von Wolfgang Kubiczek
Welche Absichten verfolgt Russland in Europa? Will es die EU spalten, seine Einflusssphäre auf dem Balkan ausdehnen, bedroht es militärisch die baltischen NATO-Staaten oder gar Deutschland, führt es bereits einen subversiven, hybriden Krieg im europäischen Raum? Diese und ähnliche Thesen über russische Politik dominieren derzeit den Diskurs in Deutschland und anderen NATO-Staaten.
Ein objektives Urteil erfordert, auch den russischen Standpunkt zur Kenntnis zu nehmen. Dazu kann ein in diesem Jahr erschienenes Buch des ehemaligen russischen Außenministers (1998–2004) Igor Iwanow mit dem Titel „Die europäische Richtung der Außenpolitik des gegenwärtigen Russland“ beitragen. Es enthält Publikationen des Autors zwischen 2011 und 2016, darunter solche, die er gemeinsam mit angesehenen westlichen Autoren verfasst hat. Seine Beiträge sind von einer gemäßigt kritischen Distanz zur offiziellen russischen Außenpolitik, ohne dass sie den grundsätzlichen Standpunkt Moskaus in Frage stellen.
*
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist die in Russland endlos schwelende Diskussion, ob das Land eher eine asiatische oder eine europäische Macht ist. Iwanow hält das für eine scholastische Diskussion. Die außenpolitische Hauptaufgabe Russlands sei im Hinblick auf Europa und Asien viel pragmatischer: nämlich Acht zu geben, dass die sich herausbildende europäisch-asiatische Zusammenarbeit nicht an Russland vorbeigehe. Die Gefahr, diese Entwicklung zu verpassen, sei leider sehr real.
Gegen in Moskau verbreitete Auffassungen stellt Iwanow seine Hauptthese: Europa war und bleibt eine der zentralen Richtungen russischer Außenpolitik. Eine reale und wertgleiche Alternative dazu, so der Autor, gibt es nicht und wird es auch nie geben. Russland war über viele Jahrhunderte immer untrennbarer Bestandteil des europäischen politischen Systems und spielte eine aktive Rolle im europäischen Mächtekonzert. Daraus schlussfolgert er, nicht zuletzt an das offizielle Moskau gerichtet, man müsse dringend die feindselige Rhetorik einstellen und einen ernsthaften Dialog über die Zukunft unserer Beziehungen beginnen. Ein viertel Jahrhundert nach Ende des kalten Krieges müsse man gelernt haben, „die Dinge realistisch zu betrachten und nicht die langfristigen nationalen Interessen durch konjunkturelles ‚Geplänkel‘ zu ersetzen.“
Wie beurteilt dieser Pro-Europäer die letzten fünfundzwanzig Jahre im Verhältnis Russland – Westen? 1991, so der Autor, entstand ein Russland, das keine Analogie in der russischen Geschichte kannte: sowohl hinsichtlich der erlittenen territorialen Verluste als auch mit Blick auf das neue politische System. Es dominierte die Vorstellung, man müsse nur radikal die politische Orientierung wechseln, sich komplett auf den Westen orientieren, um massenhaft politische Unterstützung und wirtschaftliche Hilfe zu erhalten. Außenpolitisch strebte Moskau eine beschleunigte Integration in die euro-atlantischen Strukturen und Bündnisbeziehungen mit dem Westen an. Diese Fehlkalkulation, stellt Iwanow fest, beruhte auf einer romantischen Vorstellung von der Welt nach dem kalten Krieg. „Wir schätzten […] die Brutalität der heutigen Politik grundsätzlich falsch ein und überschätzten die Bereitschaft der Partner zu einer strategischen Sichtweise […]“. In den USA und Westeuropa verstand man sich als Sieger und war nicht bereit, Russland eine gleichberechtigte Stellung einzuräumen.
Es brauchte Zeit, bis in Moskau die Erkenntnis Oberhand gewann, dass die einzige zuverlässige Orientierung nur die Verteidigung der nationalen Interessen sein konnte. Damit stand die Frage: Wie sind diese zu definieren? Das Erbe der Sowjetunion als Supermacht, die sich in alle irgendwie bedeutenden internationalen Konflikte einmischte, egal, ob es die eigenen Ressourcen hergaben oder nicht, wurde angesichts der vielen inneren Probleme des Landes verworfen. Der gesunde Menschenverstand verlangte, so der Autor, „dass […] die Außenpolitik in erster Linie dazu aufgerufen ist, die lebensnotwendigen Interessen der Binnenentwicklung zu ‚bedienen‘“: vor allem zuverlässige Sicherheit und optimale Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung.
Für die Westpolitik setzte sich die Auffassung durch, dass es inakzeptabel sei, ungerechtfertigte Zugeständnisse zum Schaden der eigenen Interessen zu machen. Gleichwohl sollte aber auch eine Konfrontation mit den USA, Westeuropa und anderen Ländern vermieden werden. Zur Jahrtausendwende wurde als neues Element die Verteidigung der Interessen und Rechte russischer Bürger hinzugefügt. Das bezog sich in erster Linie auf Millionen von Russen, die außerhalb des Landes in den unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken lebten. Im Westen wurde dies als potentielle Drohung gegenüber den jungen Staaten und bei Bedarf als Vorwand für eine russische Intervention interpretiert.
Im Westen macht man die Politik Wladimir Putins für die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland verantwortlich, spricht von der „Putinschen Wende“. Iwanow weist nach, dass Putin in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft (2000–2003) eine Linie auf Integration mit dem Westen verfolgte. Als Beispiele nennt er den Versuch, die Beziehungen zur EU auf ein qualitativ neues Niveau anzuheben, das russische Einverständnis zur amerikanischen Militärpräsenz in Mittelasien, die Bildung des NATO-Russland-Rates…Das wurde von westlicher Seite nicht honoriert und als Schwäche ausgelegt. Anstelle der erhofften strategischen Partnerschaft mit dem Westen sah sich Moskau mit der Missachtung seiner nationalen Interessen konfrontiert: Osterweiterung der NATO, Aufkündigung des strategisch wichtigen ABM-Vertrages, völkerrechtswidriger Krieg gegen den Irak, Pläne für ein Raketenabwehrsystem in Europa …
Mit seiner Münchner Rede von 2007 machte Putin deutlich, dass Moskau nicht länger bereit ist, die westliche Arroganz gegenüber den russischen Interessen widerspruchslos zu akzeptieren. Man wollte mit dem Westen auf Augenhöhe verhandeln, zumal sich die wirtschaftliche Basis für eine aktivere Außenpolitik verbessert hatte.
Obwohl Iwanow die Berechtigung der russischen Reaktion anerkennt, zieht er ein vorsichtiges Resümee: „Wahrscheinlich werden die Historiker noch darüber streiten, inwieweit die ‚Putinsche Wende‘ die Effektivität der Außenpolitik verbessert oder verschlechtert hat. Man kann darüber polemisieren, ob sie der entstandenen Situation angemessen oder überflüssig und übertrieben war.“ Jedenfalls warnt er, nicht in Euphorie ob der im letzten Jahrzehnt gewachsenen Möglichkeiten der russischen Außenpolitik zu verfallen, …und nicht alle Hoffnungen auf die eigenen verhältnismäßigen Vorteile, seien es die militärische Stärke oder die energetischen Ressourcen, zu setzen. Die Botschaft ist klar: Moskau solle im Streit mit dem Westen nicht die eigenen Möglichkeiten überschätzen.
*
Besorgt zeigt sich der Autor über die künftige Stellung des Landes im internationalen System. Erstmals seit Jahrhunderten entwickle sich die kontinentale Umgebung in Eurasien (vor allem China und Indien) dynamischer und erfolgreicher als Russland selbst. Viele andere Länder kämen beim Ausbau ihrer materiellen Basis –militärisch, wirtschaftlich, demografisch – schneller voran. Besondere Herausforderungen stünden vor der rohstoffbasierten Wirtschaft. Ihre Möglichkeiten für die Entwicklung des Landes würden weiter schrumpfen. Notwendig sei eine radikale Diversifizierung der wirtschaftlichen Basis mit Schwerpunktsetzung auf Wissenschaft, innovative Technologien, Stimulierung von KMU und ähnlichem. Die Wirtschaft der Zukunft sei wissens- und nicht rohstoffbasiert. In der heutigen Welt könnten die internationalen Positionen Russlands nicht gehalten werden wenn man sich wie bisher allein auf das militärische Potential und die Energieressourcen verlasse.
Als engagierter Verfechter einer europäischen Ausrichtung beklagt Igor Iwanow den Niedergang der Idee eines „Großen Europas“ mit der OSZE als regionaler Sicherheitsorganisation. Ursache seien die unterschiedlichen Vorstellungen, wie das „Große Europa“ aussehen sollte: Der Westen verstand darunter eine lineare Fortschreibung der bestehenden westlichen Institutionen nach Osten, die Akzeptanz westlicher Spielregeln. Aus russischer Sicht sollte das gemeinsame Europa aus einem Prozess gleichberechtigter Verhandlungen mit gegenseitigen Kompromissen und einem Interessenausgleich hervorgehen. Heute sei diese einmalige Chance, die sich vielleicht einmal in hundert Jahren auftue, verspielt. Eine zweite werde sich für die heutige Politikergeneration nicht mehr auftun. Man müsse akzeptieren, dass sich die Wege Europas und Russlands ernsthaft getrennt haben, und zwar nicht auf Jahre, sondern eher auf Jahrzehnte. Es gelte jedoch zumindest, die wenigen erhaltenen Brücken – OSZE, Europarat, Russland-NATO-Rat, subregionale Organisationen – zu bewahren.
Mit der Ukraine-Krise wurde die Idee eines „Großen Europa“ endgültig obsolet. Sie zeigt, so der Autor, die mangelnde Bereitschaft der politischen Eliten in Russland und Europa aufeinander zuzugehen und an einem gemeinsamen Schicksal zu arbeiten. Die Ursachen der Krise sieht er vor allem in der ukrainischen Innenpolitik, in der Verantwortung ausnahmslos aller führenden ukrainischen Politiker der letzten Jahrzehnte, ihrer Unfähigkeit, einen Staat zu lenken, ihrer Korruption und ihrem politischen Zynismus sowie der Missachtung der grundlegenden sozialökonomischen Bedürfnisse des Landes. Zu den äußeren Faktoren rechnet er „die Unfähigkeit Russlands und der Europäischen Union ihre Herangehensweisen gegenüber der Ukraine abzustimmen. Die feindselige Rhetorik beider Seiten im Verlaufe der Krise sei ein deutlicher Ausdruck dafür, dass im euroatlantischen Raum nach wie vor die Verhaltensweisen des kalten Krieges erhalten geblieben sind.“ Die Krise ist jedoch nicht isoliert entstanden. Sie hat eine lange Vorgeschichte: eine Serie von Schritten des Westens, beginnend mit der völkerrechtswidrigen Aggression der NATO gegen Jugoslawien, bei denen einer nach dem anderen die Grundlagen des Völkerrechts und die Rolle des UN-Sicherheitsrates untergrub und die Anwendung militärischer Gewalt zur Norm wurde.
Zu den Verlierern der Krise werden neben der Ukraine auch Russland, die EU und die USA gehören. Die schlechteste Reaktion sei, die gegenseitigen Kontakte einzustellen sowie Sanktionen auszusprechen. Igor Iwanow sieht die Haltung der eigenen Regierung in der Ukraine-Krise durchaus nicht unkritisch, macht aber eines klar: „Das Schicksal der Krim ist endgültig. Mit diesem Fakt muss man sich einfach abfinden, auch wenn es dem Einen oder Anderen schwer fällt.“
*
Ein wichtiger Gradmesser für den Zustand der europäischen Sicherheit nach dem kalten Krieg ist das Verhältnis Russland – NATO. Die jüngste Geschichte zeigt, welche enormen Chancen für ein friedliches Gesamteuropa achtlos verspielt wurden und wie heute der bisherige Tiefpunkt erreicht wurde. Noch 2002 hoffte man mit der Bildung des „NATO-Russland-Rates“ in Moskau auf ein qualitativ neues Verhältnis zur NATO. Sogar zehn Jahre später schrieb Iwanow trotz aller bereits erlittener Rückschläge: „Die allmähliche Einbeziehung Russlands in die Tätigkeit der politischen Organe des Nordatlantikpaktes könnte es in der euroatlantischen Region ermöglichen, eine Gemeinschaft ungeteilter Sicherheit zu bilden. Man kann sich zwar Russland schwer als gleichberechtigtes Mitglied der NATO vorstellen, zumindest in überschaubarer Zukunft, […] Eine politische Integration ist jedoch leichter zu erreichen, was für beide Seiten garantiert von Vorteil wäre.“ Heute ist der Autor damit zufrieden, wenn sich beide politisch-militärische Zurückhaltung auferlegen und ihr direkter Dialog nicht zum Erliegen kommt.
Zentral für die Europapolitik Russlands ist das Verhältnis zur EU. In Moskau stellte man sich anfangs die Aufgabe, die Zusammenarbeit mit der EU auf das Niveau einer strategischen Partnerschaft zu heben. 2001 verkündete Putin, dass der „Kurs auf die Integration mit Europa zu einer der Hauptrichtungen der russischen Außenpolitik wird.“ Da eine Mitgliedschaft Russlands in der EU für die „überschaubare Zukunft“ nicht in Frage kam, orientierten beide auf die Zusammenarbeit im Rahmen von vier zu schaffenden „gemeinsamen Räumen (common spaces)“.Man wollte mit kleinen, aber konkreten Schritten in vier Bereichen letztlich eine neue Qualität in der Zusammenarbeit erreichen. Die erhoffte Dynamik für die Kooperation beider Partner blieb jedoch aus.
Iwanow warnt, dass sowohl Russland als auch Europa verlieren werden, wenn sie nicht kooperieren. Der Einsatz für beide sei hoch. Wenn Russland zurück bleibt, würde es seinen Abstieg fortsetzen, indem es sich in ein Land verwandelt, das nichts anderes als Rohstoffe produziert und vollständig von den schwankenden Weltmarktpreisen abhängig ist. Das wissenschaftliche, kulturelle und bildungsmäßige Potenzial würde weiter stagnieren. Im Endeffekt würde Russland nicht nur den Status einer Großmacht verlieren, sondern auch als beachteter „player“ in der Weltpolitik ausfallen. Für Europa sei die Lage zwar weniger dramatisch, würde aber dennoch ernsthafte Folgen zeitigen. Falls die auf beiden Seiten vorhandenen Skeptiker der Zusammenarbeit obsiegen, prophezeit Iwanow, werden sich unsere Wege wahrscheinlich trennen, im besten Falle durch gegenseitiges Ignorieren.
Mit der Ukraine-Krise wurden alle düsteren Prognosen übertroffen. Für die gegenseitigen Beziehungen braucht es nunmehr ein neues Modell, neue Regeln, so der Autor. Vor allem müsse man zur Kenntnis nehmen, dass das Verhältnis vor dem Hintergrund des tief sitzenden gegenseitigen Misstrauens der politischen Führer, der Eliten und der Gesellschaften insgesamt gestaltet werden muss. „Das Misstrauen wird zum langfristigen Parameter der neuen Realität.“ Dennoch gebe es keine Alternative zu einer russisch-europäischen Zusammenarbeit.
Weder Moskau noch die EU könnten der anderen Seite ihre Positionen aufzwingen. Folglich müsse man den Dialog wieder aufnehmen, zumal die USA derzeit aufgrund ihrer Innenpolitik dafür vielfach nicht in Frage kämen. Der neue Dialog könne aber nur erfolgreich sein, wenn man von beiden Seiten seine Propaganda mäßige. Er müsse auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Allerdings hätten sich das Format großartiger Gipfelkonferenzen EU – Russland und die Abfassung von Grundsatzdokumenten, wie sie in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem kalten Krieg üblich waren, erledigt. Heute komme es darauf an, konkrete problembezogene Lösungen zu Fragen von gemeinsamem Interesse anzugehen. Dabei könnte an das EU-Konzept des „selektiven Engagements“ – der prioritären Behandlung solcher Probleme, die in überschaubarer Zeit einen Lösungserfolg versprechen – angeknüpft werden. Das ist zwar eine Strategie der kleinen Schritte, könnte aber bei Erfolg dazu führen, dass sich das gegenwärtige konfliktreiche Verhältnis nicht verschlechtert und allmählich wieder ein Mindestmaß an Vertrauen aufgebaut wird. Bislang gibt es noch keine Anzeichen, dass dieser Weg eingeschlagen wird.
Anmerkung: Der Buchautor gebraucht „Europa“ in der Regel als Synonym für die EU.
Ivanov, Igor: Evropejskij vektor vneshnej politiki sovremennoj Rossii. Moskva 2018, Izd. „É“, 424 Seiten (russisch).
Schlagwörter: EU, Igor Ivanov, NATO, OSZE, Russland, Ukraine, Wolfgang Kubiczek