20. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. Oktober 2017

Der verpasste Thermidor

von Jörn Schütrumpf

„Es ist keine sentimentale Lyrik,
wenn die Bolschewiki uns versichern,
dass sie 1917 nicht im Traum dachten, sie müssten tun,
was sie 1920 taten. Das, was alledem zugrunde liegt,
ist schließlich dieses: Es ist leichter, die Macht zu erringen,
als sie zu halten, und es ist leichter, die Macht zu halten,
als wieder aus der Macht zu verschwinden.
Das ist eben das geschichtlich Unmögliche,
nach Belieben aus der Macht zu scheiden,
und wer einmal die Macht ergriffen hat,
wird auch von der Macht ergriffen;
er benutzt sie, und sie benutzt ihn – bis zum äußersten.
Herrschaft ist eben ein Gewaltverhältnis,
und Gewalt kann sich selbst keine Grenzen setzen.“

Paul Levi, 1926

Erhard Crome hat vor einigen Jahren in einer Debatte – an Eric Hobsbawm anknüpfend – den unterschiedlichen Revolutions-„Bedarf“ in den europäischen Gesellschaften am Ende des Ersten Weltkrieges beschrieben. In Russland: hoch – Landfrage, Verfassung und Frieden; bei den Mittelmächten: gemäßigt – Frieden und mehr Demokratie; bei den Westmächten: Frieden, aber nichts mehr mit Schubkraft.
Das Elend des Krieges allein reichte nicht aus, um Erhebungen auszulösen. In Westeuropa war die Freisetzung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse durch die französisch-englische Doppelrevolution (bürgerliche Demokratie plus neuer Produktionstyp) längst abgeschlossen und unumkehrbar. Für einen, zumindest von einigen Linken erhofften, nächsten Schritt – für die Überwindung dieser Verhältnisse – mangelte es an einer kritischen Masse. Systeme geraten in ihre Krisis, wenn mindestens 15 Prozent der Bevölkerung bereit sind, wenn auch nicht gleich ihr Leben so doch bei Demonstrationen, Kundgebungen et cetera ihre Gesundheit zu riskieren… Daran war in den Gesellschaften der siegreich in nationalistischer Ekstase taumelnden Westmächte überhaupt nicht zu denken.
Für Erhebungen am Ende des Ersten Weltkrieges bedurfte es neben der Kriegsmüdigkeit weiterer „Zutaten“; bei den Mittelmächten waren sie dank der ungelösten Aufgaben, die die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848 liegen gelassen hatte, ohne Zweifel gegeben. 70 Jahre später, 1918, erzwang die Revolution in Deutschland und Österreich nicht nur einen Waffenstillstand, sondern löste – wenn auch nicht die demokratische so doch – die bürgerliche Aufgabe der Revolution von 1848: Die Soldaten- und, auch ein wenig, die Arbeiterbewegung erkämpften mit ihrem Sturz der Fürstenhäuser und der Errichtung von Republiken den bourgeoisen Eliten das Ende ihres ungeliebten Klassenkompromisses mit den feudalen Eliten, seinerzeit etabliert nach 1848 – ohne allerdings für ihr eigenes revolutionäres Tun ein adäquates Bewusstsein entwickeln zu können. So viel Missverständnis war selten.
Das, was den bourgeoisen Eliten unter monarchistischer Vorherrschaft zu heikel erschienen war, nämlich die alleinige Herrschaft anzustreben, konnte dank des proletarischen Sieges nun verwirklicht werden: in Deutschland nach einer weiteren zeitweiligen Machtteilung der bourgeoisen Eliten ab 1924/25 und im Schatten des Dawes-Planes nun mit der wenig proletarisch agierenden Sozialdemokratie sowie in Österreich nach einer weiteren zeitweiligen Machtteilung der bourgeoisen Eliten und dem Blutbad von 1927 mit der betont proletarisch agierenden Sozialdemokratie.
Viel Vertrauen in eine bourgeoise Diktatur in der Form parlamentarischer Demokratie hatten die bourgeoisen Eliten in beiden Ländern jedoch nicht. Erst den Faschismus (in Deutschland ab 1933, in Österreich ab 1934), also die bourgeoise Diktatur in Form eines Polizeistaates, verstanden sie im Sinne der vollständigen Ausprägung des bürgerlichen Charakters der Herrschaftsverhältnisse als Schlussakkord der Revolution von 1848: endlich ungeteilte bourgeoise Herrschaft.
Sie dauerte allerdings nicht lange. Denn mit der Entpuppung des deutschen Faschismus zum Europa sowohl rassistisch ummordenden wie umzüchtenden Nationalsozialismus trat für die bourgeoisen Eliten die nächste – zweifellos nicht erwartete, geschweige denn erwünschte – Machtteilung ins Leben: mit einer sich entfesselnden Militär- und Staatsbürokratie, die jedoch, ehe sie einen eigenen sozialen Charakter ausbilden konnte, von außen niedergeworfen wurde.
Erst der Kalte Krieg – samt vorangehender reeducation – machte die bourgeoise Herrschaft unteilbar: Der lange Weg nach Westen war nichts anderes als das Erlernen bourgeoiser Diktatur in der Form parlamentarischer Demokratie. Das war letztlich der tiefere Sinn der „Umerziehung“ gewesen; selten war Entwicklungshilfe so erfolgreich.
Trotzdem dauerte es ein weiteres Vierteljahrhundert, bis es die Bundesrepublik vom verschleierten Doppelstaat – mit Terror nach links und Schutzräumen für Massenmörder an Juden, Slawen, Sinti und Roma – in die Top Ten der Rechtsstaaten schaffte. Den Schlusspunkt der Revolution von 1848 setzte die 68er Bewegung, die der demokratischen Seite dieser Revolution endlich zum Durchbruch verhalf: mit der Durchsetzung eines Geistes, der in deutschen Landen erstmals 1832 auf dem Hambacher Fest zu erahnen gewesen war.

***

In Russland wäre es früher oder später auch ohne den Ersten Weltkrieg zu einer zweiten Revolution nach der von 1905/06 gekommen. Zwar dominierte in einigen Zentren – Petersburg, Moskau, Baku und in Teilen des Kaukasus – die kapitalistische Produktionsweise längst die Verkehrsformen, trotzdem aber waren nicht einmal die zentralen Aufgaben bei der Freisetzung bürgerlich-kapitalistischer Zustände gelöst: Brechung der ökonomischen Grundlagen feudaler Herrschaft, sei es durch eine Agrarrevolution, sei es durch eine Agrarreform, sowie die Herstellung von halbwegs rechtsstaatlichen Verhältnissen als Bedingung für das längerfristige Funktionieren bürgerlich-kapitalistischer Zustände.
Schon vor der Revolution von 1905/06 in Russland hatten Lenin als auch Rosa Luxemburg erkannt, dass der bürgerliche Liberalismus die Fähigkeit verloren hatte, eine bürgerliche, geschweige denn eine bürgerlich-demokratische Revolution zu führen. Deshalb forderten beide eine Hegemonie der Arbeiterklasse. Darin unterschieden sie sich von vielen russischen Sozialdemokraten.
So wie Friedrich Engels meinte Rosa Luxemburg zudem, dass die Revolution über ihre im Moment realisierbaren Ziele hinausgetrieben werden müsse, um nach dem – jeder Revolution innewohnenden – Rückschlag (Thermidor) wenigstens die Ziele zu erreichen, die in ihren augenblicklichen Möglichkeiten lagen. Deshalb plädierte Rosa Luxemburg für das Maximum, das in Russland eine Revolution erreichen konnte: für eine zeitweilige proletarische Diktatur, mit der für die Zeit nach der Revolution der bestmögliche Kampfboden – eine demokratische Republik – erkämpft werden sollte.
1908 beschrieb Rosa Luxemburg den Rahmen, in dem sich die nächste russische Revolution bewegen würde: „Der sozialistische Umsturz kann nur Ergebnis der internationalen Revolution sein, und die Resultate, die das Proletariat in Russland in der gegenwärtigen Revolution erreichen kann, hängen, um hier noch gar nicht einmal vom Grad der gesellschaftlichen Entwicklung Russlands selbst zu sprechen, vom Grad und den Entwicklungsformen ab, welche bis zu dieser Zeit die Klassenbeziehungen und die Aktion des Proletariats in anderen kapitalistischen Ländern angenommen haben. […]
Sich nun aber Sorgen zu machen, dass die jetzige Revolution ihren eigentlichen ‚bürgerlichen‘ Charakter behalte, ist für das Proletariat eine völlig überflüssige Aufgabe. Der bürgerliche Charakter drückt sich aus, weil es dem Proletariat nicht gelingen wird, sich an der Macht zu halten, weil es früher oder später erneut durch die konterrevolutionäre Aktion, durch Bourgeoisie, Grundbesitzer, Kleinbürgertum und große Teile der Bauernschaft niedergeworfen wird. Es ist auch möglich, dass nach dem Sturz des Proletariats selbst die Republik untergehen und für lange Zeit die Herrschaft einer zutiefst gemäßigten konstitutionellen Monarchie beginnen wird. Das ist sehr gut möglich. Doch die Klassenlage ist nun einmal so, dass in Russland sogar der Weg zur gemäßigten monarchischen Konstitution über die revolutionäre Aktion und die republikanische Diktatur des Proletariats geht.“
Lenin hielt nichts von Rückschlägen, selbst wenn sie zu einer bürgerlich-parlamentarischen Republik als Voraussetzung für eine Selbstorganisation und Selbstbewusstwerdung des Proletariats führten; er setzte auf Durchbrüche und – auf kurze Wege. Dass das russische Proletariat die Macht, falls es sie überhaupt je ergriffe, nicht einmal im Verein mit dem politisch deutlich erfahreneren polnischen Proletariat – unter anderem repräsentiert von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches – dauerhaft würde behaupten können, war auch ihm klar. Sein scheinbar genialer Ausweg aus dem Dilemma: Er plädierte für ein Bündnis von Feuer und Wasser, von Proletariat und armer land-, also kapitalgieriger Bauernschaft – nach der Maxime: Wir sprengen den Staat und Gesellschaft in die Luft und werden dann zumindest dafür sorgen, dass wenigstens uns selber die herumfliegenden Trümmer nicht die Schädel einschlagen. Das Ganze sollte von einer Avantgarde-Partei organisiert werden, die die Geschichte auserwählt hatte, allen anderen mitteilen zu dürfen, wo es langgeht. In ihren Anhängern sah sie die Manövriermasse eines alles wissenden und vor allem alles besser wissenden Zentrums. Revolution nach Feldherrenart, garantiert emanzipationsfrei… (Und damit jederzeit rückgängig machbar.)
Lenin, Trotzki, Bucharin, Angelica Balabanoff und mit ihnen viele andere interessierte, als sie sich 1917 in den Kampf warfen, an der russischen Revolution vor allem eines: deren – erhoffte – Funktion als Eröffnungsrevolution eines proletarisch-sozialistischen Sturmes über Europa, an dessen Ende eine postkapitalistische Gesellschaft, gegründet auf sozialer Freiheit für alle, stehen sollte. Für diese – zumeist goethisch geprägten – Weltbürger war diese russische Revolution als „nationale“ Revolution, zumindest anfangs, völlig uninteressant, zumal sie wussten: Mit diesem Russland war nicht nur kein Staat, sondern erst recht kein Sozialismus zu machen.
Als internationale Eröffnungsrevolution scheiterte die russische Revolution mangels erfolgreicher Anschlussrevolutionen zwar, doch erfüllten die Bolschewiki durch den Sieg im Bürgerkrieg national glänzend ihre Aufgabe, trieben jedoch mit diesem Sieg zugleich den Widerspruch zwischen sozialer und politischer Hegemonie, der jeder radikalen Revolution innewohnt (Kossok), an seinem Schnittpunkt. Nie übt ein sozialer Hegemon, also der „Auftraggeber“, im Falle der russischen Revolution war das bis 1921 das Proletariat, als Ganzes die politische Hegemonie aus, entweder sind es aktivistische Gruppen wie 1791–1793 die Gironde, 1793/94 die Jakobiner und 1917 bis 1921 die Bolschewiki, oder das Militär „substituiert“, wie jüngst wieder in Ägypten, wo die Armee anstelle eines politisch ungefestigten Bürgertums herrscht.
Als „Jakobiner mit dem Volke“ hatten die Bolschewiki etwas erreicht, was anfangs nicht einmal sie selbst sich zugetraut hatten: So wie die französischen Revolutionäre von 1789 und der Folgejahre hatten sie den Krieg genutzt, um die Revolution zu vertiefen, und damit das Interesse der Arbeiter, vor allem aber der Bauern an einem Sieg im Bürgerkrieg immer weiter stabilisiert. (Im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 erzwangen die Bolschewiki die genau entgegengesetzte Politik.) Mit dem Sieg im Bürgerkrieg hatten die Bolschewiki überhaupt alles erreicht, was in einer Revolution zu erreichen war. Damit waren sie Anfang 1921 reif für den Thermidor. Der erfolgte mit dem Kronstädter Aufstand.
Der soziale Hegemon – die revolutionäre, aber nicht auf die Diktatur der Bolschewiki abonnierte Arbeiterschaft – sah die Ergebnisse der Revolution durch den Sieg im Bürgerkrieg gesichert. Die Herrschaft der Bolschewiki schien überflüssig geworden, zumal sie mit der Etablierung ihrer Parteidiktatur einseitig den proletarischen Konsens aufgekündigt hatten, der beinhaltete, die Gesellschaft über ein Sowjetsystem zu demokratisieren und die sozialistische Produktionsweise als Voraussetzung für die soziale Freiheit aller gemeinsam durchzusetzen.
Die Niederlage der proletarischen Thermidorianer offenbarte die ganze Schwäche dieses sozialen Hegemonen und zeigte an, dass, selbst wenn er dem politischen Hegemonen nicht unterlegen wäre, er seine soziale Hegemonie nie und nimmer hätte aufrechterhalten können und im nächsten Moment von den nachdrängenden Bauernmassen in die Bedeutungslosigkeit zurückgestoßen worden wäre, aus der ihn für vier Jahre die Revolution herausgeholt hatte.
Denn mit dem Sieg im Bürgerkrieg war auch für die Bauernmassen jegliches Interesse an einer weiteren Herrschaft der Bolschewiki – sowie nach der Niederwerfung des bisherigen sozialen Hegemonen auch an einem weiteren Bündnis – erloschen: Anfang 1921 brachen im ganzen Land große Bauernaufstände aus. Damit hatte sich der Leninsche Ausweg: das Bündnis von Feuer und Wasser, von Proletariat und landarmer Bauernschaft, als Irrweg erwiesen. Beim antifeudalen Durchbruch hatte dieses Bündnis noch durchaus getragen; doch um dem Rückschlag der Revolution zu umgehen, so wie es Lenin konzipiert hatte – dafür war dieses Bündnis ungeeignet. Der Versuch, Gott zu spielen, war gescheitert; die List der Geschichte lässt sich nicht überlisten…
Mit ihrem Sieg über ihren bisherigen „Auftraggeber“ hatten die Bolschewiki nichts gewonnen, sondern trotzdem alles verloren. Sie standen im Frühjahr 1921 allein da: den „Auftraggeber“ erst verprellt, dann vertrieben, und – mit dem ehemaligen Bündnispartner verkehrten sie per Gewalt der Gewehrläufe. Bauernaufstände kann man niederwerfen, und das taten die Bolschewiki im Frühjahr 1921 auch; aber: „Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.“ (Hannah Arendt)
Da sie nicht freiwillig aus der politischen Herrschaft hatten weichen wollen, ließ ihr Sieg den Bolschewiki nichts anderes übrig, als sich in den Dienst der stärksten sozialen Kraft, der Bauernschaft, zu stellen und den internationalen Teil der zuvor national weitgehend ausgerotteten Bourgeoisie zur Investition einzuladen. Genannt wurde das „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP). Tragischer ist seit Pyrrhus kein Sieg gewesen.
So erlebte die russische Revolution, die im Februar 1917 so hoffnungsvoll begonnen hatte, ihren Umschlagpunkt, ihren Thermidor, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal: als – unvermeidbar gescheiterten – proletarischen Thermidor und als Thermidor, mit dem die lebensfähigen Ergebnisse der Revolution, namentlich die der Agrarrevolution, gesichert wurden, ausgeführt von den Revolutionären selbst und deshalb (vorerst) ein – „trockener Thermidor“ (Levi).
Angelica Balabanoff, „bedeutendstes Mitglied der Kommunistischen Internationale“ (so schrieb es ihr Lenin beim Abschied in den Propusk, der ihr den Weg in die Freiheit öffnete), zog als einzige die Konsequenzen, trat individuell von der Macht zurück und kehrte „heim“ ins Exil: „Heute stünde ich als Mitschuldiger an zahllosen Vergehen gegen die Menschheit da, am Verrat am Sozialismus, an unzähligen schmachvollen Taten. Ich hätte weder das Recht noch den Mut, den Opfern der sozialen Ungerechtigkeit, denen ich Treue geschworen hatte, indem ich Sozialistin wurde, ins Auge zu schauen. […] Gezwungen zu sein, so zu leben, wie die Bolschewiki leben, von Schmeichlern umgeben, Vorrechte aller Art zu genießen und mir die Verwünschungen ihrer unzähligen, gemarterten Opfer zu verdienen, für ihre Schandtaten durch meine Gegenwart die Verantwortung mit zu übernehmen, das wäre meine – schreckliche – Strafe gewesen.“ (1959)
Die Bolschewiki waren in die Falle geraten, die Engels schon 1850 in einer „schwarzen Utopie“ beschrieben hatte: „Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine eigne Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassenkampfs und seiner Bedingungen; er ist gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen, die wieder nicht aus der momentanen Stellung der gesellschaftlichen Klassen gegeneinander und aus dem momentanen, mehr oder weniger zufälligen Stande der Produktions- und Verkehrsverhältnisse hervorgehn, sondern aus seiner größeren oder geringeren Einsicht in die allgemeinen Resultate der gesellschaftlichen und politischen Bewegung. Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muss im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigne Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, dass die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren.“
Doch nicht erst die Niederschlagung des proletarischen Thermidors von Kronstadt offenbarte die Art des Verhältnisses der Bolschewiki zu der Klasse, der sie zu ihrer Befreiung verhelfen wollten. Stärke und Schwäche der Bolschewiki von Anfang an waren ihr Avantgarde-Verständnis: „Hätten die Bolschewiki nie etwas anderes getan, als die Diktatur des Proletariats ausgeübt, so wären sie nie so weit heruntergekommen, als sie jetzt sind. Sie taten etwas anderes. Sie übten nicht die Diktatur des Proletariates gegen eine feindliche Klasse aus, sondern begannen, das Proletariat erst zu ‚führen’, dann zu lenken, dann zurechtzuschieben, dann zu schulmeistern, dann zu exerzieren, dann zu kommandieren, dann zu bütteln, dann zu quälen und dann zu terrorisieren im Namen der ‚Diktatur‘. In dieser völlig verkehrten und verfehlten Theorie von der ‚Rolle der Partei’, von der Allmacht eines Zentralkomitees in der Partei, von der Gottähnlichkeit von ein paar Bonzen: In ihr liegt der Anfang und das Ende von dem beschlossen, was jetzt in Russland vor sich geht. Nicht der Sozialismus und nicht das Proletariat haben in Russland bankrott gemacht: Bankrott hat in Russland eine Schule gemacht.“ (Levi, 1928)
Und weiter Levi: „Das Proletariat ist ein großer und starker Körper, gewaltiger in seinen Kräften als eine andere Klasse. Das, was der starke Körper braucht, um zu herrschen, den Willen zur Macht, den kann ihm keiner geben, muss er selbst sich schaffen aus einem tausendfältigen Spiel von tausend Zellen und Zellchen, von denen jedes sein eigenes Leben hat. Das ist der Sinn der Demokratie innerhalb der Arbeiterklasse und innerhalb der Partei, so diesen Willen zu bilden.“

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Für die neuen sozialen Hegemonen, für die Bauernschaft und für das internationale Kapital, waren die Bolschewiki alles andere als Wunschpartner. Zwischen sozialem und politischem Hegemon herrschte nichts weniger als ein antagonistisches Verhältnis – ein Bündnis auf Zeit, haltbar so lange, wie die Bolschewiki nicht von der Macht verdrängbar waren. Die Bolschewiki ihrerseits, darum sehr wohl wissend, lebten in ständiger Furcht vor einem weiteren Thermidor und wussten sich nur mit einem Rezept zu helfen: Sie verliehen der Gewalt Permanenz – die „gesellschaftliche Ausnahmesituation wurde zur ‚Normalität’. Die Gewalt wurde nicht nur der ‚Geburtshelfer’ [Marx] der neuen Gesellschaft, sie blieb ihre entscheidende Stütze.“ (Manfred Kossok)
Wobei die Bolschewiki natürlich wussten, dass es mit Gewalt allein schwierig werden würde; dass – Napoleon hatte es als erster ausgesprochen – man mit Bajonetten vieles machen könne, nur eines nicht: darauf sitzen. Deshalb wechselten die Bolschewiki nach der Beendigung der Revolution von unten (durch die Niederschlagung des Kronstädter Thermidors) und durch den eigenen Thermidor (durch das Umschwenken auf die NÖP) zu einer Revolution „von oben“, zu einem Tanz „über den Klassen“, und regierten als Bonapartisten weiter – bis die neuen Klassenverhältnisse so ausgereift sein würden, dass der innere soziale Hegemon, also die Bauernschaft, stark genug wäre, die politische Hegemonie in die eigenen Hände zu nehmen.

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Dem ist Stalin zuvorgekommen. Dazu musste er nichts Neues erfinden: „Es muss zugegeben werden, dass es ohne Lenin keinen Stalin gegeben hätte, selbst wenn dieser nur eine Karikatur des Begründers der Bolschewiki war. All das Abstoßende, was bei ihm während seiner Diktatur zum Vorschein kam, war durch das Regime, in dem er lebte, handelte und herrschte, gefördert und gesteigert worden. Das von Lenin gegründete Regime und der von ihm geschaffene Apparat haben in einem Menschen wie Stalin alle minderwertigen Instinkte geschürt und deren Entfaltung keinerlei Hemmnisse oder gar Widerstand entgegengesetzt. Die Atmosphäre der Alleinherrschaft, der Willkür und des Terrors haben die sadistischen Neigungen des zukünftigen Diktators begünstigt, seine Eitelkeit angefacht und ins Unermessliche gesteigert.
Ein Erneuerer war Stalin jedoch keineswegs; intellektuell war er eine Null – ein treuer Jünger, ein Nachahmer, kein Bahnbrecher. Die Anschauungen der Bolschewiki als Theorie, ebenso wie die Anwendung von Methoden, die im Widerspruch zum Sozialismus stehen, waren das Werk Lenins; Stalin hat sie sich nur angeeignet und das Negative, das ihnen anhaftete, noch intensiver gestaltet und allgemein verbreitet.“ (Angelica Balabanoff)
Stalins Stärke bestand im Erkennen herannahender Gefahren sowie in ihrer Bekämpfung in einem Stadium, in dem sie noch beherrschbar sind. Die ersten Getreideboykotte der Bauernschaft kündigten 1927 an, dass sich die Periode des Bonapartismus der Bolschewiki dem Ende zuneigte. Damit war es wieder einmal Zeit, den sozialen Hegemonen zu wechseln – Zeit für die damals so gern „Zweite Revolution“ genannte „Stalinsche Revolution“.
Heraus kam eine Mischwirtschaft: Im Zeichen der Kollektivierung wurde in den Lagern die Staatssklaverei, vor allem im Bereich der extraktiven Industrien, exzessiv ausgebaut. Soweit die Bauern nicht verhungerten oder ermordet wurden – die Zahlen gehen in die mehrere Millionen –, wurden sie in eine zweite Leibeigenschaft gepresst, gegen die die zweite Leibeigenschaft in Preußen geradezu ein Ausbund an Humanität war. Wer nicht vor den Erschießungspelotons landete oder in der Staatssklaverei oder in der Leibeigenschaft zu vegetieren hatte und auch nicht am Hunger verendet war, konnte sich glücklich wähnen, wenn er Lohnarbeit, keineswegs jedoch als doppelt freier Lohnarbeiter, leisten durfte. Gegen die Erdhütten, die sich in den Neubaustädten viele Erbauer in den ersten Jahren zu graben hatten, waren die menschenfeindlichen Kommunalkas in den traditionellen Industriegebieten geradezu ein Privileg. Mit der einheimischen Bourgeoisie, die nach 1921 wieder begonnen hatte, sich zu bilden, wurde ähnlich wie mit der Bauernschaft verfahren. Die so freigesetzten Mittel wurden in die Rüstungsindustrie kanalisiert…
Der „Arbeiter- und Bauernstaat“ sowie die von ihm verwaltete Gesellschaft hatten im real existierenden Sozialismus eine Gestalt angenommen, die die vom Profitprinzip dominierten Gesellschaften den dort ausgebeuteten doppelt freien Lohnarbeitern nicht zwingend unattraktiv erscheinen lassen mussten.

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Der neue soziale Hegemon fiel mit dem politischen zusammen; die Bolschewiki hatten eine eigene, die „neue Klasse“ hervorgebracht, wie Milovan Djilas sie nannte. Die saß an den Hebeln der Macht: als Funktionsträger in Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Militär, politischer Polizei… Sozialismus in den Farben der Bolschewiki bedeutete nicht die solidarisch-kollektiv erkämpfte Emanzipation von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung – was ja ursprünglich der Sinn von Sozialismus gewesen war –, sondern das Angebot an Willige, individuell sozial aufzusteigen.
Diese „neue Klasse“ genoss ihren Sieg, auch als 1932/33 nach der „erfolgreichen Kollektivierung“ Millionen Menschen verhungerten. Denn „neue Klasse“ hieß: Pajok (Rationen für Privilegierte), hieß: Überleben – zumindest vorerst.
Mit Hilfe der „neuen Klasse“ wurde die Gesellschaft unterworfen und so die riskante bonapartistische Phase beendet. Statt der kapitalistischen Produktionsweise und einer vielleicht bürgerlichen Gesellschaft mit einem entsprechenden Rechtsstaat wurde 1927/28 der Staat entfesselt. Im Namen der „Arbeiter- und Bauernmacht“ etablierte sich ein totalitäres Regime, das eine zu jeglichem Widerstand unfähige „klassenlose“ Gesellschaft herbeizumorden suchte und dabei selbst die „neue Klasse“ keineswegs schonte, sondern bevorzugt verheerte.
Unter der Losung „Sozialismus in einem Land“ wurde ein Regime etabliert, das mit Terror eine egalitäre und zu jeglicher Form von Widerstand unfähige Gesellschaft systematisch zurichtete: Nach der Versklavung der NÖP-Gewinnler und der Bauernschaft kam die Garde der Revolution an die Reihe und schließlich jeder, der Individualität nicht zu verbergen vermochte, inklusive Polina Schemtschuschina  Molotowa, der Frau eines der schlimmsten Massenmörder, von Stalins Außenminister und Kumpanen Wjatscheslaw Molotow.
Alle sozialen Beziehungen, soweit sie sich auf Vertrauen gründen, wurden absichtsvoll zerstört. Es entstand eine Gesellschaft der Gleichheit, allerdings einer Gleichheit in Unfreiheit, einer Gleichheit in der Angst, einer Gleichheit in der Bindungslosigkeit – letztlich eine Nichtgesellschaft, der alle Insignien einer Zivilgesellschaft fehlten. Hier herrschte der Maßnahmestaat – in seiner totalen Entfesselung.
Die Nachwachsenden, vom bisherigen Leben „unbeschmutzt“, sollten die „neuen Menschen“ stellen; um die „Alten“ war es nicht schade.
Die Funktionsweise der modernen Gesellschaft, ihre Gesetze, versuchte die Stalinsche Führung zu überlisten – indem sie sie außer Kraft zu setzen schien und ein neues Gesetz setzte. Die Revolution hatte ihr Flussbett verlassen, das Wasser sollte künftig bergauf fließen. Es war abermals der Versuch, Gott zu spielen.
Der „Sozialismus in einem Land“ funktionierte nur als „Sozialismus der Galgen“, um ein Wort von Albert Camus aufzunehmen. Die Abschaffung aller Klassenmerkmale durch die Beseitigung ihrer Träger – sei es per Lager, sei es per Exekution – wurde zur Grundbedingung von Herrschaft. Es fand nicht die Emanzipation vom Klassendasein und von Klassenherrschaft statt – wie sie einem Karl Marx, einer Rosa Luxemburg und bis zu einem gewissen Grade auch einem Lenin vorgeschwebt hatte –, hier wurde Gesellschaft ersetzt durch ein Oben und Unten, vielleicht besser sogar: durch ein Drinnen und Draußen, zwischen dem der einzelne willkürlich hin- und hergeworfen werden konnte: heute Wärter, morgen Sklave; heute Sklave, morgen General; gestern Chef der Politischen Polizei, morgen Folteropfer. Die Rollen waren austauschbar und wurden getauscht.
Klassenlosigkeit nicht als Resultat großer Klassenauseinandersetzungen, sondern als Resultat des Wirkens eines allgegenwärtigen Polizeistaates, der als „Hauptinstrument der herrschenden Klasse“ – gemeint ist hier nicht die stets vorgeschobene „Arbeiterklasse“, sondern die tatsächlich herrschende Klasse: die „neue Klasse“ der Partei- und Staatsbürokratie – eine angeblich sozialistische Gesellschaft „schuf“.
Diese Gesellschaft musste „geschaffen“ werden, weil unter den obwaltenden Bedingungen eine Gesellschaft, die das Etikett „sozialistisch“ rechtfertigte, sich nicht entwickeln konnte.
Entwickeln hätte sich unter den gegebenen Klassenverhältnissen nur eine kapitalistische Produktionsweise können – und zwar eine in sehr roher Form. Aber eben diese Produktionsweise mit all ihren Weiterungen für die Gesellschaft galt es zu unterbinden – durch die Schaffung einer Staatswirtschaft und durch die Unterdrückung jeglicher Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft.
Der Staat schuf sich eine Basis; nicht die Basis einen Staat. Der Staat als Schöpfer, als Gott – der immer nur ein Teufel sein kann.

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Noch ein Wort zur Vernichtung der revolutionären Avantgarde ab Sommer 1936. Auch hierbei begegnete Stalin einer Gefahr, ehe sie unbezwingbar geworden war. Spätestens mit dem Rjutin-Papier vom Sommer 1932 war klar geworden, dass trotz aller Ausschlusswellen (erst gegen Trotzki und Anhänger, dann gegen Sinowjew und Anhänger, dann gegen Bucharin und Anhänger) immer wieder neue innerparteiliche Oppositionen entstehen würden – zumindest solange noch Revolutionäre lebten, die den ursprünglichen Sinn der Revolution nicht ganz vergessen hatten.
Weil vor allem noch in der Leningrader Parteiorganisation Widerstand existierte, Lenins Verdikt aufzuheben, dass Kommunisten nicht Kommunisten hinrichten dürfen, wurde deren äußerst beliebte Kopf und Rivale Stalins, der Leningrader Parteichef Kirow – offiziell durch einen „Einzeltäter“ – beseitigt. Mit einem Mord waren gleich zwei Probleme gelöst: Kirow war aus dem Weg geräumt und der Widerstand gegen die Hinrichtung von Kommunisten gebrochen…
Nach der Abwehr des Putsches im Juli 1936 gegen die Volksfrontregierung in Madrid drohte jedoch in Spanien eine Revolution an Dynamik zu gewinnen, die geeignet schien, einen Sozialismus nicht-stalinschen Zuschnitts freizusetzen und so die innerrussische Opposition mit einem starken Argument zu ermächtigen. Diese spanische Entwicklung traf die Moskauer Führung völlig unvorbereitet. Wäre die Vernichtung der revolutionären Avantgarde von langer Hand geplant gewesen, hätte Stalin nie auf einen so idealen Angeklagten wie Victor Serge verzichtet – der als prominenter Anhänger Trotzkis seit 1933 in Haft gewesen war, aber im Frühjahr 1936 plötzlich hatte ausreisen dürfen. (Serge starb elf Jahre später in Mexiko unter ungeklärten Bedingungen.)
Mit der „großen Säuberung“ von 1936 bis 1938 ergänzten die Bolschewiki den „trockenen Thermidor“ von 1921, auch den hatten sie schon selbst vollzogen, nun durch einen „feuchten“. Danach wusste nur noch die Führung, was ursprünglich mit Sozialismus gemeint gewesen war.
Und auch das spanische Problem konnte gelöst werden: Um auf jeden Fall zu verhindern, dass der spanische Bürgerkrieg zu einer sozialistischen Alternative führte, wurde die KP Spaniens gepresst, die in Moskau ausgegebene Formel – erst Sieg im Bürgerkrieg, dann Revolution – durchzusetzen. Wenige Monate vor dem Hitler-Stalin-Pakt war die spanische Gefahr gebannt.

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Stalin, der Virtuose der verdeckten Offensive, fand in Hitler, ursprünglich ein heimlicher Bewunderer Stalins, seinen Meister: Ihm gelang es als einzigem, Stalin in die Defensive zu zwingen. Auch bei der Vernichtung Wehrloser wurde Stalin – zumindest in der Breite der Opfergruppen – von Hitler zeitweise überrundet; ein von Stalin 1953 bereits eingeleiteter Massenmord an der jüdischen Bevölkerung des Ostblocks wurde nur durch seinen plötzlichen Tod nicht verwirklicht. Sonst hätte Israel heute eine Million Einwohner weniger.
Durch das Bündnis mit Nazi-Deutschland 1939 prostituierten die Bolschewiki nicht nur endgültig die sozialistische Idee, sondern überließen dem neuen Verbündeten auch ganz Europa als Beute – bis der so stark war, sich auf die Sowjetunion zu stürzen. Den Preis ließen die Bolschewiki die Völker der Sowjetunion zahlen. Sie und keineswegs Stalin (er heimste lediglich den Sieg ein) gewannen mit einem unvorstellbar hohen Blutzoll den Krieg und wendeten so eine zweite „mongolische Unterjochung“ ab.
In ihrem im Krieg eroberten neuen Einflussbereich achteten die Bolschewiki darauf, dass nirgends ein Sozialismus entstehe, der ihre eigene Herrschaft desavouiert. Und wieder nahm der Terror Fahrt auf – dieses Mal in Bulgarien, Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und Polen. Im deutschen Teilstaat – auch wenn hier wie überall sonst galt, wo gehobelt wird, fallen Späne, – verlief die Entwicklung ein wenig anders. Da sich die deutschen „Eliten“ beinahe vollständig in die Arme der Nationalsozialisten geworfen und ab 1944 auf die Flucht gen Westen begeben hatten, gab es – wohl einmalig in einer Industriegesellschaft – plötzlich deutlich mehr „gehobene“ Stellen als Bewerber. Für Vertriebene, Umgesiedelte und (vornehmlich sächsische) Arbeiter – vor allem für Jugendliche aus diesen Gruppen – bot diese Trümmergesellschaft wenn auch nicht eine kollektive Emanzipation, so doch einen großen Raum für individuellen sozialen Aufstieg, der – mit lebenslanger Dankbarkeit vergolten wurde. Nicht zuletzt deshalb spielte, anders als in allen anderen Ländern des „real existierenden Sozialismus“, in der DDR Korruption fast keine Rolle. Diese Generation hat die DDR weitgehend selbstlos aufgebaut und ging dann – in die bundesdeutsche Rente.
Stalins Tod schien noch einmal Hoffnung zu bringen. Chruschtschow, zwar selbst ein Massenmörder, zögerte aber nicht, den „Sozialismus der Galgen“ auf seine Weise zu reformieren: Er kehrte zu einer bonapartistischen Diktatur zurück, entließ Millionen Zwangsarbeiter und kurbelte den Wohnungsbau an.
Dieses Mal hatte die Diktatur die Funktion, einen halbwegs geordneten Rückzug zu ermöglichen. Denn: Alle Gegner waren niedergeworfen, und trotzdem war nichts gewonnen, außer einer Weltmacht, die aber nicht das Ziel der Revolution gewesen war.
Dass der Weg von einer bonapartistischen Diktatur nicht zu einem Sozialismus mit menschlichem Wesen weiterging, hatte wenig mit dem autoritären, jähzornigen und zum Größenwahn neigenden Chruschtschow zu tun. Die Abschaffung aller politischen Freiheiten schon zu Beginn der russischen Revolution hatte Strukturen hervorgebracht, die nur funktionieren konnten, wenn die politischen Freiheiten abgeschafft blieben. Die politische Unfreiheit war dem real existierenden Sozialismus strukturell tief eingeschrieben. Jeder Versuch, sie zu beseitigen, musste nicht nur die Strukturen, sondern das ganze System wegfegen.
Mitunter wird in diesem Zusammenhang von „strukturellen Defiziten“ gesprochen – ein Euphemismus. Diese Strukturen hatten keine Defizite, sie waren ein konstituierender Bestandteil, ohne den nichts ging. Die langen Jahre zwischen 1953 und 1989/91 vollendeten die absteigende Phase der Revolution von 1917, in der sich die Erben der weitgehend ermordeten Bolschewiki auf ihre neue Rolle in einem entfesselten russischen Kapitalismus vorbereiteten.
Gorbatschow hat viel politischen und unpolitischen Unsinn getrieben und trägt deshalb Verantwortung für die Gestalt des russischen Kapitalismus von heute – ihn jedoch für den russischen Kapitalismus an sich verantwortlich zu machen, hieße, diesem Mann etwas anzudichten, was selbst weniger schlichte Geister unmöglich vermocht hätten.
Ihrer ewigen Furcht vor dem nächsten Thermidor entkamen die Bolschewiki erst, als sie ihn 1991 selbst vollzogen. Allerdings offenbarte sich schnell, dass sie viel zu schwach waren, mittels einer bürgerlich-parlamentarischen Staatsform zu herrschen. Deshalb musste im Jahre 2000 neuerlich zu einer bonapartistischen Herrschaftsform übergegangen werden – dieses Mal mit der Funktion, die Klassenverhältnisse so weit zu entfalten, bis eine bourgeoise Diktatur in Form parlamentarischer Demokratie lebensfähig ist. Der Prozess dauert an.

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Die Stahlbäder, durch die die sozialistische Idee seit 1917 gezogen wurde, haben vor allem eines bewirkt: Bei den Unterdrückten, Ausgebeuteten, Entrechteten und Gedemütigten löst diese Idee alles Mögliche aus, nur zweierlei nicht: Hoffnung und Sehnsucht. Das ist aber die einzige Kraft, über die in der Geschichte emanzipatorische Ideen gewirkt haben: Nur wenn sie die Massen ergriffen, wurden sie zur materiellen Gewalt.