von Jörn Schütrumpf
Dass die Deutschen die Lektion, die ihnen die Geschichte angeblich erteilt hat, gelernt hätten, erweist sich immer mehr als Selbstbetrug. Nach zwei bis drei Generationen, das weiß der Historiker ohnehin, ist alles vergessen. Auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555, der einen Ausgleich zwischen Katholizismus und Reformierten brachte, folgte ab 1618 das Massenabschlachten unter religiösen Fähnchen…
Amos Oz hat jüngst darauf hingewiesen, dass die Immunisierung gegen Antisemitismus und Rassismus, die das Bekanntwerden der Verbrechen in Auschwitz und anderswo bewirkte, sich erschöpft – und zwar überall. Rassismus wird wieder salonfähig; er kommt, im Moment noch zumindest, ganz ohne Antisemitismus aus – in Deutschland mit einer Besonderheit: Hier findet geradezu eine „Substitution“ statt: An die Stelle der Juden treten die – nicht zuletzt vor den Folgen amerikanischer und europäischer Politik – Flüchtenden. Statt „jüdischer Weltverschwörung gegen den deutschen Volkskörper“ „Masseneinwanderung“ – die Melodie ist dieselbe.
Anders als in Frankreich oder den Niederlanden liegt in Deutschland die Sache zudem doppelt kompliziert, weil: Hier wurde die Republik nicht erkämpft, und zwar gleich zweimal nicht erkämpft – letzten Endes sogar dreimal:
Der November 1918 gebar eine „Niederlagen-Demokratie ohne Mark und Blut“ – so schon im Oktober 1918 der heute nicht zu Unrecht weitgehend vergessene Alexander Parvus. Parlamentarisierung, Republikanisierung und Demokratisierung wurden nicht „von unten“ erkämpft, sondern von den bis dahin dominierenden feudalen und großbourgeoisen „Eliten“ vorauseilend gewährt; sie wollten so aus der Gesellschaft den Druck nehmen. Mit dem Rückzug der feudalen „Eliten“ aus den Spitzenpositionen im Reich und in den Territorialstaaten endete zugleich der weitgehend unausgesprochene Klassenkompromiss von 1871 zwischen feudalen „Eliten“, repräsentiert durch Bismarck (später durch Wilhelm II.), und einer obrigkeitsstaatlich geprägten, über das Dreiklassenwahlrecht an der Herrschaft privilegiert beteiligten großbourgeoisen „Elite“.
Mit der Republikanisierung entzogen sich die Täter, die mit ihrer Kriegspolitik nicht nur Leichenberge produziert, sondern – zugunsten einer kleinen „Elite“ – auch große Teile der Gesellschaft in zuvor unvorstellbare Armut gestoßen hatten, zugleich ihrer Verantwortung für die Niederlage im Krieg und deren Folgen. Heraus kam eine „Republik ohne Republikaner“ (Kurt Tucholsky) – mit dem Ergebnis: Als nach dem Kaiserreich auch die Republik durch die Politik der großbourgeoisen „Elite“ ins schweres Wasser geriet, wurden die Juden als Sündenbock ausgerufen. Der Rest ist bekannt.
Die Republik im Westen ab 1949 war der Preis, den die Deutschen für eine – komfortable – Wiedereingliederung in den Weltmarkt zu zahlen hatten – während den Ostdeutschen die dauerhafte Nicht-Wiedereingliederung in den Weltmarkt verschrieben wurde, was sich als nicht ganz so komfortabel erwies. Basis dieser Republik im Westen war ihre soziale Absicherung, der wirtschaftliche Aufstieg machte den Verzicht auf Herrenmenschentum erträglich. Die Duldung dieser Republik wich erst zwanzig Jahre später einer Akzeptanz, die sich allerdings erst nach einer öffentlich inszenierten Ablehnung der oktroyierten Demokratie durch die Studentenbewegung einstellte. Nach Alexander Dobrindt, dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag, dominiert seitdem „in vielen Debatten eine linke Meinungsvorherrschaft eine dieses Schauspiel ertragende bürgerliche Mehrheit […] Fünfzig Jahre nach 1968 wird es Zeit für eine bürgerlich konservative Wende in Deutschland.“ Dafür stehen die Chancen nicht schlecht, waren es doch die 68er an der Macht – unter rot-grünem Label –, die die Axt an die Wurzel der sozialen Absicherung dieser Demokratie legten. Womit wir wieder bei den Juden und den Flüchtenden wären.
Und ein drittes Mal wurde die Republik verschenkt: 1989/90 an die Ostdeutschen, als sie sich gerade anschickten, ihre staatlichen Angelegenheiten selbst zu regeln – doch dann der schnellen Mark erlagen, mit der sie sich abermals ein oktroyiertes System ins Haus holten. Auch hier eine „Republik ohne Republikaner“. Das Einzige, über das sich lächeln ließe, ist die – keineswegs gespielte – Überraschung in Politik und Medien, dass im Osten Deutschlands nur wenige Wehrbauern zur Verteidigung dieser Republik anzutreffen sind.
Lebten nach 1918 und besonders nach der Inflation von 1923 viele Deutsche in der „schönen guten alten Zeit unter dem Kaiser“ vor dem Ersten Weltkrieg weiter, so suchten nach der totalen Niederlage von 1945 die meisten Deutschen ihr neues Heil darin, aus ihrer (zweifellos unterschiedlich verteilten) Schuld auszusteigen, indem sie aus der mit dieser Schuld kontaminierten deutschen Geschichte ausstiegen. Offiziell wurde das gern als „Stunde Null“ propagiert – dadurch aber höchstens verstärkt und nicht verursacht.
Im vergangenen November sah ich in London, zugegeben vor allem ältere Herren, die völlig selbstverständlich am Revers den „Poppy“ trugen, mit dem am zweiten Novembersonntag an die Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wird: eine Papiermohnblume als Symbol für erkämpfte Freiheit und Demokratie. Auch die Franzosen können sich gar nicht anders verstehen, als in den Strom der französischen Geschichte eingebettet. Und wenn Polen von Polen reden, beginnt „ihr Polen“ spätestens 1772: mit der ersten Teilung.
Wenn hingegen Deutsche von Deutschland reden, meinen sie zumeist das heutige. Diese Deutschen sind geschichtslose Wesen: ohne das Wissen um ihre Geschichte und damit ohne Idee für das Kommende. Zukunft ist das Heute, im Westen lieber noch das Gestern von vor dem 9. November 1989.
Keine Lektion wurde gelernt, stattdessen wurde abgetaucht. Das Ergebnis ist absehbar: Wer seine Geschichte jahrzehntelang ausschlägt, erkennt sie nicht, wenn sie ihm wiederbegegnet.
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