perspektive, Hamburg: VSA Verlag 2019, 168 Seiten, 16,80 Euro.
Schlagwörter: DDR, Dieter Segert, Erhard Crome, Humboldt-Universität, Ostdeutsche, Sozialismus