22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Neues Containment?

von Erhard Crome

Michael Mandelbaum, Jahrgang 1946, hat einst in den USA an der Harvard- und der Yale-Universität Politikwissenschaft studiert und erhielt dann Gelegenheit, mit einem „Marshall-Stipendium“ am King’s College im englischen Cambridge zu studieren. Dieses Stipendium ist nach George C. Marshall benannt, Stabschef der US-Armee im Zweiten Weltkrieg und zu Beginn des Kalten Krieges jener Außenminister der USA, der den gleichnamigen Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des westlichen Europas in Gang setzte. Das Graduierten-Stipendium wurde 1953 auf Beschluss des britischen Parlaments eingerichtet, als Winston Churchill zum zweiten Mal Premierminister war, um einerseits Marshall als den Schöpfer des Sieges über die Deutschen zu würdigen und andererseits „intellektuell bemerkenswerten jungen Amerikanern, den späteren Führern ihres Landes,“ ein Studium in Großbritannien zu ermöglichen. Wenn man so will eine angelsächsische Variante des: „Sie ehrten XY, indem sie sich nutzten“.
Bei Wikipedia gibt es sowohl eine Liste „bemerkenswerter“ ehemaliger Marshall-Stipendiaten als auch eine bedeutender Alumnis des King’s College. Auf beiden sucht man Mandelbaum vergeblich. Gleichwohl gilt er laut Wikipedia in den USA als ein wichtiger Fachvertreter auf dem Felde Internationaler Beziehungen. Er ist Professor und Direktor des Programms „Amerikanische Außenpolitik“ an der Johns Hopkins Universität sowie außenpolitischer Kommentator und er hat zehn „wichtige“ Bücher verfasst. Von denen aber wohl keines ins Deutsche übersetzt ist. Es gibt demzufolge USA-Autoren, die in Deutschland absichtsvoll verbreitet werden, und andere werden es (ebenfalls absichtsvoll?) nicht.
Jetzt ist in Nummer 2 (März/April) 2019 der Zeitschrift Foreign Affairs ein Text Mandelbaums erschienen, mit dem er für einen Kurswechsel der US-amerikanischen Außenpolitik plädiert. Zunächst haben wir es mit einem Neuaufguss des Denkens des Kalten Krieges zu tun. Nicht nur im Titel. Der lautet: „Das neue Containment. Zum Umgang mit Russland, China und dem Iran“. Containment, Eindämmung, war der zentrale Terminus der ursprünglichen Nachkriegsstrategie der USA nach 1945. Das Kernwaffenmonopol und eine militärische Überlegenheit der USA sollten die weitere Ausbreitung des Sozialismus in der Welt aufhalten. Mit dem Entstehen sozialistischer Staaten in Europa und Asien, vor allem dem Sieg der chinesischen Volksrevolution unter Mao Zedong 1949, war dieses Konzept gescheitert. Das militärische Patt als Ergebnis des Korea-Krieges bestätigte dies. 1959 folgte der Sieg Fidel Castros in Kuba. In den Strategiezentren der USA wurde an Folgekonzepten gearbeitet, des „Zurückrollens“ (Roll Back) des Kommunismus, schließlich der „Politik der Stärke“ einerseits und des Eingehens auf friedliche Koexistenz andererseits nach der Niederlage der USA in Vietnam 1975.
Mandelbaum resümiert die gesamte Nachkriegsgeschichte unter der Rubrik „Containment“ und erklärt ganz im Sinne der alten antikommunistischen Klischees die Sowjetunion im Nachhinein zu einer Macht, die nicht nur geopolitische Interessen verfolgt habe, sondern auch ihre „kommunistischen Prinzipien“ und eine „Kreuzzugsideologie“. Tatsächlich war die Sowjetunion – wie der Historiker John Lukács schon vor Jahren betonte – bereits unter Stalin eine Macht, die geopolitische und nicht weltrevolutionäre Ziele verfolgte. Zugleich sei es der US-amerikanischen Außenpolitik jedoch gelungen, so Mandelbaum, das Bündnis mit der Sowjetunion zu suchen, um Nazi-Deutschland zu besiegen, und das mit China, um die Sowjetunion zu schlagen. Das jedoch ist eine sehr schlichte Weltsicht. Der Überfall Nazi-Deutschlands hatte der Sowjetunion einen Überlebenskampf aufgezwungen, zu dem die USA hinzutraten. Der Streit zwischen China und der Sowjetunion seit den 60er Jahren war tatsächlich geopolitischer Natur, der nur in ideologischen Gewändern ausgetragen wurde. Hier war es tatsächlich die außenpolitische Cleverness des US-Außenministers Henry Kissinger in den 70er Jahren, Kooperation mit China zu suchen, um die Sowjetunion zu schwächen. Washingtons Außenpolitik profitierte hier jedoch ebenfalls von einer Konstellation, die sie nicht geschaffen hatte.
Auch die gegenwärtige internationale Lage beschreibt Mandelbaum sehr holzschnittartig: Die ersten Jahre seit dem Kalten Krieg seien „die friedlichsten in der modernen Geschichte“ gewesen, dann seien jedoch drei „revisionistische Mächte“ aufgetaucht, die die USA und die von ihnen gestützte globale Ordnung herausfordern: Russland, China und Iran versuchten, jede Macht auf ihre Weise, „die Sicherheitsarrangements in ihren respektiven Regionen“ zu revidieren. Russland halte die Krim und andere Teile der Ukraine besetzt und sei bestrebt, die „europäischen Demokratien“ zu destabilisieren. China baue künstliche Inseln in internationalen Gewässern und wolle den Westpazifik kontrollieren. Iran habe seinen Einfluss in Irak, Libanon, Syrien und Jemen erweitert und strebe nach Atomwaffen.
Nach dieser Ansammlung von Halbwahrheiten schlägt Mandelbaum vor, die USA sollten eine „neue Containment-Politik“ im 21. Jahrhundert betreiben. Keine der drei Mächte sei mit der damaligen Sowjetunion vergleichbar, dennoch sollten sie eingedämmt werden, auf jeweils spezifische Weise in ihrem regionalen Umfeld. Insofern sei das Containment der Sowjetunion ein globales Unterfangen gewesen, das jeweils regional implementiert werden musste, während es heute um drei Containment-Politiken gehe, die allerdings miteinander zusammenhängen.
In Europa seien im NATO-Kontext US-amerikanische Bodentruppen erforderlich, um der „russischen Aggression“ entgegenzutreten. Die baltischen Staaten müssten verteidigt werden wie einst Westberlin: Im schlimmsten Falle müssten auch Atomwaffen ins Spiel gebracht werden, weil eine militärische Niederlage nicht hinnehmbar sei. Wichtigste Aufgabe der Diplomatie sei es nun, breite Koalitionen regionaler Mächte zu schaffen, um der „revisionistischen Herausforderung“ zu begegnen. Die drei Mächte seien jedoch Diktaturen, die nicht nur amerikanische Interessen, sondern auch amerikanische Werte herausfordern. Deshalb müsse – wie im Kalten Krieg – nicht nur auf politische und militärische Eindämmung gesetzt werden, sondern ebenso auf einen „konstruktiven Regime-Change“, einen „Advent der Demokratie“.
Haupthindernis für die Umsetzung einer solchen Strategie sei der Zustand der USA. Von Donald Trump und seiner Außenpolitik ist nicht direkt die Rede. Wohl aber von dem tiefen Skeptizismus in den USA angesichts der gescheiterten Abenteuer im Ausland, den jämmerlichen Ergebnissen der Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen. Die von ihm – Mandelbaum – beschriebene Perspektive eines „neuen Containments“ sei jedoch etwas völlig anderes. Bei den „gescheiterten Kreuzzügen der jüngeren Vergangenheit“ ging es um Bestrebungen, die inneren politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse schwacher Staaten zu transformieren. Hier jedoch gehe es um die Schaffung von Bündnissen mit starken Staaten.
Dem Wesen nach ist Mandelbaums Text nichts als das erneuerte Credo der interventionistischen Globalisten, die vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu Barack Obama das Land regiert und politisch-diplomatisch geführt haben, im Grunde die konzeptionelle Untersetzung von Joe Bidens Bekundung auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Wir kommen wieder.“ Heißt: Wir wollen wieder Globalpolitik, Regionalkriege, Drohen mit Kernwaffen und Regime Change, wo immer es uns passt. Am Ende fragt man sich nur besorgt, was für außenpolitische Fachleute die USA in die Welt schicken, wenn sie von Leuten wie Michael Mandelbaum ausgebildet werden.