21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

Bemerkungen

An mich

Wenn dir ein Schaden am Leibe frißt,
Jammre nicht, sondern handle;
Und wenn du glücklich gewesen bist,
Nimm dein Bett und wandle.

Ärgert dein Aug dich, so reiß es aus,
Sonst ärgert es dich an beiden;
Und keift dir ein schlimmes Weib zu Haus,
So geh und lasse dich scheiden.

Und wird dir das Beten und Fasten zu dumm,
Richte, schlichte, verzichte;
Und haranguiere das Publikum
Nicht erst durch Weltschmerzgedichte.

Frank Wedekind (1864–1918)

Klaus, Eddi und Egonek

„De mortuis nil nisi bene.“ Der Rat des Chilon von Sparta wird gemeinhin verstanden als „über Tote nur Gutes“. Die korrekte Übersetzung, lese ich, müsse allerdings lauten: „von den Toten nichts außer auf gute Weise“. „Auf gute Weise“ könnte man demnach auch die weniger lichten Seiten der Biografie eines Verstorbenen behandeln. Aber was ist gut und was ist böse?
Zwei Texte in Ossietzky lassen mich danach fragen. Kein Jahr ist vergangen, da schrieb Klaus Haupt einen kurzen, aber warmherzigen Nachruf auf Edmund Schulz („Eddi und Upton“). Schulz war, wie Haupt schrieb, „im deutschsprachigen Raum der absolute Sinclair-Experte […] Er hat eine immense Arbeit geleistet, um das gesamte in Deutschland vorliegende Werk zu erschließen.“ Ich gestehe, dass sein Nachruf, hier nur im Fragment zitiert, mich stärker berührte als es Dr. Edmund Schulz in seinen Seminaren an der Sektion Journalistik der Leipziger Karl-Marx-Universität Anfang der 70er Jahre vermocht hatte.
Haupt und Schulz waren spät Freunde geworden, ins Gespräch gekommen über einen Beitrag zu Egon Erwin Kisch in Ossietzky. Denn Haupt war Kisch-Experte. „Immer, wenn Eddi irgendwo etwas über Kisch entdeckt hatte, rief er mich an“, schrieb er.
Nun, da Klaus Haupt 87-jährig seinem Freund gefolgt ist, sah sich Ossietzky verpflichtet, auch ihm einen Nachruf zu widmen. Doch offenbar wusste man zu wenig über den eigenen Autor. Nach einem längeren Exkurs in die Berliner Bevölkerungsstatistik erfährt der Leser, wo Haupt einst sein Volontariat absolvierte, dass er nach dem Journalistik-Studium für „verschiedene Zeitungen“ geschrieben habe und Auslandskorrespondent in Prag und London gewesen sei. Auch seine Kisch-Expertise wird gewürdigt. Tatsächlich schrieb Haupt immer wieder über den rasenden Reporter. Verwandte, Kollegen, Weggefährten „Egoneks“ hatte er schon in seinen Prager Jahren aufgespürt. In den 1980ern begab er sich (gemeinsam mit Harald Wessel) auf die Spuren seines Helden und veröffentlichte den Reportage-Band „Kisch war hier“. In der Reihe „Jüdische Miniaturen“ des Verlags Hentrich & Hentrich erschien noch 2008 „Egon Erwin Kisch. Der rasende Reporter aus dem Prager ,Haus zu den goldenen Bären‘“. Autor: Klaus Haupt.
Was der Ossietzky-Leser nicht erfährt: In etlichen Protestschreiben aus der DDR an die bundesdeutsche Justiz wurde einst „Freiheit für Klaus Haupt“ gefordert. Denn der junge Journalist war im Mai 1956 im Saal des Dortmunder Landgerichts verhaftet worden. Für die Junge Welt hatte er über den Prozess gegen Gerd Deumlich berichten wollen. Deumlich war Redakteur der westdeutschen FDJ-Zeitung junges deutschland, die FDJ aber war in der Bundesrepublik verboten worden. Sieben Wochen verbrachte Haupt in einer Einzelzelle des Untersuchungsgefängnisses. Eine Haftbeschwerde wurde zunächst „wg. Staatsgefährdung“ abgelehnt. „Es war halt kalter Krieg“, schrieb Haupt später lakonisch.
Den Großteil seines Journalistenlebens verbrachte er indes beim Neuen Deutschland – als Auslandskorrespondent wie zuletzt als Verwalter der Beziehungen zu den damaligen „Bruderorganen“. Auch nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion blieb er dem Blatt – inzwischen klein geschrieben – verbunden. Bei seinen kurzen Besuchen in der Redaktion, meist hatte er Literaturrezensionen verfasst, vergaß Klaus nie, auch im Auslandsressort vorbeizuschauen und mit unverkennbarer Berliner Schnauze Erfolg zu wünschen.
Gehört solches heutigentags zum „Bösen“, das besser unerwähnt bleibt, wenn man einem Menschen Gutes nachsagen will? Es gehörte jedenfalls zu Haupts Leben und hat es geprägt. Freilich, auch das neue deutschland selbst beschränkte sich anlässlich seines Todes auf die übliche dürre Traueranzeige. Wer weiß im neuen nd schon noch etwas über „die Alten“?

Detlef D. Pries

Film ab – Die Demminer Katastrophe

Die im „Dritten Reich“ vielfach geschürte Angst vor der „Rache der Russen“ führte bei Kriegsende zu vielfachen Selbstmorden. Nirgends jedoch war es so katastrophal wie im vorpommerschen Demmin. Beim Anrücken der Roten Armee nahmen sich hunderte (Schätzungen schließen auch 1000 nicht aus) Einwohner das Leben mit Gift, erschossen sich, und es gingen ganze Familien mit Steinen beschwert ins Wasser. Das Andenken an diesen beispiellosen, panischen Massensuizid wurde in der DDR zwar nicht hochgehalten, doch kam gelegentlich in Dokumentationen die Rede darauf. Inzwischen ist das anders. Die damaligen Geschehnisse werden von rechten Gruppen für Gedenkmärsche an jedem 8. Mai instrumentalisiert.
Zu dieser Gemengelage hat Martin Farkas die aufschlussreiche Filmdokumentation „Über Leben in Demmin“ gedreht. Er hat Zeugen der damaligen Ereignisse, die damals Kinder waren, zum Reden gebracht. Ob in Demmin damals viele stramme Nationalsozialisten lebten, wissen die nicht mehr. Dafür gibt es sie heute. Und natürlich werden sie von Neo-Nazi-Touristen aus weiten Teilen der Republik unterstützt. Der Regisseur, der drei Jahre lang immer wieder zu Gesprächen nach Demmin fuhr, spricht auch mit ihnen. Doch viele Demminer stehen der Nazi-Propaganda von heute allzu neutral gegenüber. Wenn man sich in der Wohnung versteckt, dann kann nichts geschehen, meinen sie. Ob der Film dieses „Kopf-in-den-Sand-stecken“ ändern kann? Man kann nur hoffen.

Über Leben in Demmin, Regie Martin Farkas, Verleih: Edition Salzgeber, seit 22.3. in ausgewählten Kinos, aktuell im Berliner Krokodil, Greifenhagener Straße.

bebe

Kriegerische Kälte

Nach den ersten Hoffnungsstrahlen auf einen baldig ausbrechenden Frühling blieb den Meteorologen nichts anderes übrig, als die zwischenzeitliche Rückkehr von Kälte zu annoncieren. Dagegen ist so was von gar nichts zu sagen, dass ein solcher Pillepalle-Vorgang auch keinen Eingang ins Blättchen finden müsste. Indes ist es die – nicht unisono , aber doch beachtlich kollektiv benutzte – Sprache, in der von den einschlägigen Medien dieses Wetteravis verbreitet worden ist, die Aufmerksamkeit verdient. Die Rede ist nämlich von der „Rückkehr der Russenpeitsche“, die nun wieder zuschlage. (Aus Platzmangel, dies hier zu belegen sollte sich, wer mag, dies googeln oder aber einen Blick auf eine kleine Sammlung werfen, die die Nachdenkseiten verbreitet haben.)
Wiewohl nirgends als tradierter Begriff registriert und nicht einmal in Zeiten des Kalten Krieges – also nicht dem derzeitigen, sondern dem vorausgegangenen – benutzt, wird er jetzt so großflächig benutzt, dass wirklich ein beträchtlicher Schelm sein muss, der Arges dabei denkt. Wobei wichtig ist: Schelm verstand sich im Ursprung dieses Begriffes als „Todbringer“, mindestens aber „Schuft“ und keineswegs als der possierliche Spaßmacher von heute.
Da Kaltluft des Winters meist aus dem festländischen Osten kommt, war der Begriff der „sibirischen Kälte“ bislang ideologiefrei rundum gebräuchlich, ähnlich wie bei der „arktischen Kälte“ aus dem Norden. Nun aber schlägt uns „die Russenpeitsche“, und das teilt keineswegs nur die Boulevardpresse händereibend so mit. Dem Blättchen, glaube ich, ist nicht der Vorwurf zu machen, irgendeiner „political correctness“ nach zu hecheln, sich also an alternativen Begriffen für dies und jenes fundamentalistisch zu reiben wie es etwa in der Gender-Szene so betrüblich üblich ist. Und auch alte Ostlinke, die  dereinst bestenfalls verschämt räuspernd und auch nur im kleinen Kreis von den „Freunden“ als den „Russen“ gesprochen haben, selbst wenn die Russen ja einst wirklich das Gros der sowjetischen Bevölkerung stellten, haben keine Probleme mehr, die in Russland lebenden Menschen als Russen zu bezeichnen. Doch darauf hebt eine Sprache wie die im Begriff der „Russenpeitsche“ enthaltene ja nicht ab. Diese Wortschöpfung knüpft vor allem an die alte, instinktive und in der gesamten Nachkriegszeit in der Bundesrepublik obwaltende nationalistische  Herablassung und Denunzierung gegenüber einem Staat an, der lange Jahre Gegner in der Systemauseinandersetzung war und dies auch bleiben soll. Dass Putins Russland daran nicht völlig unschuldig sind, sei hier nur angemerkt, eine Kältepeitsche gehört indes nicht zu seinem geopolitischen Repertoire.
„You furnish the pictures. I’ll furnish the war.“, hat Medien-Tycoon William Hearst seinen kubanischen Korrespondenten Remington aufgefordert. Gewiss, Hearst selbst hat diesen zwischen den USA und Spanien dann ja auch ausgelösten Krieg nicht selbst geführt – den öffentlichen Nährboden dafür hat er allerdings maßgeblich bereitet. Ein Kalkül, dass einschlägige Wetterberichterstatter, die medialen wohlgemerkt, ganz sicher empört von sich weisen: „W i i i r doch nicht!“

Helge Jürgs

Bad Wilsnacker Gegenreformation

Für ein gutes Sümmchen verkauft man auch die Haut der Ahnen. Trefflich studieren lässt sich das derzeit in Bad Wilsnack. Das Städtchen erlebte im späten Mittelalter einen Aufschwung aus tourismuswirtschaftlichen Gründen. 1383 tauchten dort wundersamer Weise drei blutbefleckte Hostien im Schutt einer abgebrannten Kirche auf. Nach kurzem theologischen Streit inszenierte der Havelberger Bischof eine „Wunderblut-Wallfahrt“. Ende des Jahrhunderts wurde die passende Hülle hochgeziegelt. In Wilsnack sprang das Geld nicht in den Kasten, wie beim Dominikaner Tetzel. Es sprudelte förmlich hinein. Die heute noch zu besichtigende Geldkiste in der Sakristei hat beeindruckende Ausmaße. Auch die Kirche selbst sieht aus wie ein gigantischer Geldkasten. Bis zu einhunderttausend Pilger jährlich waren damals ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges.
Kein Wunder, dass die Wunderblut-Profiteure die Einführung der Reformation – in Brandenburg Ende 1539 – blockierten, wo immer es nur ging. In Wilsnack musste sich der evangelische Prediger Joachim Ellefeld die Kirche mit dem katholischen Dekan Petrus Conradi teilen. Sonntags las zunächst der Katholik die Messe, dann erst durfte Ellefeld. Nicht nur dass Conradi das Gotteshaus gehörig zunebelte – am Ende der Ellefeldsche Predigt tauchte er immer wieder aus der Sakristei auf, hielt die Wunderbluthostien in die Höhe und begann eine Litanei gegen den Lutherschen Irrglauben. „Darüber denn das arme blinde Volk allemal wieder irre gemacht wurde, und immer wieder zu glauben anfing, es mögte doch wohl der Herr Christus sein, was da in dem Kristall stecke“, berichtete ein Chronist. Ellefeld war klar, die Hostien müssen weg. Hostienfrevel war aber keine leichte Sache. Erst 1510 war das Delikt der Hostienschändung zum Vorwand genommen worden, um in Berlin 41 brandenburgische Juden ermorden zu können. Joachim Ellefeld beriet sich mit dem Berliner Superintenden Johann Agricola. Der riet ihm, die Hostien stillschweigend verschwinden zu lassen. Das würde dem Spuk ein Ende bereiten. Ganz so stillschweigend ging es dann doch nicht ab. Am 28. Mai 1552 verbrannte Ellefeld die Hostien – und wurde prompt auf der Plattenburg festgesetzt. Der Dompropst von Havelberg wollte ihn auf den Scheiterhaufen befördern. Nach einigem Zögern setzte sich Kurfürst Joachim II. für die Freilassung des Predigers ein, verwies ihn allerdings des Kurfürstentums. Joachim Ellefeld starb verbittert im lüneburgischen Schnackenburg. Die Wunderblut-Wallfahrten fanden für die nächsten 500 Jahre ein Ende. Wilsnack versank in der Bedeutungslosigkeit.
Vorläufig jedenfalls. Um das Jahr 2000 herum wurden Pilgerreisen nach Bad Wilsnack Mode. Die Tourismus-Werber und emsige Lokalhistoriker entdeckten den „Pilgerweg“ wieder. Den damit verbundenen logistischen Schwachsinn, dass sich die Wunderblut-Fans allesamt von der Berliner Marienkirche aus auf den Weg gemacht hätten, hinterfragt niemand. Die Kirche selbst wird derzeit mit einem Aufwand in Höhe von 4,2 Millionen Euro auf Vordermann gebracht. Die blutenden Oblaten sind durch die Untat Ellefelds leider weg. Aber auf dem Kirchendach wurden drei Dachsteine angebracht, die das Symbol der drei Hostien zeigen. Dabei soll es nicht bleiben. Bad Wilsnack setzt voll auf die Pilgerei. Die Berliner Zeitung zitierte dieser Tage den Bürgermeister des Städtchens: „Das wird den Tourismus richtig ankurbeln.“ Joachim Ellefeld und sein spiritus rector Martin Luther haben zumindest hier nach 500 Jahren das Rennen verloren. Die Sieger der Geschichte heißen in Bad Wilsnack Sankt Mammonius, Petrus Conradi und Johannes Tetzel. Das wirft die Frage auf, ob Ellefeld die Hostien wirklich zerstört hat. Ich bin mir sicher, die tauchen wieder auf.

Alfred Askanius

Man trifft sich immer zweimal im Leben…

So behauptet es jedenfalls eine Redensart.
Das trifft scheinbar auch auf revolutionäre Klassiker zu. Vor geraumer Zeit hatte ich die bemerkenswerte Karl-Marx-Biografie von Jürgen Neffe (samt Hörbuch) rezensiert. Kaum war mein Text veröffentlicht, flatterten weitere Marx-Neuerscheinungen in unseren Briefkasten. Ein untrügliches Zeichen: zahlreiche Verlage hatten den 200. Geburtstag des revolutionären Denkers mit dem Rauschebart entdeckt. Drehte sich 2017 alles um Luther, ist 2018 plötzlich zum großen Karl-Marx-Jahr geworden – ein Comeback natürlich mit weitaus bescheidenerem Ausmaß.
Hatten mich die Pressemitarbeiter in den Verlagstuben nach meiner Rezension etwa für einen Marx-Experten gehalten? Oder hatten sie nur die Ankurbelung ihrer Verkaufszahlen im Sinn? Auch konnte ich nicht glauben, dass sie etwas von meinem ersten „Marx-Rendezvous“ vor fünfzig Jahren wussten.
Damals – 1968 – stand der 150. Geburtstag des „größten Sohnes der werktätigen Massen“ auf der DDR-Tagesordnung. Als Physikstudent im vierten Studienjahr interessierte das aber nur insofern, dass im Sommer das Staatsexamen in den Gesellschaftswissenschaften (kurz Gewi) anstand. Nachdem wir vier Jahre lang mit Vorlesungen und Seminaren über Geschichte der Arbeiterbewegung, Marxistisch-leninistische Philosophie, Politische Ökonomie und Wissenschaftlicher Sozialismus (ich glaube in dieser Reihenfolge) gesellschaftspolitisch auf Vordermann gebracht wurden, nun die mündliche Abschlussprüfung über alle vier „Grundlagenfächer“. Dank dem Marx-Jubiläum konnten wir uns aber auch für eine Belegarbeit entscheiden. Aus den vorgegebenen Themen suchte ich mir „Die Wissenschaft als Produktivkraft“ aus. Das schien wenig verfänglich und hatte doch etwas mit Naturwissenschaften und Technik zu tun. Außerdem konnte man mit der schriftlichen Ausarbeitung heiklen Prüfungsfragen zur aktuellen politischen Lage aus dem Wege gehen. Oder sollte ich dem Professor erzählen, dass ich mit meiner Verlobten gerade in Prag war, dort den Beatles-Film „Help!“ gesehen hatte und anschließend im Biergarten des U Fleků bei Bier und Knoblauchbroten mit jungen Leuten aus Jugoslawien und den Niederlanden zusammensaß.
Marx hätte wahrscheinlich verständnisvoll gelächelt, doch dem Professor wäre sicher der Kamm geschwollen – spätestens jedoch, wenn ich ihm gestanden hätte, dass wir spontan an einer Studentendemonstration teilgenommen hatten und dabei mit „Dubček“- und „Ho-Chi-Minh“-Rufen über den Wenzelsplatz gezogen waren. Nein, das hätte wahrscheinlich das Aus des Studiums bedeutet. Aber dank Marx und „wissenschaftlicher Produktivkraft“ wurde es zu einem guten Ende gebracht.
(Übrigens die Belegarbeit und ein Großteil meiner damaligen Lehrbücher (auch der gesellschaftswissenschaftlichen) fielen nicht der leider üblichen Nach-Wende-Entsorgung zum Opfer, sondern haben immer noch ihren Platz in meinem Bücherschrank.)
Nach fünfzig Jahren also wieder Karl Marx. In diesem halben Jahrhundert (aber auch schon davor) wurden er und sein Werk, das sicher nicht frei von Irrtümern und Fehleinschätzungen war, häufig genug verbogen. Nun ist er plötzlich aktueller denn je und wird mitunter sogar zum wichtigsten Denker aller Zeiten hochstilisiert. Doch der „revolutionäre Querkopf“, der mit seinen Werken die Welt verändern wollte oder hat, wird auch diesen Medienhype überstehen.

Manfred Orlick

Dudenkritik, kurzer Abriss

Dank deren militantem Genderflügel wagt man sich ja als Sympathisant der um echte Emanzipation ringenden Frauen (keine Ironie, sondern Sympathie!!! – d. A.) kaum noch, einen Duden oder ein Lexikon aufzuschlagen. Es wimmelt darin nur so von Begrifflichkeiten, die ausschließlich auf dem Boden, ach was: Mist des tradierten Patriarchats gewachsen sind und nun schon seit Jahrhunderten als dessen diskriminierende narrative Stütze fungieren. Aus den beschämenden hunderten Beispielen willkürlich ausgewählt, mögen die folgenden als Illustrierung eines dringlichen Veränderungsbedarfs dienen, Reformangebote inklusive:

Ackermann – Ackerfrau
Butzemann – Butzefrau
Flügelmann – Flügelfrau
Froschmann – Froschfrau
Gottesmann – Gottesfrau
Kriegsmann – Kriegsfrau
Medizinmann – Medizinfrau
Müllmann – Müllfrau
Weihnachtsmann – Weihnachtsfrau
Vordermann – Vorderfrau
Klapsmann – Klapsfrau
Saubermann – Sauberfrau
Doofmann – Dooffrau (ach ne, besser nicht)
Lebemann – Lebefrau
Buhmann – Buhfrau
Biedermann – Biederfrau
Flachmann – Flachfrau
Dobermann – Doberfrau
Hampelmann – Hampelfrau
Buschmann – Buschfrau
Mannsweib – Frauweib
Zweimannzelt – Zweifrauenzelt
Manneskraft – Frauenkraft

Auch allerlei fiese Redewendungen wären zu ändern, z.B:

Alle Mann an Deck! – Alle Frauen an Deck!
Hundert Mann und ein Befehl – Hundert Frauen und ein Befehl
Das Kind im Manne – Das Kind in der Frau
Mit Mann und Maus untergehen – Mit Frau und Maus untergehen

Natürlich ist dies nur ein Vorschlag, dessen Unvollkommenheit sich der männliche Autor dieses wachrüttelnsollenden Appells deprimiert bewusst ist. Aber ein Anfang muss her, und – wie man bei diesem hier leicht erkennen kann: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne! Oder eine Zauberin.

Hans Jahn

Wirsing

Anlässlich des Erwerbs von Bertolt Brechts Totenmaske schrieb die Augsburger Allgemeine über den Sohn der Fuggerstadt, der in der damaligen DDR-Hauptstadt 1956 starb. „Viele Menschen bringen Bertolt Brecht insbesondere mit Berlin in Verbindung, wo der berühmte Dramaturg bis zu seinem Tode wirkte.“ Nun wissen wir endlich, wer dieser Brecht eigentlich war: ein berühmter Dramaturg. Er hat an Tragöden herumgedacht, manchmal auch an Kommoden, und war dabei so gut, dass er ganz ohne Dramatiker auskam.

*

Der internationale TV-Sender euronews informierte über schwere Überschwemmungen in Kroatien und stellte fest: „Berichte von Toten oder Verletzten gab es bisher nicht“.
Kohl-Sammler Lothar Kusche schrieb einmal: „Für seine Schmerzen entschädigt den Kranken weitgehend die Möglichkeit, von seiner Krankheit zu erzählen.“ Insofern kann es für die Genesung Verletzter günstig sein, wenn sie über das Erlebte berichten, aber von Toten sollte man das nun wirklich nicht erwarten!

Fabian Ärmel

Aus anderen Quellen

In Dresden hat unlängst ein Streitgespräch zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein stattgefunden. Gehen sollte es um die Meinungsfreiheit, es ging jedoch überwiegend um Zuwanderer und nach Deutschland gekommene und kommende Flüchtlinge. Dabei äußerte sich der Bestseller-Autor Tellkamp in einer Art und Weise, dass die vom Berichterstatter Stefan Berg gewählte Überschrift „Wie kann ein Mensch so unerbittlich sein“ von ausgesprochen vornehmer Zurückhaltung zeugt.
Stefan Berg: Wie kann ein Mensch so unerbittlich sein,
Spiegel Online, 16.03.2018. Zum Volltext hier klicken.
Zum vollen Wortlaut des Gespräches hier klicken.

*

„Der Afghanistankrieg ist verloren“, schreibt Michael Schmidt unmissverständlich und fährt fort: „Die Mission gescheitert. Eine Fortsetzung sinnlos. Mit militärischen Mitteln ist am Hindukusch nichts mehr zu gewinnen. Nicht mit den immer schon unzureichenden, und schon gar nicht mit den gegenwärtig grotesk unangemessenen Mitteln. Aktuell sind 12.000 ausländische Soldaten in Afghanistan. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen erwägt eine Aufstockung des Bundeswehrkontingents von 1000 auf 1400 Soldaten. Zur Erinnerung: 2012 waren 50 Länder mit 130.000 Soldaten an der Isaf-Mission beteiligt. Was hat es gebracht? Heute, sechs Jahre später, ist das Land weitgehend unter Kontrolle der islamistischen Taliban. Welchen Unterschied glaubt man im Bendlerblock in dieser Situation mit 400 Soldaten mehr im Land machen zu können.“
Michael Schmidt: Die Bundeswehr muss raus aus Afghanistan – sofort!, tagesspiegel.de, 07.03.2018. Zum Volltext hier klicken.

Der jüngste Sicherheitsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan hat Schmidts Einschätzungen praktisch nichts entgegenzusetzen, wie ein Bericht von Sandra Petersmann auf Deutsche Welle zeigt.
Sandra Petersmann: Bundesregierung: düsteres Afghanistan-Bild, dw.com, 06.03.2018. Zum Volltext hier klicken.

*

„Seit zwei Jahren“, berichtet Jack Fereday, „baut Vanita Balbhim in Chivuri Biogemüse und Biofrüchte an. Sie hat das Jahreseinkommen ihrer Familie in Höhe von 780 Euro um mehr als 1000 Euro erhöht. Die Balbhims konnten ihr Haus neu decken und erstmals einen Kühlschrank anschaffen. Aber vor allem kann Vanita jetzt auch die Ausbildung ihrer vier Töchter finanzieren.
Jack Fereday: Shailas Ernte. Indiens Bäuerinnen kämpfen für mehr Selbstbestimmung und eine nachhaltige Landwirtschaft, Le Monde diplomatique, 08.03.2018. Zum Volltext hier klicken.

*

Im Teaser zu „Sergej Prokofjew“ von Boris Belge heißt es: Der Komponist „starb am 5. März 1953, am gleichen Tag wie Josef Stalin. Angesichts der staatlich verordneten und von vielen sowjetischen Bürgern emotional durchlittenen Trauer um den verstorbenen „großen Führer“ erschien der Tod des Komponisten wie eine marginale Fußnote der Geschichte. Angeblich konnten nicht einmal mehr Blumen für sein Begräbnis aufgetrieben werden. Der gemeinsame Todestag mit seinem Peiniger erwies sich als letzte zynische Wendung von Prokofjews Lebensweg, der von Anziehung und Abstoßung, von Distanz und Nähe zum Sowjetstaat geprägt war.“
Boris Belge: Sergej Prokofjew, dekoder, ohne Datum. Zum Volltext hier klicken.

*

Wenn es am Finanzmarkt kriselt, wenn sich Blasen bilden oder diese gar crashen, dann kann man darauf warten, dass Experten und Medien wieder in die Mottenkiste greifen und den angeblich ersten Vorfall dieser Art in der Wirtschaftsgeschichte einmal mehr ans Licht holen – die „Tulpenmanie“ im 17. Jahrhunderts. „Immer wieder“, resümiert Martin Hock „wird berichtet, dass Spekulationen mit Tulpenzwiebeln, sozusagen mit Terminkontrakten auf Tulpen, damals Anlegern so immense Verluste eingebrockt hätten, dass es zu zahllosen Bankrotten und Selbstmorden und einer gewaltigen Rezession gekommen sei. Am Ende habe die Regierung eingreifen und den Tulpenhandel verbieten müssen.“ Doch bereits vor zehn Jahren hatte die britische Historikerin Anne Goldgar diese Geschichte als Fake News geoutet …
Martin Hock: Die Tulpenblase, die keine war, faz.net, 21.02.2018. Annotiert im Blättchen 04/2017. Zum Volltext hier klicken.