21. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein Nähkästchen der Komischen Oper und ein Geburtstagsgeschenk für Böll …

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„Unter Musiktheater verstand man nicht etwa Theater mit Musik, sondern schlicht die theoriegestützte Spielweise der Komischen Oper. Wohingegen ich das Wort ‚Realismus‘ weder von Felsenstein noch von seinen Mitarbeitern je gehört habe“, erinnerte sich Joachim Herz (1924–2010) an seine Lehrzeit beim Intendanten und Chefregisseur dieser Institution, Walter Felsenstein (Jahrgang 1901), dem er nach dessen Tod 1975 im Amt nachfolgte.
Herz schrieb seine Erinnerung für ein Büchlein, das die Musikwissenschaftlerin Ilse Kobán anno 1997 herausbrachte zur Halbjahrhundertfeier des Bestehens der Komischen Oper Berlin. Kobán war die erste, noch von Felsenstein persönlich berufene Leiterin des in der Akademie der Künste der DDR gegründeten Felsenstein-Archivs, dem sie bis zu ihrer Pensionierung Mitte der 90er Jahre vorstand.
Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der „Komischen“ Ende Dezember 2017 hab ich das zauberhaft illustrierte anekdotische Druckwerk wieder hervorgeholt. Es ist eine so informative wie amüsante, auch delikate Fundgrube – ein Nähkästchen zum Kramen. Unter dem Schlachtruf „Routine zerstört das Stück“ wird in Dokumenten und Erinnerungen von Mitarbeitern der tagtägliche nervenzerfetzende Groß- und Kleinkampf gegen Anarchie und Lethargie auf und hinter der Bühne aufregend lebendig.
Da erklärt Herz beispielsweise das Felsensteinsche Arbeitsprinzip: „Pausenlos sollte die Person auf der Bühne Stellung beziehen. Sollte erfüllt sein von etwas, etwas wollen, etwas meinen: Sofern er zu singen hatte, sollte er der Musik voraus diese gleichsam aus sich heraus neu gebären – selbstredend in minutiösem Einklang mit Partitur und Dirigent. Musik und Text aufsagen war verboten. Ein Wort wie intensiv war ein schwerer Tadel und stand für ehrgeizig aufgebläht ohne Inhalt; Dampf für seine verpönte Steigerung. Opernbranche, Vokalidiot bereicherten den Wortschatz der Verteufelungen. Und zu Beginn jeder Spielzeit kam die Regeneration des gesamten Repertoires in einem strapaziösen Parforce-Lauf. Denn ehernes Gesetz war: Jede Vorstellung eine Premiere.“
Barrie Kosky, jetzt Chef des Hauses, nennt die „theoriegestützte Spielweise“ Vision; Felsenstein sei der einzige, der mit einer Vision ein Opernhaus gegründet habe, sie gehöre zu dessen DNA. Deshalb stünden die opulenten Feierlichkeiten zum Gründungsjubiläum unter dem Motto „70 Jahre Zukunft Musiktheater“.
Die Komische Oper wurde am 23. Dezember 1947 mit der „Fledermaus“ als drittes Opernhaus im Nachkriegs-Berlin eröffnet – auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration. In der Lizenz freilich steht „Städtisches Operettentheater“; der Auslöser eines beständigen Kampfes um die materielle Ausstattung – in Konkurrenz (so bis heute) zur benachbarten Staatsoper. Erst nach 1961 kam der ersehnte Status „Staatstheater“. Inzwischen verstand man sich ohnehin quasi als „exterritorial“, sagt Herz. Konnte selbst nach dem Mauerbau sämtliche Mitarbeiter aus dem Westen halten. „Überhaupt stand dank Felsenstein in der ganzen DDR Oper unter so etwas wie Naturschutz.“
Ist heutzutage bisschen anders; nach der Wiedervereinigung stand die Komische Oper zur Disposition. Demnächst, spätestens ab 2022, muss das Haus saniert werden, dafür hat die Politik das Schiller-Theater als Ausweichquartier vorgesehen. Doch Barrie Kosky will nicht dorthin. Er will „ins Exil in die Stadt“, um an den unterschiedlichsten Orten jeweils dafür passende Inszenierungen herauszubringen; ein Aufwand, der teurer wird als ein jahrelanges Ausweich-Domizil im Schiller-Theater, das nach Koskys Meinung höchstens geeignet sei für eine Wintersaison Musical-Betrieb. Will die Stadt den Mehraufwand des „Exils“ nicht tragen, müsse sie für die Zeit nach 2022 einen neuen Intendanten suchen. „Wenn ich soll bleiben, dann give money“, so der aus Australien stammende Star-Intendant, um den sich (wie einst um Felsenstein) alle Welt reißt.
Interessant übrigens, wie die DDR-Führung hinterrücks über den hochprivilegierten Felsenstein mit österreichischem Pass sprach. Anlässlich eines Gastspiels der Komischen Oper 1959 in der UdSSR schrieb der Kulturfunktionär Alfred Kurella nach Moskau an den DDR-Botschafter, den „lieben Genossen Dölling“: „Felsenstein hat etwas von jenen Söhnen der Familie, die, sind sie zu Besuch, einen großartigen Eindruck hinterlassen, aber zu Hause einfach unausstehlich sind.“ W.F. sei spießig, habe „erpresserische Forderungen“. Immerhin jedoch wisse er genau, „nirgends in der Welt wird er je die Bedingungen bekommen, die wir ihm schufen“.

Ilse Kobán (Hrsg.): Routine zerstört das Stück. Erlesenes und Kommentiertes aus Briefen und Vorstellungsberichten zur Ensemblearbeit Felsensteins. Märkischer Verlag Wilhelmshorst 1997, 285 Seiten. Heute nur noch mit Glück antiquarisch zu haben – oder über Verleger Klaus-Peter Anders (Tel. 033205/62211; Fax 033205/46863)

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„Zugriff!“ gellt es im Saal, und Polizisten in Zivil stürmen durchs Parkett auf die Bühne, stürzen sich auf eine dort einsam vor sich hin träumende Frau. Ein Überfall der Staatsmacht mit gezückter Waffe am frühen Morgen in der Wohnung von Katharina Blum. Sie wird verdächtigt, wir schreiben das Jahr 1974, einem womöglich mörderischen Terroristen Unterschlupf gegeben, zur Flucht aus ihrer Wohnung verholfen zu haben. Am Ende wird sich herausstellen: Katharina ermöglichte ihrem Liebhaber Flucht und fernes Versteck, doch war der kein Terrorist, sondern ein Dieb. Ein gewöhnlicher Krimineller, in den zufälligerweise die Blum sich rettungslos verknallt hat.
Heinrich Böll, der große Moralist und Friedenskämpfer, der entschiedene Gerechtigkeitsfanatiker und Christ, der 1976 aus Protest gegen den Klerikalismus aus der katholischen Kirche austrat, Böll schrieb mit seiner Novelle „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ohne Hass, Rührseligkeit oder geifernden Eifer eine unter die Haut gehende Anklage gegen die (sexistisch) diskriminierende, manipulative Praxis der Ermittlungsbehörden sowie die verleumderische, quasi kriminelle Praxis vieler BRD-Medien, die Katharina in einer gigantischen Kampagne vorverurteilend an den Pranger stellt. Die sie abstempelt als verlottertes „Liebchen“, als skrupellose Komplizin eines Schwerstverbrechers und sie so einer skandallüsternen Öffentlichkeit „zum Fraß“ vorwirft. Aus einer leicht bizarren Lovestory (der Dieb und das Mädchen) wird, angefeuert durch die Zeitumstände (der RAF-Terror), ein provokantes Polit- und Gesellschaftsdrama.
„Katharina Blum“ wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und von Volker Schlöndorff mit Angela Winkler in der Titelrolle verfilmt. – Auch aus Anlass des 100. Geburtstags des Nobelpreisträgers am 21. Dezember 2017 brachte das Berliner Südwestkorso-Theater Bölls wohl bekanntestes Werk in der Fassung von Alexander Kratzer als deutsche Erstaufführung (!) mit ganz aufs Schauspielerische konzentrierten Mitteln auf die Bühne. Regie führt die geschickt auf Novitäten setzende Chefin dieses traditionsrechen Schöneberger Kiez-Kammerspiels: Karin Bares.
Seine überzeitlich starke Wirkung bezieht der Text aus der so raffinierten wie packenden Mischung aus Krimi, Psychostudie, Lovestory, Sittenbild und politisch-moralischer Aufklärung: „Soll man bei Unmenschen menschlich bleiben müssen“, fragt die Polizei und macht (ohne Beweise) aus dem vermeintlichen Terroristen – so gesehen freilich bedingt erklärbar – einen Unmenschen. Es ist die hoch problematische, nach wie vor aufregend nachhallende Kernfrage des Stücks.
Dessen Wirkungsmacht beruht jedoch nicht allein auf der tragischen Zuspitzung des Plots, sondern zugleich auf der Kraft des Sprachlichen, des Dramatisch-Poetischen; auf der fein ironischen Grundierung des Textes, seiner Stringenz und Nüchternheit: Die Heldin der Liebe – „Er war es, der da kommen sollte…“ –, die eben nur aufgrund dieser durch nichts und niemanden zu erschütternden Himmelsmacht Liebe („Stolz und Treue“) zum Opfer wird, diese Katharina Blum wird in keinem Moment verklärt. Sie ist unverstanden von aller Welt einfach da, behauptet sich bedingungslos und macht so diese Figur einer rückhaltlos Liebenden und Glaubenden groß.
Mit ihr, dem Kraftzentrum des Stücks, steht und fällt dessen Erfolg. Deshalb ein Tusch für Sybille Weiser in der Titelrolle! Eine tief beeindruckende Schauspielerin! Mit überzeugender Empathie für diese Figur, ihre berückende Naivität, ihren so besonderen Zauber, ihre allen Einflüsterungen und Drohungen auch frech widerstehende Unbeirrbarkeit. Ein in seiner Hingabe, seiner Zärtlichkeit verführerisch starkes, herzensschönes Weib. Das Psychoterror und Demütigungen aushält. Ein tapferes Wesen aus „Stolz und Treue“. Was für ein Glück, diese Sybille Weiser als trotzig-traurig ihre Ehre verteidigende Katharina Blum.