von Ulrich Busch
Yana Milev, Künstlerin, Kulturphilosophin, Soziologin, Ethnografin und Publizistin aus Leipzig, forscht und lehrt an der Universität St. Gallen auf dem Gebiet der Kultursoziologie. Seit 2017 leitet sie ein vielversprechendes Forschungsprojekt mit dem Titel: „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium“. Im Rahmen dieses ehrgeizigen Unternehmens werden die Verwerfungen in Gesellschaft, Recht, Wirtschaft und Kultur in der Ex-DDR beleuchtet. Die Publikation ist auf mindestens sechs Bände, die 2019 und 2020 erscheinen werden, angelegt. Das vorliegende Buch ist als „Seitenstück“ dazu zu verstehen. Es enthält einen flott geschriebenen Essay über den Verfall der Demokratie, den Übergang zur Postdemokratie, die Erfolge des Neoliberalismus und den sich überall in der Welt ausbreitenden Populismus.
Dabei knüpft Milev sowohl an die politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion über die Erosion der Demokratie in den Medien als auch an aktuelle Beispiele wie die fremdenfeindlichen Vorfälle in Zwickau, Chemnitz und Köthen an. Ihre provozierende These lautet, dass das, was gegenwärtig in Sachsen und anderswo eskaliert, „kein Nazi-Problem“ ist, sondern Ausdruck eines „Ost-West-Konflikts“, „der seit 1990 mit der neoliberalen Annexion des Ostens durch den Westen installiert“ worden sei. Durch die Art und Weise, wie die deutsche Vereinigung praktiziert wurde, sei ein Großteil der ostdeutschen Bevölkerung der Herabsetzung und systematischen Desintegration preisgegeben worden. Diese Tatsache wäre lange verdrängt worden, gelange jetzt aber an die Oberfläche. „Was hier eskaliert“, so das Resümee der Autorin, ist „ein Protest-Stau der Ostdeutschen gegen einen westdeutschen Kulturkolonialismus in Ostdeutschland“.
Damit ordnet sich das Buch in die seit Monaten zu beobachtende und so nicht erwartete Konjunktur ostdeutscher Wortmeldungen, Entgegnungen und Proteste ein. Diese richten sich vehement gegen eine jahrzehntelange Fremdbestimmung, Demütigung und Fehlinterpretation durch westdeutsche Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und Literaten. Bisher waren es nur einige „Alte“ und unverbesserliche „Linke“, die sich in dieser Weise äußerten. Jetzt aber ergreifen auch Jüngere das Wort, so Petra Köpping, Jana Hensel, Sabine Rennefanz, Oliver Hollerstein und nun auch Yana Milev und bringen in deutlichen Worten zum Ausdruck, wie sie die vergangenen 29 Jahre sehen und was sie von der Politik künftig erwarten. Dabei sind sie mit dem Problem einer „defekten liberalen Demokratie“ konfrontiert sowie einem Populismus ausgesetzt, wie bisher kaum eine Generation vor ihnen.
Während die offizielle Politik dem rasch um sich greifenden Populismus hilflos gegenübersteht und sich in verbaler Abwehr und Politiker-Schelte übt, versucht die Autorin dem Phänomen auf den Grund zu gehen, indem sie die Ursachen und Hintergründe für den Siegeszug des Populismus analysiert. Anhand der Vorfälle in Chemnitz zeigt sie auf, worin die „Mobilisierungslogik“ des Populismus besteht und warum diese im Osten vergleichsweise erfolgreich ist. Dabei argumentiert sie sachgerecht und überzeugend. Sie scheut sich allerdings auch nicht vor Polemik oder gelegentlichen Übertreibungen. Hervorhebens wert ist, dass sie die behandelte Thematik immer wieder mit einer Situationsanalyse Ostdeutschlands in Verbindung bringt. Dabei gelingen ihr bemerkenswerte Einsichten. So weist sie zum Beispiel darauf hin, dass die viel beklagte Stagnation der Entwicklung im Osten und der blockierte Umbruch auch etwas mit dem als „Elitenaustausch“ apostrophierten Beamtenimport aus Westdeutschland zu tun haben. Die 1990 ins Land geholten Beamten sitzen zu Zehntausenden auf gut bezahlten Stellen im Osten und tun alles dafür, um ihre Ziehkinder aus dem Westen als Nachfolger zu gewinnen. Die Folge ist, dass Ostdeutsche auch dreißig Jahre nach der Vereinigung kaum eine Chance haben, in Spitzenpositionen vorzudringen, ein Spitzengehalt zu beziehen und Entscheidungsmacht auszuüben. Sie bleiben in der dritten Reihe hängen, verdienen weniger und fühlen sich desavouiert und desintegriert. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kultur: „Da in den neuen Bundesländern die gesamte Kulturlandschaft in den Händen westdeutscher Eliten ist, handelt es sich [… hier] um eine Besetzung des Ostens unter Ausschluss der Ostdeutschen. Ob Medien, Theater, Museen, Galerien, Fördervereine, Stiftungen oder Verlage, alle diese Institutionen bedienen die neoliberale Marktordnung der Demokratie.“ Widerstand dagegen wird im „Regiefeld des normativen Populismus“ folglich als Bekämpfung von rechts moderiert. Das ist aber zu einfach. Dahinter steckt viel mehr, insbesondere in Ostdeutschland. Hier ist der Aufstand gegen das Establishment immer auch Ausdruck eines „Bruchs mit dem Demokratismus“.
In Anbetracht der ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung Ostdeutschlands seit 1990 und den schweren Enttäuschungen und Traumata, die hier zu verzeichnen sind, ist die „fundamentale Demokratieabkehr“ bestimmter Bevölkerungsgruppen im Osten nicht nur festzustellen, sondern auch nachzuvollziehen. Nicht ganz klar ist aber, warum die Autorin neben der Währungsunion von 1990, dem Exodus einer ganzen Generation, der Treuhand-Privatisierung, den Hartz-Reformen und anderen „Schrecknissen“ auch die Euro-Einführung im Jahr 1999 als „zweite Enteignung“ zu den traumatischen Erfahrungen der Ostdeutschen zählt. Zweifellos zutreffend ist es dagegen, die „Deutsche Frage“ immer noch als „offen“ und die deutsche Einheit auch dreißig Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik als ein unvollendetes Projekt anzusehen. Yana Milev plädiert deshalb konsequent für die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146 GG mit dem Ziel einer Staatsneugründung.
Derartige Vorschläge hat es auch 1990 gegeben (siehe Neues Deutschland vom 20./21.01.1990). Sie wurden von den damaligen Akteuren aber mitnichten befolgt. Es steht zu befürchten, dass es auch diesmal nicht viel anders sein wird.
Yana Milev: Demokratiedefekte. Ein Essay zum normativen Populismus, agenda Verlag, Münster 2019, 114 Seiten, 17,90 Euro.
Schlagwörter: Demokratie, deutsche Einheit, Ostdeutschland, Populismus, Postdemokratie, Ulrich Busch, Yana Milev