von Erhard Crome
Zu den Entwicklungen in der Sowjetunion und in Ostmitteleuropa meinte Gerhard Simon, einer der Köpfe des damaligen Ostinstituts in Köln, im Jahre 1993: „Die Ideale von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft allein sind nicht stark genug, um die Völker zu mobilisieren und zum Handeln anzutreiben. […] Nur mit Hilfe der nationalen Idee konnte der Widerstand gegen die sowjetische Diktatur mobilisiert werden, und nur die nationale Idee bot eine ordnungspolitische Alternative für die Zukunft: den Nationalstaat.“
Die Umbrüche des Jahres 1989 hatten die „deutsche Frage“, die jahrelang in Bezug auf die Zweistaatlichkeit debattiert wurde, in Form der nationalen Vereinigung gelöst. Damit war die Nationsfrage, die seit 1945 in Europa auf Eis gelegen hatte, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Als die realsozialistischen Vielvölkerstaaten Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien zerfielen, erschien sie als staatliche Verselbstständigung ihrer Teile. Der Westen, insbesondere die EU, frohlockte – dies auch Simons Intention – und wähnte, mit den kleineren Staaten geopolitisch besser umgehen zu können, während die EU selbst sich als immer weiter integrierter Machtblock verfestigt. Die nationale Selbstbestimmung, einmal aus dem Eisschrank ins Freie entlassen, dachte jedoch nicht daran, im Osten zu bleiben. Gerade schürte sie Unruhe in Katalonien.
Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ war nach dem Ende des Ersten Weltkriegs durch so unterschiedliche Gestalten wie Lenin und den USA-Präsidenten Woodrow Wilson politisch ins Spiel gebracht worden. Auf dem Versailler Friedenskongress wurden alle Lösungen unterstützt, die Deutschland und Österreich-Ungarn, aber auch Sowjetrussland schwächen sollten. Zudem wurde jedoch bereits damals deutlich, dass es kein Selbstbestimmungsrecht der Völker ohne ein entsprechendes Sezessionsrecht, also das Recht auf Abtrennung vom bisherigen, größeren Staat geben kann. Die Schaffung der einen Staaten, deren nationale Erwartungen erfüllt werden, lässt stets andere Hoffnungen unerfüllt. Das gilt auch für die überkommenen größeren Staatlichkeiten, deren Träger sich darin wohl und untergebracht befinden, während die Sezessionisten sich in einem Völkergefängnis fühlen. Das ging den Polen vor 1914 in Russland so, den Tschechen in Österreich-Ungarn und heute den Katalanen in Spanien. Die Lostrennung ist aus der Perspektive der Herrschenden des bisherigen Staates und der ihnen gewogenen Bevölkerung in aller Regel illegal, während sie aus der der Sezessionisten stets ihr gutes Recht ist. Wer von beiden am Ende richtig liegt, entscheidet nicht ein unvoreingenommener Betrachter, sondern die Macht, der „Sieger der Geschichte“.
Allerdings ist es eine grobe Vereinfachung, von „den Tschechen“ oder „den Katalanen“ zu reden. Das gilt übrigens auch für jene Fälle, über die in den Annalen in Tönen höchster Beweihräucherung berichtet wird. So wissen die Historiker, dass in den nordamerikanischen Kolonien die Teilnehmer an der Erhebung gegen die Briten stets in der Minderheit waren. Im Frieden von Paris 1783 wurden die Vereinigten Staaten unabhängig, sollten aber die probritischen Loyalisten respektvoll behandeln. Tatsächlich wurden sie verfolgt und öffentlich geschmäht. An die 100.000 von ihnen wurden aus dem Lande getrieben und gingen in die britischen Kolonien in Westindien, nach Kanada oder zurück nach Europa. Francisco de Miranda, der Anfang des 19. Jahrhunderts gegen die spanische Kolonialherrschaft kämpfte und in Venezuela einen unabhängigen Staat gründen wollte, wurde 1812 von Royalisten geschlagen. Simón Bolivar, der 1813 den nächsten Versuch anführte, verfolgte eine gezielte Terrorpolitik gegenüber den Royalisten und ließ über tausend Gefangene erschießen, obwohl sie überwiegend Nichtkombattanten waren. Die Gewalt scheint in Europa heute eingehegt, hatte sich bei dem von Madrid untersagten Volksentscheid in Katalonien aber in einer für EU-Gewohnheiten ungewöhnlichen Härte der Regierung und ihrer Polizei gezeigt. Während die Sezessionisten zur Gewaltfreiheit gerufen hatten.
Zu den Üblichkeiten solcher Auseinandersetzungen gehört in der Regel, dass die Zentralregierung und die sie tragende Mehrheitsbevölkerung der Minderheit im Grunde „Sonderrechte“ nicht einräumen wollen. Unter der Franco-Diktatur wurde das von der Zweiten Spanischen Republik 1932 eingeräumte Autonomiestatut aufgehoben. Die katalanische Sprache wurde unterdrückt, es durfte nur noch Spanisch gesprochen werden. Nach dem Ende der Diktatur erhielt Katalonien wieder ein Autonomiestatut. Es wurde später neu verhandelt, die Autonomie Kataloniens wurde erweitert, das Verhältnis zur Zentralregierung neu geregelt. Eine Volksabstimmung am 18. Juni 2006 brachte 73,9 Prozent Zustimmung zu dem Projekt. Nach längerem Hin und Her stimmte das Parlament in Madrid zu und der König unterzeichnete das Gesetz. Die rechtskonservative Volkspartei des jetzigen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy lehnte das Autonomiestatut jedoch ab und klagte dagegen vor dem Verfassungsgericht. Nach vier Jahren, am 28. Juni 2010, erklärte dieses das Autonomiestatut in 14 von 223 Bestimmungen für verfassungswidrig. Die Regierung in Madrid war zu neuen Verhandlungen nicht bereit. Unter diesen Voraussetzungen erschien vielen Katalanen die staatliche Selbständigkeit als Ausweg.
Der mittlerweile für abgesetzt erklärte Chef der Regionalregierung Kataloniens, Carles Puigdemont, hält sich derzeit in Brüssel auf. Er will dort weiter für Katalonien wirken und hat erklärt, er werde nach Spanien zurückkehren, wenn ihm ein gerechtes Verfahren gewährt wird. Sein bisheriges Handeln ist in Spanien als „Rebellion“ diffamiert und mit 30 Jahren Kerker bedroht. Offiziell heißt es, kein Bürger eines EU-Staates könne in einem anderen EU-Land Asyl erhalten. Praktisch wird jetzt auszuloten sein, ob eine Tat, die in Spanien in Franco-Tradition als Staatsverbrechen gilt, andernorts aber als politische Bekundung zu bewerten wäre, tatsächlich zu einer Auslieferung führt. Es heißt immer, in Länder, in denen die Todesstrafe gilt, werde nicht ausgeliefert. Ist eine Strafandrohung von 30 Jahren nicht analog?
Puigdemonts frühere Versuche, die Europäische Union oder die EU-Kommission als Vermittler im Streit zwischen Barcelona und Madrid zu gewinnen, sind am Starrsinn der EU gescheitert. Man bezieht sich auf eine Positionierung des früheren Kommissionspräsidenten Romano Prodi, der 2004 erklärt hatte, wenn eine Region ein EU-Land verlässt, verlasse es auch die Union. Der spätere Kommissionspräsident Manuel Barroso bestätigte 2012 unter Bezug auf eine Unabhängigkeit Schottlands, die EU sei durch ihre Mitgliedstaaten geschaffen, und wenn ein Territorium als unabhängiger Staat nicht mehr zu einem solchen gehöre, sei es automatisch für die EU ein „Drittstaat“. Sollte der EU-Mitglied werden wollen, müsse er einen Antrag stellen, der durch alle EU-Länder bewilligt werden müsste, auch durch den Staat, den das Territorium gerade verlassen hat.
Prodi war bekanntlich abwechselnd italienischer Ministerpräsident und EU-Kommissionspräsident. Tatsächlich erstarkte 2004 in Italien gerade die Lega Nord, und viele befürchteten, sie würde die Sezession Norditaliens vom italienischen Gesamtstaat zum Programm erheben. Insofern nutzte Prodi seine damalige Position als Kommissionspräsident, um in die italienische Innenpolitik einzugreifen und den Anhängern der Lega Nord die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens vor Gesicht zu halten. Auch heute befürchtet man vor allem eine Beispielwirkung Kataloniens für andere Regionen in Europa, in denen die staatliche Selbstständigkeit als Weg aus der Bevormundung der Zentralregierung diskutiert wird. Die Großmedien bezeichnen die Sezessionisten gern pejorativ als Separatisten und Nationalisten. Tatsächlich geht es in den EU-Institutionen wie in den bürgerlichen Mainstreammedien um die Verteidigung des Nationalstaats-Nationalismus gegen den Nationalismus der Regionen oder jener Nationen, die bisher keinen eigenen Staat haben, also um die Verteidigung des einen Nationalismus gegen den anderen. Nicht um keinen Nationalismus.
Schlagwörter: Erhard Crome, EU, Katalonien, Nationalismus, Selbstbestimmung