20. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2017

Hat mit Gauland alles angefangen?

von Herbert Bertsch

Mit 94 Abgeordneten – von null auf 94 – ist die durch Alexander Gauland personifizierte Bewegung in den Bundestag eingezogen. Vizekanzler a. D. Sigmar Gabriel hatte vorab diese düstere Vision: Echte Nazis am Rednerpult! Sein Zusatz: Für die Wahl von Nazis gibt es keine Entschuldigung. Doch was tun, wenn es im Werden und Wirken der Bundesrepublik noch „echtere“ Nazis auch im Bundestag gab, sowohl bei Gewählten als auch auf der Regierungsbank? Gäbe es die häufig bemühte Verwunderungsmütze mit Trageverpflichtung, sie wäre gegenwärtig herrschende Mode in Deutschland nach der gern beschworenen „Zäsur“ durch das Wahlergebnis. Für die Parteien wohlgemerkt, keineswegs identisch mit Staat und Gesellschaft, wenngleich fälschlich immer wieder so behauptet.
Das hat mehrere Gründe und Ursachen; auch strukturelle, die sich zum Teil daraus ableiten lassen, warum und wie die Bundesrepublik Deutschland entstand und wurde, was sie ist. Hierzu ein älterer Befund mit aktuellem Bezug auf den Bundestag und seine Fortsätze: „Die Politiker sind zum Dienst am öffentlichen Wohl berufen – dazu sind sie gewählt“, sagte Exkanzler Helmut Schmidt am 11. Juni 2005 im Gespräch mit Focus. Manche aber gingen heutzutage in die Politik, um was zu werden oder was zu sein. Dazu trügen auch das „Riesenparlament mit 600 Abgeordneten“ und das Wahlrecht bei, das eine positive Auslese erschwere. „300 in Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete würden völlig genügen.“
Inzwischen hätte auch der insbesondere beim Abschied hochgelobte Herr Norbert Lammert nicht nur davon reden, sondern auch was machen können, falls im Sinne von Schmidt gewollt. Das Beharrungsinteresse verführt zur Negierung dieser Erkenntnis bei Politik- und Meinungsmachern: „Man kann einen Teil des Volkes über die ganze Zeit täuschen und das ganze Volk über einen Teil der Zeit. Aber man kann nicht das ganze Volk über die ganze Zeit hinweg täuschen.“ Wird Abraham Lincoln zugeschrieben, 1886. Diese Erfahrung und Empfehlung gilt auch, wenn es sich nicht um beabsichtigte Täuschung handelt, sondern um Fehlbewertungen. Wobei verkündete Neuerungen keineswegs den Weg in die lichte Höhe garantieren, sondern auch und mitunter zugleich in Niederungen der vermeintlichen Vergangenheit landen können. Öffentliche Meinung in ihrer Vielfalt und aktuelle Politik sind stets auch Vergangenheitspolitik, mittelbar auch Vergangenheitsbewältigung, weil häufig als Legitimation der Veränderung vorgegeben.
Da schien es lange vor dem 24. September, als käme es zu einem polarisierenden Wahlkampf; niemand wolle den Stillstand der dauerhaften Großen Koalition. Aus dem unerwarteten Ergebnis gegen die intern durchaus erwünschte Groko leitete man nun entgegengesetzt ab, die im Bundestag vertretenen Parteien seien miteinander koalitionsfähig innerhalb dieses Generalkonsenses „aller Demokraten“ – freilich mit einer Ausnahme. Möglicherweise haben Macher bei der Partei „Die Linke“ nicht hinreichend auf den einschränkenden Nachsatz achten wollen, dass ihre Partei wie die AfD davon ausgeschlossen bleibe. Eine Begründung: „Die Linke“ habe im bisherigen Parteienspektrum die ihr zugeordnete Rolle nicht hinreichend erfüllt, ostdeutsche Missstimmung aufzufangen und zu kanalisieren. Die Parteiführung verkündete unmittelbar nach erster Wahlanalyse – so im neuen deutschland nachzulesen – die Hauptaufgabe der Partei sei zu Recht die Bekämpfung der AfD gewesen. Vermutlich aus prinzipiellen antifaschistischen Motiven, weniger aus Gründen regionaler Konkurrenz. Nach dem Wahlergebnis der AfD sei dies weiterhin ihre Funktion in der Gesellschaft.
Ob diese Selbstdefinition und die daraus resultierende öffentliche Wahrnehmung – als Gegenpart zu einer anderen Partei – zur eigenen Attraktion ausreicht, muss bezweifelt werden. Auch wenn sich die Leistung der linken Partei darin gewiss nicht erschöpft, steht mit diesem Anspruch weniger die Orientierung auf eine zu verändernde Gesellschaft im Fokus, als die Reaktion auf Vorgaben, auf Angriffe des Hauptgegners; auch auf die Beschimpfung als „Linksfaschisten“. Die Funktion als schärfster Kritiker der AfD wird ihr von den „Volksparteien“ in der Sache kaum streitig gemacht, was manche ihrer Funktionäre als Anerkennung im System empfinden. Sie sollten wissen: Die ausgrenzende Abgrenzung zur Partei „Die Linke“ durch die anderen bleibt, ungeachtet des eigenen Umgangs mit der AfD.
Da gilt zunächst die Losung der Kanzlerin, sich „breiter aufzustellen“. Die CSU: „Wir müssen (unsere) rechte Flanke sichern.“ Damit ist nicht die Auseinandersetzung, sondern die Beschneidung der Konkurrenz auf ein minderes Maß als Aufgabe gestellt. Zwischen CSU und Wand kein Spalt für andere!
Deutschland ist mit dem Wahlergebnis keineswegs „nach rechts gerückt“, wie es oberflächlich scheint. Was das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein und die Verfasstheit anlangt, gibt es keine Veränderung. Die Verteilung auf und die Zuordnung bei Parteien hat sich verändert, nicht die Substanz. Die neuen offiziellen Möglichkeiten durch und für die AfD werden allerdings die gegenwärtigen Bedingungen modifizieren. Die Partei als Kern einer „Bewegung“ wird ihre Notwendigkeit als vorgebliches Korrektiv zum gegenwärtigen Parteiensystem etablieren und dazu neben der aktuellen Auseinandersetzung den Rückgriff auf die wesentlichen Wurzeln von bundesdeutschem Staat und der Gesellschaft bei ihrer Entstehung und in ihrer Kontinuität „ab ovo“ nutzen. Und dabei geht es nicht nur um Kuriositäten aus der Rumpelkammer, wie manche Beobachter den Vorgang voraussehen.
Aus Überzeugung und strategischem Kalkül ließ Alexander Gauland einen Text entdecken, nicht sonderlich aufregend, wäre man nicht im Wahlmodus gewesen: „Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind, und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.“ Das Statement machte Karriere ob mehrheitlich gegenläufiger Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft. Besonders scharf die Empörung der Parteivorsitzenden Katja Kipping in der Elefantenrunde am Wahlabend, als sie initiativ darauf Bezug nahm. AfD-Vorsitzender Jörg Meuthen versuchte dies abzuwehren mit der inzwischen aus seinen Kreisen bekannten Fangfrage: „Wollen Sie etwa Mitterrand angreifen?“ Denn Gauland hatte inzwischen nachgeschoben, inhaltlich habe er nur gesagt, was auch François Mitterrand bezeugt hätte. Pikant: Kaum jemand in der Öffentlichkeit hatte dieses Nachschärfen des Nachprüfens für notwendig befunden, was sich als der Fälschung nahe erweist. Man empfand das weitgehend nicht als unwahrscheinlich. Wirkt so „deutsch-französischen Aussöhnung“, ein Hauptwerk Konrad Adenauers? Natürlich kalkulierte Gauland – im verordneten Antifaschismus der DDR zum Abitur mit Bestnote an der Oberschule „Friedrich Engels“ herangewachsen, dann in Hessen weiter sozialisiert und renommierter Politiker mit 40 Jahren CDU-Zugehörigkeit geworden – die Wirkung seines Verweises.
Wäre es ihm „nur“ um die „Ehrenrettung der deutschen Wehrmacht“ gegangen – da hätte er zwecks Leitbildern diesseits des Rheins bleiben können. Denn: Es hätte strukturell und personell nie eine Bundeswehr gegeben, die noch bei ihrer offiziellen Begründung „neue Wehrmacht“ hieß, ohne dieses umfassend ehrende Zugeständnis. „Adenauer hatte sich professionell darauf vorbereitet, als Kanzler den Staat mit Macht auszustatten. Die alte Militärelite hatte sich ausgesprochen pragmatisch angepasst, so dass ihr wieder ein Part in der Politik zugebilligt wurde. Von den militärischen Vertretern der Besatzung akzeptiert, nahm sie in Bonn eine mächtige Stellung bei Planung und Aufbau der Streitkräfte ein“, schrieb Detlef Bald in seiner kritischen Geschichte der Bundeswehr.1 Am 22. Januar 1951 trug Adenauer dem neuen höchsten USA-General Dwight D. Eisenhower vor, dass es ein Junktim gibt: Eine in die NATO integrierte neue deutsche Wehrmacht „Ja“, aber dies sei unmöglich, solange etwa 700 hohe Wehrmachts- und SS-Offiziere wegen Kriegsverbrechen verurteilt oder sonst wie in Haft sind. „Öffentlich erklärte Eisenhower dann, er glaube nicht, ‚der deutsche Soldat als solcher‘ habe seine Ehre verloren […]. Nach diesen Worten konnte sich Hitlers militärische Elite aktiv und offen in der Bonner Republik etablieren.“2 In dieses Konzept gehörte auch die Idee zur Konstruktion einer „Parlamentsarmee“, weil man nicht recht wusste, wem man mit welcher Auswirkung die formelle oder auch reale Verantwortung zuordnen sollte. Verantwortlich zu sein heißt ja nicht, Kommandogewalt zu haben und wahrzunehmen. Das dauerte denn auch eine Weile, bis die auf den Führer eingeschworenen Offiziere begriffen, wie praktisch diese Pufferinstallation für sie sein würde.
Der Generaloberst der Waffen-SS Paul Hausser wollte für sich und seinesgleichen verbindlich wissen, wie es um deren Integration stehe, und bekam am 17. Dezember 1952 diese Antwort:
„Sehr geehrter Herr Generaloberst! Einer Anregung nachkommend, teile ich mit, dass die von mir in meiner Rede vom 3. Dezember 1952 vor dem Deutschen Bundestag abgegebene Ehrenerklärung für die Soldaten der früheren deutschen Wehrmacht auch die Angehörigen der Waffen-SS umfasst, soweit sie ausschließlich als Soldaten ehrenvoll für Deutschland gekämpft haben.
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung bin ich Ihr
gez. Adenauer“
Rückblende zum 20. November 1941, aus dem Befehl des damaligen Generaloberst Erich von Manstein: „Dieser Kampf wird nicht in hergebrachter Form gegen die sowjetische Wehrmacht geführt. […] Das Judentum bildet den Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Armee und der Roten Führung. […] Das jüdisch-bolschewistische System muß ein für alle Mal ausgerottet werden.“ In diesem Jahr wird Alexander Gauland in Chemnitz geboren – kein Täter, aber in dieser Tradition. Erich von Manstein schon.1949 von einem britischen Militärgericht zu insgesamt 18 Jahren Haft verurteilt, wurde er nach Intervention Adenauers auf Initiative Churchills 1953 aus der Haft entlassen, wegen Augenleidens. „Bis 1960 beriet Manstein, wenn auch nicht in offizieller Funktion, als einziger Feldmarschall der ehemaligen Wehrmacht die Bundesregierung beim Aufbau der Bundeswehr“, heißt es bei Wikipedia. Bei seiner Beisetzung mit militärischen Ehren 1973 sprach der Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Zimmermann, die Abschiedsworte.
Betrachtet man diese Ahnengalerie und den Umgang damit, so wird verständlich, dass die Repräsentanten der Großen Koalition Gründe haben, die Ehrenerklärung für die deutsche Wehrmacht nicht zu thematisieren. Da scheint es pfiffiger, Gauland und die Seinen als „neue“ originelle Erscheinung wahrzunehmen, etwa durch die Flüchtlingspolitik bedingt, statt in gesellschaftlich deutscher Kontinuität entstanden. Da wird die AfD weiterbohren; das meint Gaulands Ankündigung, die bisherigen Parlamentsparteien „zu jagen“, auch durch den Umgang mit der Vergangenheit.
Angela Merkel hat häufig in Anspruch genommen, auf den Schultern Adenauers zu stehen. Nun präsentieren ihr frühere Parteifreunde die populistische Anfrage, wer sich von dessen Idealen, gern auch „Werten“, entfernt hat. Das nötigt die Etablierten zur Verteidigung oder zum Zurückstecken, wie bereits praktiziert: „Die rechte Flanke stärken“ – durch Neuintegration, weniger durch inhaltliche Abgrenzung zum AfD-Potenzial.
Die gegenseitige Geschichtsrevision ist trotz allem nur ein Nebenschauplatz. Die Vergangenheit ist auch Mittel zum Zweck. Die FAZ gilt nicht als offizielles Organ der AfD; manchmal kann man sich dessen allerdings nicht sicher sein. Am 27. Mai 2017 hieß es unter dem Titel „Angriff auf eine Armee mit Tradition“: „Die Bundeswehr soll kämpfen – aber an Kämpfer darf sie nicht erinnern […].Eine Armee, die in einer langen Tradition steht, wie das Eiserne Kreuz als Hoheitsabzeichen auf Fahrzeugen, Flugzeugen und Schiffen bezeugt. Es geht auf die Befreiungskriege zurück. Die Feldjäger der Bundeswehr tragen den achtzackigen Gardestern mit dem Spruch ‚Suum cuique‘ als Barettabzeichen. Das geht auf Friedrich den Großen zurück, der die reitende Feldjägertruppe gegründet hatte – eine frühe Form der heutigen Militärpolizisten. Dass der Satz ‚Jedem das Seine‘ als KZ-Inschrift missbraucht wurde, sollte kein Grund sein, jetzt alte Traditionen zu kappen. Das wäre ein später Sieg der Nationalsozialisten […] Aber in einer kämpfenden Truppe kann nicht nur Widerstand traditionswürdig sein. Persönliche Tapferkeit oder auch eine hervorragende Truppenführung in der Wehrmacht können auch heute noch anerkannt werden. Dafür wurde das Ritterkreuz verliehen. Darum sind Kasernen der Bundeswehr auch nach Soldaten der Wehrmacht benannt worden.“
Die „Affäre Gauland“ dürfte nicht die persönliche des Herrn Alexander Gauland bleiben. Was Vergangenheiten und deren Kontinuität aktuell und künftig bedeuten, das wird uns noch lange beschäftigen und zu Bewertungen veranlassen. Also: kein abgeschlossenes Kapitel. Auch wenn dies mit der Häutung zur Demokratie gern so begründet wird. Wenn bei Konzeption und Gründung der „neuen Wehrmacht“ die Kontinuität mit der alten Wehrmacht bei aller Bereitschaft nicht nahtlos übernommen werden konnte, bemühte man hilfsweise Erfahrungen mit der Reichswehr. Daher ist dieser Dialog bekannt: Reichspräsident Friedrich Ebert fragt den Chef der Heeresleitung, Franz von Seeckt, wo die Reichswehr in diesen Wirren stehe. Antwort: „Die Reichswehr steht hinter mir.“ Der Präsident fragt nach, ob die Reichswehr denn zuverlässig sei. Antwort: „Ob sie zuverlässig ist, weiß ich nicht, aber mir gehorcht sie.“ Das war wohl keine „Parlamentsarmee“ – oder doch?

  1. Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005, S. 27.
  2. Bald, a.a.O., S. 34/35.