22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Wie eine Monstranz

von Alfons Markuske

Die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung über die Konflikte und die erneute Konfrontation mit Russland sowie die heuchlerische Attitüde von Politik und Medien, in der Auseinandersetzung mit dem personifizierten Bösen in Gestalt von Osama bin Putin die höchsten Güter der Zivilisation, Menschenrechte und Demokratie, zu verteidigen, bescherte der ersten Ausgabe dieses Buches im Jahre 2014 immerhin zehn Auflagen und 20 Wochen auf der Bestsellerliste. Das öffentliche Misstrauen gegenüber den Verlautbarungen des politischen und medialen Establishments ist seither nicht geringer geworden, und die erweiterte, aktualisierte zweite Ausgabe der Schrift von Bröckers und Schreyer gibt dem Leser hinreichend Material und Belege an die Hand, um darin auch weiterhin nicht nachzulassen.
Zur aktuellen Zuspitzung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland kam es bekanntlich im Gefolge der Entwicklungen 2013/2014 in der Ukraine. Als deren gewählter Präsident sich weigerte, das ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, wurde er unter tätiger westlicher Mitwirkung aus dem Amt geputscht, und die neuen Machthaber schwenkten auch im Inneren des Landes sofort auf einen antirussischen Kurs ein. Dieses Vorspiel war der Auftakt zu den Ereignissen in der Ostukraine und für die Abspaltung der Krim. Bröckers und Schreyer erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass es sich bei dem Assoziierungsabkommen mit der EU „schlichtweg […] um ein ‚unanständiges‘ Angebot“ gehandelt habe, „weil es eine gleichzeitige Zoll- und Handelsunion mit Russland ausschloss und weil es militärische Zusammenarbeit und damit die Anwesenheit der Nato in der Ukraine einschloss. Außerdem konnte dieses Angebot, soweit es einen möglichen Beitritt zur EU betraf, nicht ernst gemeint sein“, weil „die Chance, ein Land mit fast 50 Millionen Einwohnern in die EU aufzunehmen, deren Pro-Kopf-Einkommen gerade mal ein Drittel der ärmsten EU-Länder beträgt, nur auf sehr lange Sicht nicht gleich null ist“.
Als Russland 2014 das Beitrittsersuchen der Krim annahm, ohne dass auf der Halbinsel auch nur ein Schuss gefallen wäre, nannte der US-Außenminister John Kerry dies „einen beispiellosen Akt der Aggression“ und warf sich moralisch in die Brust: „Sie können einfach nicht im 21. Jahrhundert die Methoden des 19. Jahrhunderts anwenden, indem sie auf verfälschten Grundlagen in ein anderes Land einmarschieren.“ Als die USA und ihre damaligen Hiwis, darunter Deutschland, 1999 völkerrechtswidrig, ohne UN-Mandat, Serbien bombardiert und den Kosovo von diesem Land abgetrennt hatten, waren solche Töne selbstredend nicht zu hören gewesen. Im Kosovo wurde mit Camp Bondsteel anschließend die größte US-Militärbasis auf dem Balkan errichtet, die nach wie vor betrieben wird. Genauso gern, auch daran erinnern Bröckers/Schreyer, wie der Westens nämlich den selbstverliehenen Adelstitel „Wertegemeinschaft“ wie eine Monstranz vor sich herträgt, genauso wenig hält ihn das „davon ab, seine Werte außer Kraft zu setzen, wenn es seinen ‚Kerninteressen‘ dient“.
Ein spezieller Schwerpunkt des Buches liegt auf der Rolle der Medien im Hinblick auf den Ukrainekonflikt und die Konfrontation des Westens mit Moskau. Diese Rolle, so Bröckers/Schreyer „ist seit Jahren Gegenstand heftiger Debatten“. Die Autoren konstatieren: „Viele Zeitungsleser und Fernsehzuschauer sind mehr als irritiert über eine Berichterstattung, die seltsam gleichförmig erscheint, egal ob nun auf dem Fernsehbildschirm bei ARD und ZDF oder in den Print- und Online-Ausgaben von Spiegel oder Süddeutscher Zeitung.“ Das war dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier bereits 2014 auch aufgefallen: „Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunli­che Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen.“ Die Autoren gehen diesem Phänomen nach und gelangen dabei unter anderem zu folgendem Befund: „Die Leitmedien sind in der Ukraine-Krise vom Beobachter zum aktiven Eskalateur geworden.“ Dem das Publikum allein deswegen kaum noch vertraut, weil er die für eine sachliche Berichterstattung notwendige Distanz zu den Ereignissen nicht nur vermissen lässt, sondern vorsätzlich ignoriert. Das geht einher „mit einem weitgehenden Verlust der professionellen Urteilsfähigkeit“. Darin dürfte eine der Wurzeln für das Pauschalverdikt „Lügenpresse“ liegen.
Ausgehend vom Titel ihres Buches fragen die Autoren gegen Ende: „Sind wir noch die Guten, wenn wir uns für Freiheit, Zivilgesellschaft, Menschenrechte, Homosexuelle oder Klimaschutz einsetzen, aber auf solche Mittel (Terror, Bürgerkrieg und Drogenhandel) und solche Verbündeten (Islamisten, Faschisten und Mafia) zurückgreifen?“
Die Frage so zu stellen, schließt ihre Beantwortung quasi mit ein. Insofern ist die von Bröckers/Schreyer trotzdem formulierte Erwiderung überflüssig. Oder für die ganz besonders Betriebsblinden, denen die Augen aber auch damit kaum mehr zu öffnen sein dürften: „Wir sind nicht die Guten, die die Stabilität der Weltordnung garantierten, wir sind die Schlechten, die die Weltunordnung vorantreiben. Wir sind die Hässlichen, weil wir dabei vor Gewalt und Krieg nicht zurückschrecken. Und wir sind Verräter, wenn wir auf unseren Fahnen die Werte des Humanismus schwenken, doch unsere Panzer, Drohnen und Raketen allein der Agenda der Macht und des Profits folgen.“

Mathias Bröckers / Paul Schreyer: Wir sind immer die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie der Kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag, Frankfurt/M. 2019, 224 Seiten, 18,00 Euro.