21. Jahrgang | Nummer 11 | 21. Mai 2018

Linkes Debattieren

von Waldemar Landsberger

Manche Debatten, die Linke derzeit in Deutschland und Europa führen, sind analog jenen, die die verschiedenen Linksliberalen nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten in den USA geführt haben: Hat die Identitätspolitik für die verschiedenen Minderheiten die Identitätsoffensive der konservativen, weißen und rassistischen Kräfte erst angestachelt? Wurde mit all den „politisch korrekten“ Hervorhebungen der Forderungen von Schwarzen, Latinos, LBGT-Menschen und anderen die „Antwort“ in Gestalt von Fake News und grober Hetze rechter Nationalisten herausgefordert? Hier wird diskutiert, ob die Schwäche der Linken den Vormarsch der Rechten und Rechtspopulisten verursacht hat. Und dass auch hier die Linke die Arbeiterklasse aus den Augen verloren hat und stattdessen libertäre Einzelaspekte betont.
Etliche Linke in Deutschland halluzinierten zunächst, der Wahlsieg von Syriza in Griechenland würde eine tiefe Bresche in die Mauern des Neoliberalismus schlagen, doch nur wenig später schimpften dieselben Leute Alexis Tsipras einen Verräter. Die griechischen Linken hatten eine strategische Niederlage erlitten. Sie wurde ihnen durch die Neoliberalen in der EU unter Führung des deutschen Finanzministers Schäuble zugefügt, während in Deutschland niemand imstande war, dieser Politik ernstlich in den Arm zu fallen. Die ganze europäische Linke hat dort eine Niederlage erlitten, sagte ein Diskutant auf dem Marx-Kongress der Rosa-Luxemburg-Stiftung Anfang Mai. Während gemeinhin der Satz von Heiner Müller gilt: „Zehn Deutsche sind dümmer als fünf“, ändert sich das schlagartig, sobald Referenten aus anderen Ländern dabei sind. Sowohl der internationale Zusammenhang als auch der Bezug auf Marx haben den Vorzug, die Diskussionen aus der verhimmelten Welt des Moralisierens auf den Boden der kapitalistischen Tatsachen zu bringen.
Die vielen Veranstaltungen des „Marx 200“-Kongresses bestätigten genau dies. Vish Satgar, Politikprofessor aus Südafrika, betonte einerseits, dass die derzeitige Krise des Kapitalismus systemisch und zeitbedingt sei, andererseits, dass der Kapitalismus über eine große Fähigkeit des Krisenmanagements verfüge: Er habe den revolutionären Nationalismus, den Sozialismus sowjetischen Typs und die Sozialdemokratie zurückgedrängt, die drei großen Projekte des 20. Jahrhunderts. Ergebnis sei der liberale Imperialismus, der meist als Neoliberalismus bezeichnet wird. Heute hätten wir es mit zwei Tendenzen zu tun, einer Faschisierung der westlichen Gesellschaften und der Klimakatastrophe. Beide erforderten ein neues kollektives Handeln. Dabei dürfe die Linke die politische Repräsentationsfähigkeit, auch in Parteiform, nicht aufgeben. Marx habe den Arbeitern zugehört; das müssten wir auch wieder tun.
Radhika Desai, Professorin für internationale politische Ökonomie aus Kanada, ging davon aus, dass der Westen den Aufstieg Chinas nicht vorhergesehen habe und deshalb mit Unverständnis und Aggressivität reagiere, China und Russland destabilisieren wolle. Die Konflikte in der Ukraine, in Venezuela und im Südchinesischen Meer seien Ausdruck dessen. Die Linke im Westen habe jedoch versagt und es nicht vermocht, eine echte Friedensbewegung dagegen zu schaffen. Stattdessen habe sie die Rhetorik von den „Diktaturen“ gegen Russland und China übernommen. Diese „neue“ Linke sei Spiegelbild des Neoliberalismus. Sie lehne den „ökonomischen Determinismus“ ab und blende daher die Zentralität der kapitalistischen Expansion aus, setze stattdessen auf bürgerlichen Moralismus. Sie leugne den Zusammenhang von Kapitalismus und Imperialismus und verkenne so die Mechanismen ungleichen Handels, spreche dem Süden die Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung ab. Die daraus resultierende „kosmopolitische Sichtweise“ sei Ausdruck des Neoliberalismus. Der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung brauche jedoch den Nationalstaat. Die Linke habe dagegen die Materialität der Nation und den Nationalstaat nicht verstanden – und verstehe nicht, dass er Kampfmittel gegen die Globalisierung sein könne. Die westlichen Militäraggressionen dienten dazu, die Privilegien des Westens zu verteidigen. Die Linken im Westen demonstrierten jedoch für die Flüchtlinge und nicht gegen die Kriege des Westens, die die Flüchtlinge „produzieren“.
Auf einem der Podien saß auch Klaus Lederer von der Linkspartei, Berliner Bürgermeister und Senator. Er bestätigte genau dies. Zunächst meinte er, es sei noch die Frage, ob die Arbeiterklasse überhaupt das historische Subjekt sei, um den Kapitalismus zu verändern. Tatsächlich sei sie Teil des Kapitalismus. Die alte Annahme, Antikapitalismus sei per se links, sei schon mit der Naziherrschaft in den 1930er Jahren widerlegt worden. So gäbe es auch heute wieder einen „reaktionären Antikapitalismus“. Ausdruck dessen seien abwertende Bemerkungen über Feminismus, Kämpfe der „Überflüssigen“ und Migranten sowie die Beschwörung des „weißen Arbeiters“ im Namen eines „wahren“ Marx.
Dabei polemisierte er eindeutig gegen Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, ohne jedoch die Namen zu nennen. Wir waren in den Niederungen der deutschen Parteipolitik angekommen – was die Ausländer auf der Konferenz gewiss nicht merkten, für die deutschen Teilnehmer jedoch eindeutig war. Vom 8. bis 10. Juni ist Parteitag in Leipzig. Über den Machtkampf in der Linken hatte Neues Deutschland bereits im Dezember 2017 unter der Überschrift „Sahra und der Aufstand der Easy-Jetter“ geschrieben. Einer davon Lederer. Er hatte im April den anti-russischen Außenminister Heiko Maas von der SPD gegen seinen „Parteifreund“ Diether Dehm in Schutz genommen, weil der Maas einen „gut gestylten NATO-Strichjungen“ genannt hatte. Sowas sagt man nicht!
In seinen verschwurbelten Sätzen, deren Sinn sich nur parteipolitisch Informierten erschließen konnte, murmelte Lederer auch etwas davon, dass Realpolitik – wie er sie mache – wichtiger sei, als in Fernseh-Talkshows aufzutauchen. Wenn man weiß, dass Sarah Wagenknecht 2017 elf Auftritte hatte und damit die Meisteingeladene des Deutschen Fernsehens war, gefolgt von Christian Lindner (FDP), Peter Altmeier (CDU), Thomas Oppermann (SPD), Cem Özdemir (Grüne) und Ursula von der Leyen (CDU) mit je zehn Auftritten, wird das klar. Spielt da irgendwie auch der Neidfaktor eine Rolle? Dabei ist Lederer doch im bürgerlichen Medienbetrieb der „beliebteste Politiker“ Berlins!