21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Niederlagendemokratie

von Jörn Schütrumpf

Niemand hatte die Absicht, eine Republik zu errichten. Im Frühsommer 1918 sah es sogar nach einem Europa aus, das von einem Sonnengott mit einer preußischen Pickelhaube auf dem Haupte beschienen würde. Der Brester Diktatfrieden mit Lenins und Trotzkis Russland hatte seit März 1918 Deutschland aus der Zange des Zweifrontenkrieges befreit; bei der großen Sommeroffensive 1918 sah es in den ersten Wochen deshalb so aus, als wenn Deutschland den Krieg nun auch im Westen gewinnen würde. Weitere hundert Jahre Hohenzollern-Monarchie mit Kriegsrecht nach innen und Ausplünderung aller auswärtigen Nachbarn schienen so gewiss, dass Frankreich und Großbritannien einen Waffenstillstand anboten. Deutschlands Militärdiktator Erich Ludendorff spielte jedoch auf „Alles oder nichts“ und lehnte ab.
Dass nach 1945 im Zuge des Kalten Krieges dem Westen Deutschlands ebenso eine parlamentarische Demokratie wie dem Osten Deutschlands ein gemäßigtes Sowjetsystem verordnet wurde, bestreitet in diesem Land – zumindest zurzeit – noch niemand. Dass aber im August/September 1918 die um US-amerikanische Truppen massiv verstärkten französischen und britischen Einheiten für Deutschland die Parlamentarisierung herbeisiegten, ist hingegen überhaupt nicht im öffentlichen Bewusstsein. Hier wird immer nur von Deutschlands Niederlage – neuerdings, zaghaft noch, auch schon wieder mal von der „Dolchstoßlegende“ – fabuliert.
Was aber in Deutschland die Monarchie(n) entmachtete, war der Sieg der anderen, nicht der Sieg der Revolution. Der Sieg der anderen zwang Ludendorff Mitte September 1918, zu seinem Kaiser zu gehen und ihm vorzuschlagen, die Militärdiktatur durch eine parlamentarische Demokratie zu ersetzen. Künftig sollte nicht mehr der Kaiser den Reichskanzler und dessen Regierung ernennen, sondern die im Reichstag vertretenen Parteien Koalitionsregierungen bilden, die nicht dem Kaiser, sondern ausschließlich dem Parlament verantwortlich waren. Diese Idee orientierte sich am englischen Vorbild.
Ludendorffs Argument für die Selbstentmachtung des Monarchen verstand sogar ein Mensch vom Format eines Wilhelm Zwo: Die Suppe der Niederlage müssten die demokratischen Parteien auslöffeln, während man sich selbst aus der Schusslinie zöge. Alexander Parvus, der Schillernde, war der erste, der schon im Oktober den Braten roch und in seinem Hausblatt Die Glocke vor einer „Niederlagendemokratie“, der alles angehängt werden würde, warnte; umsonst.
Wie allgemein bekannt, funktionierte Ludendorffs Plan lediglich fünf Wochen lang: Am 3. Oktober 1918 wurde unter Prinz Max von Baden mit SPD, Zentrum und verschiedenen Liberalen eine Koalitionsregierung gebildet, die an einem Samstagvormittag – es war der 9. November 1918 – von hunderttausenden Berliner Arbeitern nach Hause geschickt wurde, Kaiser und Anhang inklusive.
Manchmal wird diese Revolution vornehm als Kriegsbeendigungsrevolution bezeichnet. Es war eine Niederlagenrevolution. Hätte Deutschland im August 1918 den Krieg gewonnen, säßen wir wahrscheinlich immer noch im Kaiserreich. Die USPD hatte zwar Pläne zum Sturz der Regierung ausgearbeitet, wäre aber in einem siegreichen Deutschland nie zum Zuge gekommen – von den tapferen, aber noch viel schwächeren Aktivisten der  Spartakusgruppe gar nicht erst zu reden.
Aber es lastete nicht nur die Niederlage des Weltkrieges auf dieser Revolution: Im September und vor allem im Oktober 1918 – es waren die Monate, in denen Rosa Luxemburg im Gefängnis ihr Fragment „Zur russischen Revolution“ (1922 erschienen) verfasste – kippte in der USDP die Haltung gegenüber den Bolschewiki von Plus auf Minus. Noch am 12. September 1918 hatte eine nichtöffentliche Reichskonferenz von 60 führenden USDP-Funktionären sich zwar vom roten Terror distanziert, aber sich ansonsten zu den Methoden der Bolschewiki bekannt. Doch die Nachrichten über den Furor, der ab September über Russland raste, verwandelte die einstige Ermutigung, die die Übernahme der Macht durch die Bolschewiki bedeutet hatte, in ein Trauma.
Die Bolschewiki saßen während der deutschen Novemberrevolution in jeder Auseinandersetzung als unsichtbare Dritte mit am Tisch. Sprichwörtlich jeder Akt war in ein Licht getaucht, dessen Quellen sich bis in die Eruptionen tief im Osten Europas zurückverfolgen ließen. Lenin und Trotzki haben in der Konsequenz der deutschen Konterrevolution zugearbeitet – war es doch nach allem, was in Russland schon 1918 geschehen war, ein Leichtes, in Deutschland jeden Schritt zu weitergehenden Veränderungen unter Bolschewismus-Verdacht zu stellen. Rosa Luxemburg und viele ihrer Genossen, die nun alles, aber keine Bolschewiki waren, wurden die gesamte Revolution über als „Bolschewisten“ bekämpft, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Ende als „Bolschewisten“ ermordet.