von Ulrich Busch
Die soziale Ungleichheit wird immer stärker zum zentralen Thema politischer Auseinandersetzungen in Deutschland. Dabei sind ihre Ursachen alles andere als eindeutig bestimmbar. Ebenso ihre Ausdrucksformen und Folgen, welche von der Differenzierung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse über die Nähe oder Ferne zur Bildung bis hin zu einer differenzierten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben reichen.
Soziale Ungleichheit findet sich mittlerweile in unserer Gesellschaft fast überall, zwischen den Geschlechtern und den Generationen, zwischen den Bildungs- und Berufsgruppen, zwischen Lohnabhängigen und Selbständigen, zwischen den Regionen … Und sie nimmt im Zeitverlauf nicht ab, sondern dramatisch weiter zu. Es ist deshalb die Rede von einer sozialen Polarisierung der Gesellschaft, von ihrem Auseinanderdriften, von einer Verfestigung der sozialen Unterschiede und einem Rückgang der sozialen Durchlässigkeit und Mobilität, ja von einer Rückkehr zur schon überwunden geglaubten Klassengesellschaft.
Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese Vorgänge präzise zu erfassen und zu beschreiben. Dabei stechen zwei Termini besonders hervor: Reichtum und Armut. Anhand der ökonomischen und sozialen Phänomene, die mit diesen Begriffen bezeichnet werden, ihrer Veränderung und Relation, lässt sich die Entwicklung der sozialen Ungleichheit empirisch erfassen und kann zugleich gezeigt werden, in welche Richtung sich eine Gesellschaft bewegt. Die hierzu in jüngster Zeit vorgenommenen Untersuchungen und Veröffentlichungen, zum Beispiel vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin und vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf, belegen in bemerkenswerter Klarheit, dass sich die bundesdeutsche Gesellschaft immer weiter und immer stärker polarisiert.
Dies betrifft, aller politischen Rhetorik zum Trotz, auch die Diskrepanz in den Lebensbedingungen und -verhältnissen der Menschen in den neuen und den alten Bundesländern. Im Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2018 wurde festgestellt, dass das Verfassungsziel, überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, auch 28 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht erreicht sei. Vielmehr gebe es hier nach wie vor „deutliche Unterschiede zwischen Ost und West“. Diese beträfen in erster Linie die Verteilung der Vermögen, also die Eigentümerstruktur beim Produktivkapital, bei Immobilien, beim Geldvermögen und beim konsumtiven Sachvermögen.
Über die dominante Bedeutung der Vermögen im Rahmen der Gesamtheit der Lebensverhältnisse besteht spätestens seit der Veröffentlichung des Buches „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty (2013) völlige Klarheit. Die Datenlage ermöglicht es jedoch nicht, hierzu eine umfassende Analyse vorzunehmen. Trotzdem legt die ganz offensichtliche Diskrepanz zwischen ost- und westdeutschen Vermögensverhältnissen den Schluss nahe, dass hier die Wurzel aller weiteren Unterschiede zu suchen ist – und dass sich auf diesem Gebiet seit 1990 keine Angleichung vollzogen hat. Dies gilt insbesondere für das Produktivvermögen, wo die Differenz gewaltig ist, in abgeschwächter Form aber auch für andere Vermögensformen, so für das private Immobilien- und Geldvermögen, da hier im Osten nirgends bisher auch nur annähernd die Hälfte des westdeutschen Niveaus erreicht worden ist. Beim Geldvermögen zum Beispiel beträgt das aktuelle Niveau im Osten nicht viel mehr als ein Drittel des Westniveaus.
Jetzt, nach fast dreißig Jahren gelebter „Einheit“ in Deutschland, wird die Forschung einer weiteren Facette nicht-gleichwertiger Lebensverhältnisse gewahr: dauerhafter Armut, besonders ausgeprägt im Osten, und deutlich verfestigten Reichtums, vor allem im Süden und Westen der Republik. Auf Grund der unzureichenden Datenbasis für die dafür ausschlaggebenden Vermögensverhältnisse, müssen die vorliegenden Untersuchungen auf die besser recherchierbaren Einkommensdaten zurückgreifen. Aber auch die dabei zutage geförderten Entwicklungen sind hochbrisant. So kommen die Forscher des WSI zu dem Ergebnis, dass seit 1991 in Deutschland sowohl der Anteil der Einkommensreichen als auch der Anteil der Einkommensarmen spürbar zugenommen hat.
Die Gesellschaft driftet also an ihren Rändern auseinander. Die Zunahme der „Armutsquote“ ist jedoch signifikant größer als die der „Reichtumsquote“. Zudem ist jene mit 16,8 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die Reichtumsquote, welche 2015 deutschlandweit bei 7,5 Prozent lag. Im regionalen Vergleich zeichnet sich ein differenzierteres Bild ab. Danach waren im Westen zwischen 2011 und 2015 3,4 Prozent der privaten Haushalte dauerhaft „reich“ und 5,5 Prozent dauerhaft „arm“, unter letzteren viele Migrantenhaushalte. Im Osten dagegen (mit Berlin) waren im gleichen Zeitraum nur 2,1 Prozent durchgehend „reich“, aber 6,4 Prozent dauerhaft „arm“.
Dauerhafte Armut ist aktuell, so die Forscher vom WSI, daher vor allem „ein ostdeutsches Phänomen“. Und sie wird es künftig noch viel stärker sein, da sich in den kommenden Dekaden die Situation in Ostdeutschland (niedrige Altersrenten bei Neurentnern, prekäre Beschäftigung, niedrige Löhne und so weiter) massiv weiter verschlechtern wird. Dies ist neu, denn bis 2005 lag der Anteil der dauerhaft Armen im Westen höher als im Osten und es gab zumindest zeitweise so etwas wie einen Annäherungsprozess bei den Einkommen. Nun ist es anders geworden, die Entwicklung hat sich umgekehrt und wird sich weiter in dieser Richtung entwickeln, indem der Westen relativ an Wohlstand gewinnt und der Osten relativ verliert.
Den Berechnungen zufolge lebten 2015 19,6 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung im Osten, davon 15,2 Prozent in den neuen Bundesländern und 4,4 Prozent in Berlin. Von den dauerhaft Armen aber lebten 38,5 Prozent, also überproportional viele, im Osten. Und es werden bald noch viel mehr sein. Von den Reichen hingegen waren es nur 5,0 Prozent, also unterproportional wenige, und die wohnten überwiegend in Berlin, wahrscheinlich im Westteil der Stadt. Es lohnt sich, das Zahlenwerk hierzu genauer zu studieren. Die in den Daten nüchtern und klar zum Ausdruck kommende „materielle Deprivation“ des Ostens lässt inzwischen viele Ostdeutsche verzweifeln – an der deutschen Einheit, am Kapitalismus, an der Demokratie, an der Politik. Man hat sich 1990 das Zusammenwachsen beider Landesteile anders vorgestellt. Aber vielleicht war man damals einfach naiv. – Nun sieht man sich auch langfristig als Verlierer der Einheit.
Schlagwörter: Armut, Einkommen, Ostdeutschland, Reichtum, Ulrich Busch, Vermögen