von Erhard Crome
„Friktion“ hat Clausewitz genannt, was „den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet“. Er meinte die Reibungsverluste und Störungen im Handeln militärischer Einheiten und in ihrem Zusammenwirken aus Gründen des Zustandes der Truppe, des Wetters, des Geländes oder auch der Zwistigkeiten der Befehlshaber, so „dass Kombinationen, die man mit Leichtigkeit auf dem Papier entwirft, sich nur mit großen Anstrengungen ausführen lassen“. Martin van Creveld, einer der kenntnisreichsten Militärtheoretiker der Gegenwart, fügte hinzu, dass die Folgen der Friktion umso schwerer wiegen, je mehr Effizienz verlangt ist.
Das Friktionsproblem erscheint auch in politischer Gestalt. Karl V. etwa, der großmächtigste Herr im Europa des 16. Jahrhunderts, kämpfte gegen die Aufstände der Comuneros in Spanien und der protestantischen Fürsten in Deutschland, gegen die Türken und die Seeräuber-Staaten in Nordafrika und führte drei Kriege gegen Frankreich. Am Ende legte er im September 1556 in Brüssel resigniert die Kaiserwürde nieder und beschloss seine Tage in einer Villa, die er sich in der tiefsten spanischen Provinz direkt neben einem Kloster hatte errichten lassen. In dasselbe einzutreten war er denn doch zu sehr Gourmant und Connaisseur.
Jeder seiner Kontrahenten war dem Habsburgerreich weit unterlegen, die vielen Probleme gleichzeitig aber verschlissen dessen Macht.
In einer ähnlichen Lage befindet sich derzeit die deutsche Außenpolitik. Als am Vorabend der Brexit-Abstimmung in der ARD bei Frank Plasberg über die voraussichtlichen Folgen der Entscheidung des britischen Unterhauses diskutiert wurde, merkte der konservative britische Politik-Professor Anthony Glees an, nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union werde auf Deutschland eine Führungsrolle in Europa zukommen. Das bedeute aber nicht die Fähigkeit, den Kontinent tatsächlich führen zu können. Und die Briten hätten keine Angst vor dem EU-Austritt; sie glaubten, dass sie nach Dünkirchen 1940 allein gegen Hitler weitergekämpft und es geschafft hätten und es heute auch wieder schaffen würden. Der deutschen Kanzlerin fällt nach der Entscheidung des Unterhauses aber nichts weiter ein, als nach wie vor auf den mit Großbritannien ausgehandelten Bedingungen für den Brexit zu bestehen.
Derweil hat der derzeitige US-Botschafter hierzulande, Richard Grenell, verschiedene deutsche und europäische Firmen, die an der Realisierung des „Nord Stream 2“-Pipeline-Projekts beteiligt sind, „gewarnt“. Firmen, „die sich im russischen Energieexportsektor engagieren“, würden sich an etwas beteiligen, „das ein erhebliches Sanktionsrisiko nach sich ziehen“ könne. Das war eine offene Drohung. Selbst Heiko Maas, der deutsche Außenminister, versuchte sich zu ermannen, und erklärte: „Fragen der europäischen Energiepolitik müssen in Europa entschieden werden.“ Dabei unterschlug er, dass es auch innerhalb der EU heftige Widerstände gegen dieses Projekt gibt, und derzeit nicht klar ist, wie viele polnische Politiker in Washington angerufen haben, um eine solche Demarche zu erbitten.
Gleichzeitig aber jammerte Maas auf dem Neujahrsempfang des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, ihm wehe in Sachen „Nord Stream 2“ allenthalben der Wind ins Gesicht, in Gesprächen mit osteuropäischen Politikern, in NATO-Runden, ja selbst in der UNO werde ihm vorgehalten, Deutschland befinde sich auf einem „falschen Weg“.
Die USA heucheln Sorge um die Energieunabhängigkeit der EU und um die Transiteinnahmen der Ukraine. Tatsächlich geht es ihnen um den Absatz US-amerikanischen Flüssiggases, das sie auf Grund der rabiaten und umweltfeindlichen Fördermethoden nunmehr in Mengen in den Weltmarkt drücken wollen. Bis 2025 wollen die USA mindestens fünfzig Prozent des europäischen Gasmarktes beherrschen. Das erreichen sie aber nicht, ohne Russland von einem erheblichen Teil dieses Marktes zu vertreiben.
Schon auf dem „Petersburger Dialog“ im Oktober 2018 hatte Wiktor A. Subkow, Vorsitzender der russischen Seite des Dialogs und Aufsichtsratsvorsitzender von Gasprom, betont, den USA dienten die Sanktionen und die militärischen Eskalationen der NATO an den russischen Grenzen nur dazu, Deutschland und die EU fester an die USA zu binden und amerikanisches Flüssiggas zu verkaufen. Das jedoch sei dreißig Prozent teurer als russisches Erdgas. Außerdem würde dies durch die Pipelines regelmäßig nach Westeuropa kommen, während man nicht sicher sein könne, ob die USA auch dann zuverlässig nach Europa liefern würden, wenn in Japan oder China die Preise steigen. Deutschland solle souverän entscheiden und seinen tatsächlichen Interessen folgen. Genau darum geht es jetzt. Der Vorsitzende des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele, betonte, es gehe „um unsere Selbstachtung und Souveränität“.
Auf der anderen Seite kritisierte Heiko Maas kurz vor Weihnachten scharf Trumps Entschluss, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen: „Es besteht die Gefahr, dass diese Entscheidung dem Kampf gegen den IS schadet und die erreichten Erfolge gefährdet.“ Hier war klar, dass die deutsche Regierung die Anwesenheit der US-Truppen in Syrien als Mittel ansieht, russischen Einfluss zu begrenzen und der Stabilisierung der Assad-Regierung zu schaden. Oder anders gesagt: Die vor sieben Jahren klar ausgesprochene Absicht, einen Regime-Change in Syrien zu erreichen, wurde nie aufgegeben, nur nicht mehr ausgesprochen; US-Truppen sollten dies erreichen, aber deutsche Kontingente dafür nicht eingesetzt werden. „Auf fremdem Arsch ist gut durchs Feuer reiten“, stellte schon Martin Luther fest.
Sollen die derzeitigen deutschen Friktionen dechiffriert werden, so zeigt sich: Eine weitere absichtsvolle Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen bräuchte eine engere Zusammenarbeit mit den USA. Ein Ausbalancieren der seit der Wahl Trumps verschlechterten Beziehungen zu den USA bräuchte hingegen gute Beziehungen zu Russland. Eine deutsche „Wertepolitik“ etwa zum Sturz Assads bräuchte gute Beziehungen zu den USA und Russland.
Beiden selbstbewusster gegenüberzutreten, hätte eine stärkere und geschlossener agierende EU zur Voraussetzung. Die ist nach Flüchtlingskrise, Kontroversen mit Ungarn und Polen einerseits sowie den Südländern in Sachen Finanzen und Euro andererseits nicht in Sicht. Der Streit mit Großbritannien verstärkt die EU-europäische Politikunfähigkeit zusätzlich. Und die USA-Politik gegen „Nord Stream 2“ und zur Aufkündigung des INF-Vertrages soll EU-Europa und vor allem Deutschland niederhalten und ein eigenständiges Agieren verhindern, zumindest erschweren.
Angesichts solcher Friktionen ist die sogenannte politische Klasse in Deutschland augenscheinlich überfordert. Und kein Rückzugsort – wie für Karl V. – weit und breit.
Die Bevölkerung kann ohnehin nicht dorthin entweichen.
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