21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Strategisches unter Trump

von Erhard Crome

Politischen Gegnern möglichst unberechenbar zu erscheinen, um sie dadurch noch stärker einzuschüchtern – das ist die außenpolitische „Strategie des Verrückten“. Darauf hatte der französische Historiker und Demograph Emmanuel Todd schon 2002, angesichts des Regierungshandelns des US-Präsidenten George W. Bush hingewiesen. Das sei eine klassische strategische Denkfigur, aber „ungeeignet für ein Land von der Größe eines Kontinents“, die USA.
Gegenwärtig scheint aber nicht ausgemacht, ob in Washington „der Verrückte“ im Weißen Haus sitzt, wie auch deutsche Medien mit Vorliebe zu betonen bevorzugen. Oder ob es nicht vielmehr Scharen von Verrückten in den verschiedenen Zentralen seiner erklärten Feinde gibt. Die globalistischen Regime-Change-Krieger nehmen Trump übel, dass er die USA aus den von ihnen herbeigeführten unglückseligen Kriegen herausziehen will – es gibt Gesten in den Beziehungen zu Russland, offensichtliche Bewegungen in Sachen Korea und Syrien, neuerdings Kontakte der USA zu den Taliban, um Afghanistan zu beruhigen, und inzwischen sogar Signale in Richtung Iran. Statt dies zu goutieren, kramen seine Feinde auch zwei Jahre nach der Wahl immer wieder alte Geschichten einer „Russland-Verbindung“ hervor. Die Strategen der Demokratischen Partei polken in den Wahlen von 2016 herum, statt sich auf die Zwischenwahl 2018 und die nächsten großen Wahlen 2020 zu konzentrieren. Und scheinen gar nicht zu merken, dass es für ein Land von der Größe und mit der Geschichte der USA eine hausgemachte Selbst-Ehrabschneidung erster Ordnung ist, jahrelang eine verlorene Wahl zu bejammern. Die deutschen Regime-Changer saugen jedwede derartige Meldung aus den USA begierig auf – und sollten sich besser darauf einstellen, dass Trump mindestens vier Jahre im Amt sein wird.
Versuchen wir, uns aus diesem vernebelten Gelände heraus zu bewegen und nach dem Rationalen zu fragen. Trump war zur Wahl angetreten mit drei zentralen Punkten: (1) in Sachen Rüstungswettlauf „an der Spitze des Rudels“ zu bleiben – hier sind Russland und China die Gegner in der jetzigen Dreier-Runde des nuklearen Patts; (2) die USA aus dem Regime-Change-Geschäft herauszuziehen, weil es einen Haufen Geld gekostet, aber nichts gebracht hat; (3) die USA im Bereich der Realwirtschaft wieder nach vorn zu bringen und insbesondere jene Länder zu bekämpfen, die große Überschüsse im Handel mit den USA erwirtschaften. Das sind Deutschland und China. Insofern war Trumps Mitteilung, die USA hätten drei Feinde, logisch und im Sinne von „America First“ zutreffend: China, Russland und Deutschland.
Das Erstaunen darüber unter maßgeblichen Kreisen in Deutschland war erstaunlich. Staaten haben Interessen, keine Freunde. Je größer die Staaten, desto mehr gilt dies. Deutschland nimmt bei seiner geoökonomischen Weltpolitik auch nicht Rücksicht auf griechische Rentner oder die Probleme Maltas mit der Flüchtlingsbewegung – trotz solidarisch klingender Sonntagsreden an Europa-Tagen. Ein formelles Bündnis zwischen den USA und Deutschland gibt es nicht, abgesehen von der NATO, die ein politischer Konsultationsmechanismus und ein militärisches Verteidigungsbündnis ist. Und dann gibt es noch den „2+4-Vertrag“, der 1990 von den vier Siegermächten mit den damals noch zwei deutschen Staaten abgeschlossen wurde und Deutschland in die staatliche Einheit und eine konditionierte Souveränität entließ. Durch ihn besteht eine dauerhafte und nicht auflösbare Verbindung Deutschlands mit den vier Staaten, das heißt auch mit Russland.
In der Logik des Kalten Krieges lag, dass die USA die herrschenden Eliten der Bundesrepublik politisch, kulturell und mental „nordatlantisch“ an sich gebunden haben. Wie es umgekehrt die Sowjetunion mit der DDR versucht hat. Mit dem Ausgang des Kalten Krieges erwies sich letztere Verbindung als obsolet, während erstere zunächst perpetuiert wurde. Nur war es aus Sicht der USA immer ein geopolitisches Kalkül, während sich die zunächst westdeutschen, dann deutschen herrschenden Kreise bemühten, sich nach zwei verlorenen Weltkriegen in der Juniorpartnerschaft mit den USA kommod einzurichten. Das heißt, aus deutscher Sicht bestehen die Gründe für enge USA-Bindung fort, aus amerikanischer nicht. Das macht die USA immer stärker, nicht nur in einem realpolitischen und militärischen Sinne.
Hinzu kommt eine grundsätzliche deutsche Fehleinschätzung: Aus der Tatsache, dass es Russland bisher nicht geschafft hat, nach 1990 eine durchgreifende wirtschaftliche Modernisierung zu erreichen, folgt nicht, dass es politisch irrelevant wäre – was Kanzlerin Merkel und USA-Präsident Barack Obama vermeinten, als sie die Ukraine-Operation und die anschließenden Anti-Russland-Sanktionen in Gang setzten. Schon das Russland vor 1914 war militärisch immer stärker, als seine Wirtschaftsdaten es nahelegen sollten. Russland ist weiterhin die nuklear-strategisch zweite Macht in der Welt. In diesem Sinne liegt Trump völlig richtig, mit Russland auf Augenhöhe zu reden, während die deutschen Kritiken daran wieder einmal Ausdruck einer grandiosen Fehlperzeption und Selbstüberhebung sind.
Aus USA-Sicht gibt es deshalb zwei Ebenen des politischen Vorgehens: eine in militärisch-strategischer und eine in weltwirtschaftlicher Hinsicht. Auf beiden hat die Trump-Regierung die Entscheidung getroffen, sich um internationale Institutionen und alte Verträge einen Teufel zu scheren, sofern es den USA aktuell nicht nützt. Das heißt, sie sind in der internationalen Politik ein unikaler, kein Bündnisakteur, sind bemüht, ihre Interessen durchzusetzen, nicht internationale Bündnisse oder gar Regime zu schaffen. Dabei haben wir es auf beiden Ebenen mit jeweils einer Dreier-Konstellation auf Augenhöhe zu tun: auf der militärisch-strategischen die USA, China und Russland, auf der weltwirtschaftlichen die USA, China und Deutschland beziehungsweise die EU – Trump hat deutlich gemacht, dass er lieber mit Deutschland direkt verhandle, schließlich aber akzeptiert, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Prokura hat, dies zu tun.
Die USA sind – auch wenn sie nicht die alles bestimmende Supermacht sind – auf beiden Ebenen die weiterhin stärkste Macht. Nur China erscheint ebenfalls auf beiden Ebenen und wird daher als die eigentliche Herausforderung angesehen. Zudem kennen die ernsthaften strategischen Denker in den USA die alten chinesischen Lehren von den „drei Reichen“ sehr genau: Man muss die Dreierkonstellation in eine Zweikonstellation auflösen und sich mit dem jeweils schwächeren der drei verbünden, um den stärkeren zu schlagen.
Auf der Weltwirtschaftsebene hatte Donald Trump zunächst Strafzölle gegen China und gegen die EU zugleich verhängt. China bot der EU an, gemeinsam gegen diese Politik vorzugehen. Das haben die deutsche Regierung und die EU abgelehnt. Aus Gründen des wohlfeilen Geredes von „Werten“, die die EU und die USA, aber nicht die EU mit China verbinden, kurz: wegen des nordatlantischen Phantomschmerzes. Mit der Einigung zwischen Trump und Juncker, die angedrohten Zölle gegen europäische Autos zunächst auszusetzen, dafür aber EU-seitig mehr Sojabohnen und Flüssiggas in den USA zu kaufen, hat Trump in der Sache nichts zugestanden, aber zwei wichtige Zugeständnisse erreicht, die sich gegen Russlands Position auf den EU-Märkten und vor allem gegen Chinas zollpolitische Gegenmaßnahmen richten. Damit hat Trump die EU auf seine Seite gezogen und auf der Weltwirtschaftsebene den Dreierkonflikt in den Zweierkonflikt zu seinen Gunsten aufgelöst.
Auf der strategischen Ebene ist das etwas schwieriger. Infolge der westlichen Sanktions- und Druckpolitik der letzten Jahre hat Russland die Zusammenarbeit mit China auf allen Gebieten vertieft. Obwohl wesentliche Teile der postsozialistischen Eliten in Moskau lieber Juniorpartner des Westens als Chinas sein wollten – die „Westler“ in den russischen Eliten spielen seit Peter dem Großen und dem 18. Jahrhundert immer wieder eine mal größere, mal geringere Rolle, gleichsam korrespondierend mit der Russland-Politik in den westlichen Hauptstädten. Die Trump-Regierung ist nun augenscheinlich bestrebt umzusteuern. Verteidigungsminister Mattis hielt auf der Tagung des „Shangri-La Dialogs“ – des jährlichen Treffens von Verteidigungsministern und Militärs aus 28 asiatisch-pazifischen und europäischen Staaten in Singapur – einen Vortrag und beantwortete eine Reihe von Fragen. Darunter die eines Journalisten aus Malaysia nach dem Verhältnis zu Russland. Mattis antwortete, Russland habe „objektiv“ mehr mit Westeuropa und den USA gemeinsam, als mit China.
Am 25. Juli veröffentlichte das Online-Magazin The Daily Beast einen Bericht, wonach Henry Kissinger dem Präsidenten das Projekt unterbreitet hat, im strategischen Dreierverhältnis Russland auf die USA-Seite zu ziehen. Kissinger weiß stets, wovon er redet, kennt alle chinesischen und russischen Präsidenten persönlich. Stellt man in Rechnung, dass es Kissinger war, der in den 1970er Jahren als Sicherheitsberater und Außenminister von Präsident Nixon gute Beziehungen zu China herstellte und damit den außenpolitischen Spielraum der Sowjetunion eingrenzte, wäre ein solches Manöver heute von einer weitreichenden Bedeutung, die nicht zu überschätzen ist.

Nachbemerkung: Diesen Text hatte ich Anfang August der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angeboten, mit der Mitteilung: „da ich bisher eher in Publikationen anderen politischen Zuschnitts geschrieben habe, bin ich hier Neuling. Gleichwohl meine ich, dass wir eine ernsthaftere Debatte in Deutschland zur Außenpolitik bräuchten, als sie gegenwärtig stattfindet. Insbesondere auch über die bisherigen politischen Lager- und Milieugrenzen hinweg. Deshalb mache ich Ihnen das beigefügte Angebot zur Publikation eines Textes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.“ Darauf antwortete namens der Redaktion ein Herr Deckers: „Sehr geehrter Herr Crome […] Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich den Beitrag namens des Ressorts ,Die Gegenwart‘ nicht zum Druck annehmen kann. Mit freundlichen Grüßen […]“
Meine Antwort lautete: „Sehr geehrter Herr Deckers, das tut mir leid. Wenn Sie Redakteur einer Zeitung in der DDR gewesen wären, stünde jetzt in Ihrer Beurteilung: ,Herr Deckers hat einen festen Klassenstandpunkt und erfüllt jeden Parteiauftrag zur vollsten Zufriedenheit‘. Die Gräben in Deutschland bleiben also tief. Hochachtungsvoll […]“ Herr Deckers reagierte verschnupft und entgegnete: „Sehr geehrter Herr Crome, ich bin erstaunt, dass Sie zu wissen vorgeben, warum ich Ihr Angebot nicht annehmen kann. Dass Sie Ihr vermeintliches Wissen noch dazu nutzen, mich zu beleidigen, spricht noch weniger für Sie als Ersteres. Beste Grüße […]“
Ich frage mich: Warum ist es eine Beleidigung festzustellen, dass FAZ-Redakteure einen festen Klassenstandpunkt haben, im Sinne derer, denen die Zeitung und dieses Land gehören? Dazu gehört offenbar auch, eine Debatte um deutsche Außenpolitik in diesen schwierigen Zeiten gerade nicht zu führen.