von Stephan Wohanka
Es mehren sich Stimmen, die befürchten, dass das Polen Jarosław Kaczyńskis der EU den Rücken kehren könnte. Insofern erschienen auch die Konflikte mit der EU um die unterschiedlichen „Reformen“, zuletzt die des Justizwesens, in einem anderen Licht – als Anzeichen eines möglichen Ausstiegs aus Europas Strukturen und in Teilen auch Werten. Und, noch wichtiger, sie könnten Vorboten eines strategischen Konzepts zur Neuordnung Ostmitteleuropas sein.
Es ist bekannt und war auch schon Gegenstand im Blättchen, dass die gegenwärtige polnische PiS-Regierung eine so genannte Geschichtspolitik betreibt. Um deren Substanz anhand eines Musterfalles zu charakterisieren: Paweł Lisicki, Chefredakteur der Wochenzeitung Do rzeczy (Zur Sache) spricht davon, dass der Holocaust in Gestalt einer „Holocaust-Religion sakralisiert“ werde. Das sei für viele Nationen, die unter dem nationalsozialistischen Deutschland gelitten hätten, schlimm, besonders aber für Polen: „Während im Zweiten Weltkrieg nach verschiedenen Schätzungen rund sechs Millionen Juden gestorben sind, waren es zwischen zwei und drei Millionen Polen. Also immerhin ein Drittel der jüdischen Opfer. Nehmen wir hinzu, dass Polen nach dem Krieg seine Unabhängigkeit de facto verloren hat, dass seine Elite vernichtet wurde, dass seine Grenzen verschoben wurden. Dann sehen wir, wie gigantisch diese Verluste waren.“ Diese Sicht auf Polens Geschichte solle bewirken, dass die Polen wieder „patriotischer“ fühlen sollten. Wobei man wissen muss, dass das „Nach dem Krieg seine Unabhängigkeit verloren, seine Elite vernichtet und seine Grenzen verschoben“ Chiffren sind für die sowjetische sprich russische „Hegemonie“ über Polen während und vor allem nach dem Kriege.
Deutschland und Russland sind also sozusagen die historisch-politischen Subjekte, um die sich die gesamte polnische Geschichtspolitik grundsätzlich dreht; der geografische Raum derselben die Territorien dazwischen. Und mit beiden Ländern sind die Beziehungen entweder schon schlecht oder auf dem Wege dahin: Schon schlecht bezüglich Russlands, wobei namentlich der Flugzeugabsturz von Smolensk dies neuerlich bewirkte; ein Unglück, das Kaczyńskis Zwillingsbruder sowie die polnische „Elite“ das Leben kostete. Und schlechter werdend bezüglich Deutschlands – der die EU dominierenden Macht, die Polen beständig am nationalen Zeuge flicke. Hinzu kommt die Gas-Pipeline „Nord Stream“, die Russland über die Ostsee direkt mit Deutschland verbindet und die Polen, auch aus Sicht der EU wohl nicht ganz zu Unrecht, als ein Projekt einer deutsch-russischen Allianz auf Kosten Polens, der Ukraine und anderer Staaten in der Region sieht.
Polen könnte eigentlich ein wichtiges politisches und wirtschaftliches Bindeglied zwischen Deutschland und Russland sein, doch es verdirbt es sich mit beiden – treibt es sich so nicht wieder in eine „splendid isolation“, gerät es nicht wieder zwischen den deutschen und den russischen „Mühlstein“? Zumal Kaczyńskis „blanke Missachtung für das Gesetz“ sich nicht aus persönlicher Verworfenheit speist, „sondern aus der traumatischen Erfahrung jenes tödlichen Rechtsversagens, das sein Land durch Deutsche und Russen erlitten hat. Später hat er diesen Nihilismus durch die begierige Lektüre von Carl Schmitt und Nicolo Machiavelli genährt, den Theoretikern der Feindschaft sowie der Lüge im Dienst des Vaterlandes.“ Das sagt Konrad Schuller, Polen- und Osteuropakenner, seit 2004 FAZ-Korrespondent für Polen und die Ukraine. Man kann ihm glauben; ist Kaczyński dann aber nicht vollends verrückt?
Nein, ist er nicht! Polen lässt schon länger keinen Zweifel daran, dass es seine Sicherheitsbedürfnisse am besten bei den USA aufgehoben sieht. Wobei Donald Trumps erratische Verlautbarungen in Sachen NATO auch in Polen einige Irritationen auslösten. Nach dessen Besuch in Warschau jedoch scheint Polens Ausrichtung wieder klar transatlantisch zu sein, zumal Trump Mitte Juni dem rumänischen Präsidenten Klaus Johannis bei dessen Besuch im Weißen Haus zusicherte: „Wir sind da, um zu beschützen. Ich bekenne mich absolut zu Artikel 5“, des NATO-Paktes. Auch die Warschau-Visite gab er damals bekannt; verbunden mit der Ankündigung, dass er an der „Drei-Meere-Initiative“-Konferenz teilnehmen werde. Diese Initiative, deren Namen auf die drei Meere Ostsee, Schwarzes Meer und Adria rekurriert, wurde im August 2016 auf Bestreben Polens und Kroatiens ins Leben gerufen. Auf ihrer ersten Konferenz in Dubrovnik verständigten sich die Mitgliedsstaaten erst einmal auf Projekte wie den Bau von Flüssiggas-Terminals in Kroatien und Polen inklusive einer Pipeline sowie auf die „Via Carpathia“, eine Straße, die Litauen mit der Ägäis verbinden soll. Mit seiner Teilnahme am zweiten Treffen der Initiative am 6. und 7. Juli in Warschau zeigte Trump, dass er sich von den westlichen EU-Ländern abwendet und auf der Suche nach neuen europäischen Verbündeten ist. Denn seine Polenvisite „ersetzte“ einen England-Besuch bei Theresa May und fand nur einen Tag vor dem G20-Gipfel in Hamburg statt. Und diese frischen Freunde wiederum sind dankbar für die internationale Aufmerksamkeit, die Aufwertung ihres strategischen Konzepts, das dieses durch Trumps Anwesenheit erfuhr: Die „Drei-Meere-Initiative“, auch „Intermarium“ genannt, knüpft an einen vom polnischen Marschall und Quasi-Diktator Józef Piłsudski nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten, damals „Międzymorze“ (Zwischenmeer) genannten Vorschlag eines konföderierten, vorwiegend slawischen Staatengebildes an, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen sollte; daher der Name. Diese Überlegungen revitalisierte Kaczyński, um eben nicht wieder isoliert zwischen die „Mühlsteine“ zu geraten; mehr noch – primus inter pares zu sein, denn Polen versteht sich als natürliches Zentrum der osteuropäischen Politik. Die eingangs erwähnten Reformen verstünden ihre Urheber dann als notwendige Festigung und Sicherung des polnischen Staatswesens, um dieser Rolle „gestärkt“ gerecht werden zu können. Hinzu kommt, dass Polen 2018 das hundertjährige Jubiläum seiner staatlichen Wiedergeburt in Folge des Ersten Weltkriegs nach der Zeit der polnischen Teilungen feiern wird. Vor der Aufteilung der Ersten Rzeczpospolita, einer polnisch-litauischen Union, zwischen Preußen, Russland und dann auch der Habsburgermonarchie dominierte Polen den Raum zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Alte Träume könnten wieder wahr werden … eben Geschichtspolitik!
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