22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal depressive Streuner durch Berlin, Hygieneinspektoren in Niederösterreich und Schillers Teenies gestopft in die Gegenwartskiste …

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Großes Erzähltheater in der kleinen Kiste; sensibles Spiel vor grell gefärbtem Hintergrund – erregende Kontraste. Die Rede ist von Erich Kästners grandiosem Berlin-Roman „Fabian“ in der schreiend rot ausgeschlagenen Kastenbühne der DT-Box.
Alexander Riemenschneider und Meike Schmitz haben Kästners starken Text derart komprimiert, dass dessen anno 1931 unter studierten Germanisten sich zutragende „Geschichte eines Moralisten“ geradezu überwältigend heutig wirkt als – wie seinerzeit vom Autor gewollt – „Warnung vor dem Abgrund“.
Kästner meinte damit Arbeitslosigkeit sonderlich im akademischen Milieu, die verzweifelte Suche nach festem Daseinsgrund oder allgemeiner Vernunft; meinte Zukunftsangst, Geldnot, seelische Depressionen sowie die Sucht nach Betäubung der prekären Lage durch Suff und Sex – all das vor dem Hintergrund der „Aktivität bedenkenloser Parteien“.
Unter „Moralist“ verstand der Autor (wir gedachten Ende Februar seines 120. Geburtstags) einen Melancholiker wie Fabian. Einen hellwachen Analytiker „unhaltbarer Zustände“, der zunehmend verbittert und verkatert mit seinem optimistisch sozialrevolutionären Freund Labuda durchs abgründig verführerische, eiskalt goldene Berlin tobt, um sein Glück zu machen.
Thorsten Hierse spielt diesen „Chirurgen, der die eigene Seele aufschneidet“, in höchster Zurückhaltung erschütternd eindringlich. An seiner Seite der ihn doch immer wieder aufmunternd stützende Bozidar Kocevski als Labuda, der sensibel Lebenstüchtigere dieses ungleichen Gespanns. Und zwischen beiden Birgit Unterweger in mehreren Rollen als zart Liebende, kühl Berechnende, die sich am schlimmen Ende opportunistisch für Geld und Karriere verkauft.
Was für ein wunderbares Dreigestirn schauspielerischer Feinnervigkeit, das besondere Spannung erzeugt durch sein genau eingefühltes Szenenspiel, das wiederum wechselt mit Momenten nüchternen Kommentars der jeweiligen Situation –trefflichst unterstützt durch den Musiker Tobias Vethage.
Innen- und Außensicht, Persönliches und Politisches, Erzählung und Analyse dramatisch verschränkt von Regisseur Alexander Riemenschneider. Ein seltenes Kunststück, schwer zu machen, doch leichthändig inszeniert bis zu kabarettistischen Anflügen, ohne Tragisches beiseite zu schieben. Was für ein Könner jenseits diverser, krampfhaft auf verfremdende Abstraktion erpichte Regie-Moden und dennoch total überzeugend. Aber von der Kritik wenig beachtet…
Freilich ist nicht zu unterschätzen, dass diesem Regiemeister die brillante Bühnenbildnerin Johanna Pfau zur Seite steht mit ihrem plakativ herrschenden Rot als effektvoll dramaturgischem Kontrast zur düsteren Gedankentiefe Kästners samt seiner subtil sprachlichen Poesie. Zum szenischen Minimalismus in der Kiste passt Pfaus pfiffige Idee, signifikante Handlungsrequisiten als grell comic-hafte Pappbildchen abnehmbar an die Wand zu kleben, damit sie unsere drei Akteure im passenden Moment quasi als beiläufig die Situation illustrierenden Spielball benutzen. Auch hier das lässig-schlüssige, frappierend dynamische Ineinandergreifen von Gegensätzlichem: das Spielerische und Demonstrative, das Witzige, Sarkastische, Komisch-Groteske, Ernste, Todernste. Schließlich verlässt Fabian, in jeder Hinsicht enttäuscht, die schrecklich abenteuerliche Reichshauptstadt und stürzt sich in seiner alten Heimat Dresden von einer Elbbrücke zu Tode.

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Was für eine Nacht! Am Himmel funkeln die Sterne ins Dunkel von Saal und Bühne. An der Rampe eine luftige Veranda, wo das Personal von „Kabale und Liebe“ entspannt tanzt zu Musik, die aus dem Weltall säuselt. Alles Leute von heute selig in der Schiller-Utopie der Götterfunkenfreude.
Bald aber ist Schluss: Musik aus, Licht an, Sterne weg. Eine Wand klappt krachend herunter, macht die Veranda hinterrücks dicht, verwandelt sie in eine Box mit Nischen, wohin die Traumtänzer sich drängen. Verängstigt, brutal breitbeinig, lüstern durchtrieben. Die Gesellschaft sortiert sich. Das Trauerspiel kann anheben in diesem Guckkasten, ganz in Weiß. Wie ein Labor zur Demonstration des Zusammenpralls von Oben und Unten, Moral und Gesetzlosigkeit, Gut und Böse.
Über solche Gegensätze kommt die Liebe idealischer Teenager nicht hinweg. Die Bürgerstochter Luise und der adlige Ferdinand scheitern. An den Grenzen ihres Standes, an den Grenzen ihrer Liebe, die durch Kabale von oben, durch terroristisches Intrigentum derart verengt werden, bis es zum Todestrunk kommt durch vergiftete Limonade.
Was da unserem just 23 Jahre alten, stürmenden und drängenden Nationaldichter 1782 mit pathetischer Sprachwucht aus der Feder schoss, dieses ketzerische Rütteln an absolutistischen Machtansprüchen gegenüber einem drangsalierten Bürgertum, mag heutzutage historisch sein, obgleich wir ähnliche Konfliktlagen kennen. Für immer spannend an diesem Klassiker bleibt der Clinch komplexer Charaktere. Dazu die Gefangenschaft der romantisch Liebenden im Diktat des Patriarchats. Über ihre wie auch immer geartete Liebe zu den Vätern kommen sie nicht hinweg. Jugendrevolte findet nicht statt. Kein „Vatermord“. Stattdessen in Verzweiflung die letale Limonade.
Und genau das, dieses Scheitern in Wehrlosigkeit, stellt Regisseur Tobias Johannes Erasmus Rott am Potsdamer Hans Otto Theater aus wie in einer Versuchsanordnung im klinischen Laborraum (Ausstattung: Susanne Füller). Schon das schluffige Outfit der Liebenden (Hannes Schumacher im Parka, Lara Feith im Schlabberpulli) signalisiert wenig Widerständigkeit. Und das bisschen Rumgeknutsche zeugt kaum von lodernden Gefühlen.
Interessanter die Papas, die auf ihre Macht pochen. Folglich kommen beide in grauen Anzügen daher, wobei Musikus Miller (Andreas Spaniol) zu erregteren Wutanfällen fähig ist als sein Gegner, der hübsch aufstampft, dann aber erstaunlich dämlich dreinschaut als Präsident (Jörg Dathe). Die seelisch gemarterte Mätresse Milford (Nadine Nollau) stellt eher die Hysterikerin aus als die Leidende. Auffällig unauffällig der Intrigen-Dreher Wurm (Jonas Gätziger), ein schleimiger Biedermann im Staubmäntelchen.
Und so beobachten wir das Abschnurren von Schändlichkeiten im Intrigenstadel. So aber geht kein Schiller-Thriller; so geht eine übersichtliche Versuchsanordnung strikt nach Schiller. Und wenn es zwischen Opfern und Tätern gelegentlich aufregend wird, zerhauen es alberne Grotesken – Zerren an Gliedern, Hände am Gemächt, Köpfe im Schwitzkasten.
Also Schiller pur. Gut gemeint, aber es packt nicht. Schon weil dessen Sprachartistik eben nicht von jetzt ist. Sie verlangt theatralisch Distanz. Anbiederei ans Heute, dieses Halb-und-Halb (historisch Reden im Outfit von heute), das schwächt Intensität wie Gegenwärtigkeit. Dem feinen poetisch-utopischen Anfang folgt keine Tragödie, sondern bloß Ränkespiel.

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Es war Anfang Februar 1949, da gründete Horst Behrend im kalten Trümmer-Berlin ein Kammerspieltheater; gemeinsam mit einer Gruppe künstlerisch heimatloser Schauspieler, die sich gleich nach Kriegsende zusammenfand und erst später, eben jetzt vor 70 Jahren, sich den programmatischen Namen „Die Vaganten“ gab; denn eine feste Spielstätte stand nicht zur Verfügung. Erst Mitte der Fünfziger fand man Domizil im Souterrain vom Delphi-Filmpalast.
Die Vaganten – schwere Belastungsproben wurden gemeistert – sind seit jeher eine feste Größe im Privattheaterbetrieb der Hauptstadt (gegenwärtige Leitung: Jens-Peter Behrend, der Sohn von Horst). Sie haben sehr unterschiedliche Theaterepochen und Stilrichtungen durchlebt, mitgestaltet, überlebt: Von den Anfängen der Theater-Avantgarde West-Berlins über die Glanzzeiten der Moderne in den 60er Jahren mit Autoren wie Sartre, Genet, Anouilh, Ionesco, Mrozek, Tardieu oder Osborne bis zu den strikt zeitbezogenen, politisch sonderlich virulenten Themen und Stoffen von heute, wofür Autoren wie Ayad Akhtar, Daniel Kehlmann oder Yasmina Reza stehen. Daneben wird teils mit ziemlichem Aufwand die spektakuläre Adaption von Klassikern betrieben – beispielsweise Vicky Baums „Menschen im Hotel“ oder Heinrich Manns „Der Untertan“.
Im April wird es eine eigens fürs Jubiläum konzipierte Revue geben, die mit reichlich Musik die Geschichte der Vaganten spiegelt an ihrem kulturhistorisch ziemlich bedeutsamen Standort an der Kantstraße. Es könnte ein „Vaganten-Berlinical“ werden.
Doch zuvor ein Premierenbesuch anderer Art: klassisches Konversationsstück eines klassischen Gegensatzpaars. Die großen österreichischen Kabarettisten Josef Hader und Alfred Dörfer haben es erfunden für ihre Tragikomödie „Indien“; seit Jahren ein Hit im deutschsprachigen Theater.
Natürlich geht es überhaupt nicht um Indien oder Exotik, sondern um die niederösterreichische Provinz, ums einfach komplizierte Leben überhaupt. Dort, zwischen Dürnstein und Melk, ist der ältere, sarkastisch abgeklärte Heinz Böse unterwegs mit seinem jüngeren, romantisch über Gott und die Welt schwadronierenden Kollegen Kurt Fellner. Als Hygiene-Inspektoren inspizieren sie Kneipen und Landgasthöfe auf Einhaltung diverser Vorschriften, wobei man sich einander nahe kommt, was zum Zusammenprall ziemlich unterschiedlicher Lebenswelten führt. Zunächst geht man sich mächtig auf den Keks. Doch allmählich wächst aus der erzwungenen Nähe eine gewisse Hassliebe und schließlich, am todtraurigen Ende, eine schüchtern innige Freundschaft.
Die durch brillante Dialoge und scharfe Pointen bestechende Komödie ist einerseits ein derbes Stück saftigen Lebens, anderseits ein sanft anrührendes Stück über den ins Dasein schlagenden Tod. Das alles steht und fällt mit einer starken Besetzung; Regisseur Lars Georg Vogel fand sie mit Jürgen Haug (Bösel) und Urs Stämpfli (Fellner), sorgte für prägnant austarierte Stimmungslagen zwischen saukomisch und herzergreifend traurig und bescherte so dem hingerissenen Publikum neunzig Minuten großartiges Theater.