22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Knockout durch Blackout

von Sarcasticus

Sollte es, wie im vorhergehenden Beitrag des Autors thematisiert worden ist, an der NATO-Ostflanke zu einem konventionellen Konflikt kommen – ausgelöst etwa durch einen Überfall Moskaus auf das Baltikum, wie westlicherseits gern menetekelt wird –, dann würden die russischen Streitkräfte mit einiger Wahrscheinlichkeit Anfangserfolge erzielen, ja womöglich Lettland, Estland und Litauen besetzen. Sobald die NATO allerdings ihre um Längen überlegenen konventionellen Streitkräfte und ihr geballtes militärökonomisches Potenzial zum Einsatz brächte, wäre Moskau chancenlos.
Dessen Militärdoktrin behält sich jedoch für den Fall, dass eine konventionelle Niederlage die Existenz des Staates bedrohte, den Ersteinsatz von Kernwaffen vor. Dass dahinter ein strategisches Strickmuster steht, das wie von der NATO abgekupfert wirkt, wird von westlichen Russland-Kritikern heute geflissentlich ausgeblendet. Die Militärstrategie der NATO in den letzten Jahrzehnten des Kalten Krieges, die sogenannte Flexible Response, sah vor, die auf dem Gebiet der DDR dislozierten, hoch überlegen gewähnten Stoßarmeen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, der GSSD, im Angriffsfalle durch massiven Einsatz taktischer Kernwaffen zu stoppen.
Üblicherweise wird derzeit davon ausgegangen, dass ein russischer nuklearer Ersteinsatz mittels taktischer Systeme auf dem Gefechtsfeld und gegen Versorgungsknotenpunkte im gegnerischen Hinterland erfolgen würde, um den Vormarsch feindlicher Truppen zu stoppen. Experten gehen zugleich davon aus, dass eine Eskalation bis zur gegenseitigen nuklearen Vernichtung kaum zu verhindern wäre.
Das weiß auch die Führung im Kreml. Vielleicht zöge Moskau daher vor der allgemeinen Apokalypse und als quasi letzte Warnung an die überlegene NATO eine andere Ersteinsatzoption vor: atomare Höhenexplosionen über gegnerischem Staatsgebiet.
Solche Explosionen hätten keine unmittelbaren Vernichtungswirkungen à la Hiroshima und Nagasaki gegen Menschen und Gebäude am Boden zur Folge, würden aber die Zivilgesellschaften in ihrer Funktionsfähigkeit gravierend beeinträchtigen. Denn sie würden, wie es in der Filmdokumentation Electronic Armageddon (deutscher Titel: „Die EMP-Bombe. Impuls zum Blackout“) von National Geographic aus dem Jahre 2010 hieß, „in Sekundenbruchteilen alles“ zerstören, „was am Netz hängt. […] Ohne Elektronik käme unsere gesamte Infrastruktur zum Stillstand. Das Leben, wie wir es kennen, gäbe es nicht mehr.“ Die betroffene Gesellschaft würde „auf die Zeit vor der Elektrifizierung zurückgeworfen“.
Höhenexplosionen nuklearer Sprengköpfe können nämlich, wie man spätestens seit dem USA-Atomtest Starfish Prime vom 9. Juli 1962 weiß, elektromagnetische Impulse (EMP) von extrem hoher Energie auslösen, die ungeschützte elektrische Geräte sowie elektronische Bauteile, Schaltkreise und ganze Anlagen in einem großen geografischen Umkreis nachhaltig stören und zerstören. 1962 war vom Johnston-Atoll im mittleren Pazifik aus ein Sprengkopf mit einer Stärke von knapp 1,5 Megatonnen TNT-Äquivalent in einer Höhe von 400 Kilometern gezündet worden. Noch im etwa 1400 Kilometer entfernten Hawaii fiel ein Teil der Straßenbeleuchtung aus. (Zum Vergleich: Eine entsprechende Explosion über Niederorla, dem geografischen Mittelpunkt Deutschlands, würde auf ein Gebiet einwirken, das außer Deutschland große Teile Nordeuropas, Großbritannien und Frankreich, Italien inklusive Sizilien, große Teile Südosteuropas sowie Polen und das Baltikum umfasste.)
Die entsprechenden Sachverhalte sind auch der Bundesregierung bekannt. Schon 2011 wurde im Vierten Gefahrenbericht des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zusammengefasst: „Der EMP kann elektronisch gestützte Maschinen und Systeme stören oder zerstören, vom Flugzeug über Kraftfahrzeuge bis hin zum Herzschrittmacher. Er kann zentrale Systeme wie z. B. Kommunikation, Rundfunk, Krankenversorgung, Energieversorgung und das Transportwesen gefährden. Hochleistungsmikrowellen können moderne Elektronik massiv stören und vorübergehend funktionsunfähig machen in einer Weise, dass man später nicht einmal die Ursache eindeutig identifizieren kann.“
Allerdings war in dieser Aufzählung der neuralgischste Punkt überhaupt mehr verhüllt denn deutlich gemacht worden: die Gefahr eines dauerhaften, mehr oder weniger flächendeckenden Blackouts – also eines Ausfalls der Stromversorgung – durch mittel- und längerfristig irreparable Zerstörungen an Produktions-, Steuerungs- und Übertragungsanlagen von Elektroenergie. Praktisch keine dieser Anlagen ist heute gegen EMP-Einwirkungen „gehärtet“.
Was der Zivilgesellschaft bei einem derartigen Blackout drohte, ist im Auftrag des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung umfassend untersucht worden. Die entsprechende, 130 Seiten umfassende Studie des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) ist im April 2011 veröffentlicht worden und der Öffentlichkeit seither als Bundestagsdrucksache 17/5672 zugänglich.
Ausgangspunkt der Untersuchungen war die große „Abhängigkeit nahezu aller Kritischen Infrastrukturen von der Stromversorgung“, wobei folgende Infrastrukturbereiche besonders in den Fokus genommen wurden: Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Wasserver- und Abwasserentsorgung, Lebensmittel, Gesundheitswesen sowie Finanzdienstleistungen.
Die Studie gelangte zu dem Fazit, dass sich die Folgen eines langandauernden und großflächigen Stromausfalls zu einer „Verbundkatastrophe“ mit „kaskadierende[n] Schadenswirkungen summieren würden. „Betroffen wären alle Kritischen Infrastrukturen, und ein Kollaps der gesamten Gesellschaft wäre kaum zu verhindern.“
Für die einzelnen Infrastrukturbereiche wurden unter anderem folgende Aussagen und Prognosen getroffen:
Informationstechnik und Telekommunikation – „Telekommunikations- und Datendienste fallen teils sofort, spätestens aber nach wenigen Tagen aus. […] Bei der Festnetztelefonie fallen sofort das (digitale) Endgerät und der Teilnehmeranschluss aus, danach die Ortsvermittlungsstellen. Bei den Mobilfunknetzen sind es weniger die Endgeräte, die im aufgeladenen Zustand und bei mäßigem Gebrauch einige Tage funktionstüchtig sein können, sondern die Basisstationen, die die Einwahl in die Netze ermöglichen. Diese sind zumeist, bedingt durch das erhöhte Gesprächsaufkommen, binnen weniger Minuten überlastet oder fallen wegen nur kurzfristig funktionierender Notstromversorgung ganz aus. […] Massenmedien sind für die Krisenkommunikation mit der Bevölkerung von besonderer Bedeutung. […] Jedoch können die Bürger ohne Strom mit ihren Fernsehgeräten keine Sendungen empfangen. […] Damit entfällt innerhalb sehr kurzer Zeit für die Bevölkerung die Möglichkeit zur aktiven und dialogischen Kommunikation mittels Telefonie und Internet.“
Transport und Verkehr – In diesem Sektor „fallen die elektrisch betriebenen Elemente der Verkehrsträger Straße, Schiene, Luft und Wasser sofort oder nach wenigen Stunden aus. […] Aus einer Vielzahl von Unfällen, liegengebliebenen Zügen und U-Bahnen, umzulenkenden Flügen sowie Lkw- und Güterstaus in Häfen ergeben sich erhebliche Einschränkungen der Mobilität und des Gütertransports. Insbesondere in Metropolen und Ballungsräumen führen Staus und Unfälle im Straßenverkehr zu chaotischen Zuständen. Brandbekämpfung, Notrettung und Krankentransporte, Einsätze zur Sicherstellung der Notstromversorgung sowie eine Vielzahl weiterer Maßnahmen zur allgemeinen Schadensbewältigung werden erheblich behindert. Da alle Tankstellen ausgefallen sind, wird der Treibstoff für die Einsatzfahrzeuge knapp. Darüber hinaus drohen erhebliche Engpässe bei der Versorgung der Bevölkerung, beispielsweise mit Lebensmitteln oder medizinischen Bedarfsgütern.“
Wasserver- und Abwasserentsorgung – „Wasser ist als nichtsubstituierbares Lebensmittel […] eine unverzichtbare Ressource zur Deckung menschlicher Grundbedürfnisse. […] Die Wasserinfrastruktursysteme können ohne Strom bereits nach kürzester Zeit nicht mehr betrieben werden. Die Folgen ihres Ausfalls, insbesondere für die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, wären katastrophal. […] Die gewohnte Körperpflege ist nicht durchführbar; für die Mehrzahl der Haushalte gibt es kein warmes Wasser. Das Zubereiten von Speisen und Getränken ist nur reduziert möglich, und […] die hygienischen Zustände werden prekär. Toiletten sind verstopft. Es wächst die Gefahr der Ausbreitung von Krankheiten.“
Lebensmittel – „Der Lebensmittelsektor zeichnet sich durch eine hohe Verletzlichkeit aus. Innerhalb einer Woche entstehen erhebliche Schäden in der Pflanzen- und Tierproduktion. Es ist insbesondere zu erwarten, dass schon während der ersten beiden Tage die Versorgungskette von den Lagern des Lebensmittelhandels zu den Filialen und damit zum Verbraucher stark gestört wird und bald danach zusammenbricht. Da alle Datenleitungen ausgefallen sind, gibt es keinen Informationsfluss mehr, um auf die jeweiligen lokalen Erfordernisse zu reagieren und Lieferungen dahin, wo sie benötigt werden, zu veranlassen.“
Gesundheitswesen – „Nahezu alle Einrichtungen der medizinischen und pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung sind von Elektrizität unmittelbar abhängig. […] Innerhalb einer Woche verschärft sich die Situation derart, dass […] vom weitgehenden Zusammenbrechen der medizinischen und pharmazeutischen Versorgung auszugehen ist. Arzneimittel werden im Verlauf der ersten Woche zunehmend knapper, da die Produktion und der Vertrieb pharmazeutischer Produkte […] nicht mehr möglich sind […]. Dramatisch wirken sich Engpässe bei Insulin, Blutkonserven und Dialysierflüssigkeiten aus. […] Spätestens am Ende der ersten Woche wäre eine Katastrophe zu erwarten, d. h. die gesundheitliche Schädigung bzw. der Tod sehr vieler Menschen […].“
Finanzdienstleistungen – „Als Achillesferse des Sektors erweisen sich die fehlenden elektronischen Bezahlmöglichkeiten sowie die versiegende Bargeldversorgung der Bevölkerung. Aus diesem Grund verstärkt sich die Unsicherheit in der Bevölkerung: Die Menschen haben Angst, sich nicht mehr mit Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs versorgen zu können.“
All dies bliebe nicht ohne Auswirkungen auf das Verhalten und den Zusammenhalt der Menschen: „Manche Individuen und Gruppen fallen hinter die etablierten Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zurück. Sie werden rücksichtsloser, aggressiver und gewaltbereiter.“ Dies werde noch „dadurch verstärkt, dass der Stromausfall die Betroffenen unvorbereitet und unter der Bedingung der zeitlichen Unbestimmtheit trifft.“ Und: „[…] der grundgesetzlich verankerten Schutzpflicht für Leib und Leben seiner Bürger kann der Staat nicht mehr gerecht werden.“ In der Konsequenz „beginnt die öffentliche Ordnung zusammenzubrechen“.
Darüber hinaus wies die TAB-Studie noch auf folgenden Sachverhalt hin: „Eine ‚nationale Katastrophe‘ wäre ein langandauernder Stromausfall […] auch deshalb, weil weder die Bevölkerung noch die Unternehmen, noch der Staat hierauf vorbereitet sind […].“ Und an diesem Befund hat sich in der Zwischenzeit nichts Grundlegendes geändert.
Sollte Russland im Angesicht einer drohenden Niederlage in einem Konflikt mit der NATO zum Mittel eines EMP-Schlages über Zentraleuropa greifen, dann könnten im Übrigen nichts und niemand die Kremlführung daran hindern oder die potenziell Betroffenen dagegen schützen. Auch mit zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller NATO-Mitgliedsländer für Militärausgaben würde an dieser Gegebenheit nicht das Geringste zu ändern sein.
„Wirkliche Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist daher“, so hat es Wolfgang Schwarz in diesem Magazin formuliert, „gegen diese und in einem militärischen Konflikt mit dieser schon gar eine Schimäre. Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist vielmehr nur als gemeinsame, kooperative Sicherheit zu haben. Daher sollte man mit Russland keinesfalls verfeindet, besser befreundet, noch besser verbündet sein, um jede Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung schon vom Grundsatz her auszuschließen.“ (Hervorhebungen – S.)
Diese Feststellung kann – durchaus im Sinne eines positiven ceterum censeo – nicht oft genug wiederholt werden.