von Wolfram Adolphi
Große Aufregung am Jahresanfang. „Droht ein Krieg um Taiwan?“ titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Netzversion faz.net vom 2. Januar. Was ist geschehen? Staats- und Parteiführer Xi Jinping wird mit der Überlegung zitiert, dass China die staatliche Einheit mit Taiwan notfalls auch mit Gewalt herbeizuführen bereit ist.
Das ist – für sich genommen – in der Tat eine beunruhigende Aussicht. Aber darf man in der global vernetzten Welt etwas nur „für sich“ nehmen? Nein, darf man nicht, und so kommt Autor Lorenz Hemicker auch zu dem beruhigenden Schluss, dass „eine ganze Reihe militärischer wie auch grundsätzlicher Gründe dagegen“ sprächen, „dass Peking kurz vor einem Waffengang steht“.
Trotzdem: Die Angst vor der „Gelben Gefahr“ hat erst einmal wieder Futter.
Nun ist es kein Geheimnis, dass die Spannungen zwischen den USA und der VR China zunehmen. Aber warum? Schürt China die Kriege im Nahen Osten und im arabischen Raum? Hat es einen Militärstützpunkt in Panama oder auf Hawaii errichtet? Baut es an einem weltweiten, gegen die USA gerichteten Militärbündnis? Nichts von alledem ist der Fall. Es ist einzig die Entwicklung Chinas selbst – seine ökonomische Stärke, seine politische Stabilität und das damit selbstverständlich verbundene Interesse, als bevölkerungsreichstes Land der Welt seine Außenbeziehungen global zu gestalten. Das aber wird von den USA und ihren Verbündeten als Angriff auf die eigenen strategischen Interessen betrachtet; als Angriff, dem energisch – also: das Konfliktrisiko immer in Kauf nehmend – entgegenzutreten ist.
Diese Art der Weltbetrachtung und der auf ihr basierende Kurs sind finstere Steinzeit. Nicht um die so überaus notwendige weltweite Kooperation geht es da, sondern um die uralten Instrumente Konkurrenz und Krieg. Und in diesem Konkurrenz- und Kriegsdenken hat Taiwan für die USA einen in der Tat einzigartigen Platz.
Ein eigenständiger Staat im modernen Sinne war Taiwan nie. Als die Portugiesen im 16. und 17. Jahrhundert die ostasiatischen Meere befuhren, machten sie die Insel zu ihrer Kolonie und nannten sie Formosa, die Schöne. Die indigene Bevölkerung, nicht aus China, sondern vornehmlich aus der südostasiatisch-südpazifischen Inselwelt zugewandert, schlug sich so durch. Und kein Hahn in Europa oder den USA krähte danach, als die Insel 1919 in den Besitz Japans überging – des Landes, das zur gleichen Zeit begann, Stück für Stück chinesisches Territorium zu erobern, bis es 1937 auf breiter Front gegen China losschlug. 1945 war es damit zu Ende, Japan war geschlagen, in China kam es zum Bürgerkrieg, und 1949 trat Taiwan plötzlich ins Rampenlicht der Weltgeschichte. Tschiang Kaischek, seit 1925 Führer der Guomindang, dann auch militärischer Oberbefehlshaber und diktatorischer Führer der Republik China, wurde von der Volksrevolution trotz der Hilfe, die er aus den USA erhalten hatte, vernichtend geschlagen und floh, gefolgt von rund zwei Millionen Anhängern, auf die Insel. Dort versetzte ihn die fortgesetzte Unterstützung der USA in die Lage, seine Herrschaft auf Taiwan als Fortbestehen der Republik China zu deklarieren und einen Alleinvertretungsanspruch für ganz China zu erheben.
Eine groteske Aktion, denn wie sollten die 15 Millionen Taiwaner die damals 600 Millionen auf dem Festland vertreten? Aber nichts war unmöglich im Wahn, die Volksrepublik China von der Landkarte tilgen zu wollen. Man lese die US-Literatur dieser Jahre zum Thema und erschauere nachträglich vor dem Hass auf „Rot-China“.
Bis 1971 hielt der groteske Zustand an. Nicht die VR China saß in der UNO, sondern Taiwan, die „Republik China“. Dann musste die westliche Welt den Realitäten Rechnung tragen und akzeptierte die Volksrepublik als einzig rechtmäßigen Vertreter des chinesischen Volkes. Allerdings unterhielten die USA weiter Sonderbeziehungen zu Taiwan, fußend insbesondere auf einem militärischen Bündnisvertrag von 1954.
1979 änderte sich die Lage. Die USA nahmen diplomatische Beziehungen mit der VR China auf und definierten ihr Verhältnis zu Taiwan neu. Der Bündnisvertrag wurde durch „sanftere“ Regelungen ersetzt. Dennoch verfügt – wie im eingangs angesprochenen faz.net-Artikel zu lesen ist – „das Pazifikkommando der amerikanischen Marine über bedeutende See-, Luft- und auch Heerestruppen in der Region, die schnell eingreifbereit wären“. Warum? Weil im Taiwan Relation Act der USA vom 1. Januar 1979 festgelegt ist, dass die USA „jede Maßnahme, die Zukunft Taiwans anders als durch friedliche Methoden zu bestimmen, einschließlich Boykotten und Embargos, als Bedrohung für den westlichen pazifischen Raum und als von erheblichem Belang für die Vereinigten Staaten ansehen werden.“
Die VR China sieht in diesem Gesetz selbstverständlich eine Einmischung in die innerchinesischen Angelegenheiten. Und für die Führung in Taiwan war die Frage, dass es nur ein China geben könne und nicht zwei, auch nach 1971 immer eine nicht zur Disposition stehende Grundbedingung aller Politik geblieben. Allerdings nur bis 2016. Seither gibt es in Taiwans Hauptstadt Taibei einflussreiche Stimmen, die einen unabhängigen Staat Taiwan ernsthaft in Erwägung ziehen.
Das wiederum sieht die Führung der VR China als nicht hinnehmbar an. „Chinas Einheit ist“, schrieb mit John King Fairbank einer der bedeutendsten Chinakenner der USA schon 1979, „ein Attribut des Chinesischseins selbst. Sie entspringt einem Kulturalismus, der etwas deutlich Stärkeres ist als der Nationalismus westlichen Stils. Ohne sie gäbe es die Volksrepublik als Staat gar nicht. Es ist diese elementare politische Kraft, die die Forderung begründet, dass Taiwan als Bestandteil Chinas betrachtet wird, denn es wird von Angehörigen des gleichen chinesischen Volkes bewohnt.“
Nun muss man diesen Kulturalismus nicht gut finden. Aber man muss ihn zumindest genau so ernst nehmen wie das – demgegenüber höchst seltsame – Interesse der USA, nach wie vor und immer noch unmittelbar vor den chinesischen Küsten für Recht und Ordnung sorgen zu wollen. Und man muss in Kenntnis der einander entgegengesetzten Interessenlagen auf gleichberechtigte Verhandlungen zur Lösung dieser Fragen drängen.
Von einer Bereitschaft dazu sind die USA jedoch so weit entfernt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie schüren den Handelskonflikt, und sie stärken, um China in diesem Konflikt zu schwächen, die Taiwaner Autonomiekräfte. Sie benutzen die Insel als einen Druckpunkt gegen China, dem China nichts Gleichwertiges – also eine unter chinesischem Einfluss stehende Insel 180 Kilometer östlich von New York – entgegenzusetzen hat.
Dem langjährigen China-Beobachter aus der DDR – die übrigens schon 1949 diplomatische Beziehungen mit der VR China aufnahm, während sich die BRD am grotesken Taiwan-Spiel beteiligte und erst 1973 mit der Volksrepublik ins Benehmen kam – entsetzt bei diesem Vorgang einmal mehr, mit welcher Selbstherrlichkeit und Arroganz der Westen darüber entscheidet, wann ihm welche politischen und Völkerrechtsprinzipien gerade wichtig sind und wann nicht. Katalonien – selbstverständlich – darf sich nicht von Spanien lossagen. Aber Taiwan von China darf es? Oder auch so: Deutschland musste, sollte, durfte sich unter der Herrschaft des Stärkeren vereinigen – und China darf es nicht?
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Eine friedliche Zukunft verlangt eine friedliche, auf Ausgleich und Zusammenarbeit gerichtete Neujustierung der internationalen Beziehungen, die den veränderten wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen Rechnung trägt. Mit einer „America first“-Politik, bei der Taiwan immer noch wie seit 1949 zu „America first“ gehört, wird es nicht zu machen sein.
Schlagwörter: China, Krieg, Taiwan, USA, Wolfram Adolphi