20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Nochmals Kohl:
Bei Volksabstimmung 7 zu 3 – dagegen

von Herbert Bertsch

Robert Musil lässt einen „Mann ohne Eigenschaften“ so charakterisieren: „Niemals kam für ihn geistiger Umsturz, grundsätzliche Neuerung in Frage, sondern stets nur Verflechtung ins Bestehende, Besitzergreifung, sanfte Korrektur, moralische Neubelebung des verblassten Privilegs der in Geltung befindlichen Mächte.“ Musil steuert dankenswerterweise unsere Ungewissheit darüber, was – nach der Beschreibung – das Wesen solcher Menschen mit oder ohne Charakter ausmacht: „Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann.“ Da kann man leicht auf Helmut Kohl kommen – gewiss kein Alleinstellungsmerkmal für ihn, aber eben auch. Der vorzeitig zur Unperson geschrumpfte deutsche Staatsmann und Europäer war am Ende eingefangen: Europa kein Staat – wie geht da Staatsakt? Irgendwie ging’s doch, und fertig – so schien es. Aber Menschen werfen Schatten, auch auf andere.
Zum Verständnis für diesen Beitrag als Nachfolge eines vorherigen: Es war fast Redaktionsschluss vom Blättchen Ende Juni, als ich dort um eventuelles Interesse an einer Reminiszenz zu Kohl nachfragte. Nach kurzem Gespräch war Eile angesagt. Die nächste Nummer würde am Montag nach den Wochenend-Feierlichkeiten für und mit Kohl am 1. Juli erscheinen. Die Bitte des Autors um Aufschub wurde abgelehnt mit der redaktionellen Vorhersage, ab Montag sei der Hype (Hype: „Eine Form der Werbung, die … besondere Begeisterung für das Produkt bei Verbrauchern hervorruft“) vorbei. Recht hatte die Redaktion. So war das Blättchen eine der ganz wenigen deutschen Gazetten, die am Montag noch etwas Substanzielles zu Kohl anboten. Nun nochmal was zu Kohl, Mittelbares.
Es gibt – zwar nicht in der meinungsbildenden Öffentlichkeit, aber dennoch – eine Diskussion, inwieweit Verhaltenseigenschaften, wie etwa von Musil beschrieben, auf die Gegenwart bezogen systemischer Natur sind und bei der Institution „Bundeskanzler“ in unserer Gesellschaft wirken. Also ähnliches Verhalten von unterschiedlichem Personal, auch Repräsentanten verschiedener politischer Parteien, etwa beim großzügigen Umgang mit demokratischen Verpflichtungen gegenüber dem Souverän, zumal wenn Entscheidungen als „alternativlos“ ausgegeben werden. Der Begriff ist im Wesen keineswegs eine neue Erfindung, wie auch nicht die sorgfältige Abstinenz des Herrschaftsapparats von unmittelbaren Volks-Entscheidungen mit der Begründung, die repräsentative Demokratie sei auch gegen erklärten Willen und zu Lasten der Betroffenen funktionsfähiger und in der Auswirkung vortrefflicher als „Volkes Wille“. Wenn es darauf ankommt, „was hinten rauskommt“, können Diktaturen ihre Ziele selbst mit offener Repression kaum besser erreichen als unsere Gesellschaft; zumeist mit begleitender Propaganda, die allgemeine Fürsorge sei das Maß der Dinge bei Entscheidungen, nicht etwa die Durchsetzung von Lobby-Interessen mit staatlichem Ausgleich, falls die Auswirkungen zu krass ausfallen. Der Staat ist ja vorgeblich zum Schutz der Schwachen „erfunden“ worden; Starke setzen sich schon durch. Soweit das Modell, für die politische Praxis freilich „reformiert“.
Nehmen wir beispielhaft die Dieselaffäre, die sich von zunächst geforderter  Bestrafung von schuldigen Unternehmen und Personen zum größten Geschäft der Automobilbranche entwickelt. Auch mit dem klassischen Argument „Erhaltung von Arbeitsplätzen“ wie bei der Rüstungsproduktion üblich, jetzt aber angereichert um das hehre Ziel der „Rettung der Welt“ vermittels Eliminierung ganzer funktionsfähiger Autoflotten zugunsten kompletter Neuproduktion und Flutung des kurzzeitig reduzierten Marktes statt technisch möglicher Nachrüstung; also Produktionsgarantie plus Sozialisierung eventueller Verluste. Welche Perspektiven! Man schaue sich die Börsenwerte der Automobilkonzerne an. Da dort Erwartung gehandelt wird, ist die mögliche Furcht der Anleger vorab  bereits in Optimismus umgeschlagen. Dies unterfüttert mit der Verkündung bester Geschäftsergebnisse und zu erwartender Dividenden. Dazu die unverhohlene Mahnung, das Land der „Autokanzler“ habe schließlich diesen Ruf zu wahren: Koste, was das wolle!
Auslöser für das Nachdenken hinsichtlich des systemischen Elements beim Verhalten der Institution „Bundeskanzler“, sozusagen ihre DNA (DNS), ist eine Dissertation, die in Verbindung mit Kohls Ende etwas Öffentlichkeit gewann, weil der Autor ein weitgehend unbekanntes Gespräch mit dem Altkanzler vom 14. März 2002 dokumentiert und wertet. Allerdings war bei dem zeitweiligen Interesse kaum von dem prinzipiellen Anliegen des Autors die Rede. Das Werk diente mehr als Quelle weiterer Liebenswürdigkeiten Kohls gegenüber seinen Mitmenschen: Richard von Weizsäcker – „einer der größten Anpasser in der Geschichte der Republik“; Hildegard Hamm-Brücher – die „schreckliche Dame da aus München, die ja wie eine Halbwilde durch die Gegend geifert“; Joschka Fischer – „zutiefst antisemitisch“. Zu Walther Leisler Kiep, den er mit Erfolg zum Gespräch mit mir zwecks Aufnahme inoffizieller Gespräche mit der DDR bevollmächtigt hatte, hieß es nur: „korrupt“. Fast kläglich versuchte der auch betroffene Wolfgang Thierse anlässlich Kohls Tod ironisch was Gutes am Verstorbenen ausmachen zu können. Der Berliner Zeitung sagte er in seiner üblichen „Sowohl-als-auch“-Manier: „Er hat die Ostdeutsche Angela Merkel und mich beschimpft. Aber er hat auch die Westdeutschen Heiner Geißler und Norbert Blüm beschimpft.“ Endlich die versprochene Gleichstellung!
Unter dem Sammeltitel „Bilanz einer gescheiterten Kommunikation“ hat der Journalist Jens Peter Paul im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt 2010 „Fallstudien zur deutschen Entstehungsgeschichte des Euro und ihrer demokratietheoretischen Qualität“ vorgelegt. An Beispielen – insgesamt rund 350 Seiten, darunter neben dem Interview mit Kohl solche auch mit Oskar Lafontaine und Theo Waigel -– kommt er mit Kapitel 13 zum Resümee: „Kein Ruhmesblatt der deutschen Demokratie“. Die von Paul Befragten, außer Lafontaine, sehen die Nutzung auch die Demokratie gefährdender Aktionen zum Wohle des Volkes in Erfüllung ihrer Amtspflichten positiv. Dazu passt wieder was von Musil: „Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich – aber nicht alle waren eben Bürger.“ Manche sind auch heute wie selbstverständlich freier im Umgang mit den verkündeten „Werten“, womit ich nicht den innenministeriellen Hinweis meine, dass man hier zur Begrüßung die Hand reicht, wenngleich auch dies als Symbolik – sich unbewaffnet zu zeigen – nicht gering geschätzt werden sollte. Veranlassungen zunehmend.
Der beanspruchte Hauptaspekt der benannten Dissertation ist nicht die inhaltliche Wertung der Entscheidungen, sondern, wie man sie in solcher Position und sich selbst dabei durchsetzt, ohne ständig an die Grenzen des Erlaubten zu denken. Von solchen moralischen Skrupeln hatte Konrad Adenauers Innenminister Robert Lehr (1950–1953) bereits seine Polizisten freigesprochen und sich selbst bewusst „Polizeiminister“ tituliert. Gut zehn Jahre später, Anfang September 1963, prägte einer seiner Nachfolger, Hermann Höcherl, das eindrucksvolle Bild, Verfassungsschützer könnten nicht „den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“. Man kennt die passende Volksweisheit „Wie der Herre, so das Gescherre“ – geht auch umgekehrt. Adenauers Umgang mit den drei Stufen von Wahrheit wurden vor Jahren schon im Blättchen vorgestellt. Jetzt Kohl: „Das politische Leben läuft so: Demokratie hin, Demokratie her. Wahlen hin und her. Repräsentative Demokratie kann nur erfolgreich sein, wenn irgendeiner sich hinstellt und sagt: So ist das. Ich verbinde – wie ich – meine Existenz mit diesem politischen Projekt. Dann hast du automatisch in der eigenen Partei eine ganze Reihe von Leuten, die sagen: Wenn der fällt, falle ich auch. Das ist dann nicht das Thema Euro – das ist die Lebensphilosophie.“ Kohl, nicht nur als „Einheitskanzler“, sondern auch von sich selbst gern als Vater des Euro apostrophiert, zu dessen Geschichte: „Natürlich habe ich gewusst, dass der Euro in Deutschland nicht mehrheitsfähig gewesen ist.“ In Ostdeutschland wäre der Euro schon deshalb abgelehnt worden, weil die Deutschen dort erst seit kurzem die D-Mark erhalten hatten, für die sie immerhin eine Revolution gestartet hätten. „Eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro hätten wir verloren. Das ist ganz klar. Ich hätte sie verloren. […] Eine Volksabstimmung hätte ich natürlich verloren, und zwar im Verhältnis 7 zu 3.“ Kohl versicherte dem Befrager zugleich die Richtigkeit seiner damaligen Entschlossenheit‚ am Ende eben ohne demokratische Legitimation zu siegen. Freilich, so Kohl, müsse man dazu das Format haben: „Schäuble hatte das nicht. […] Wenn einer Bundeskanzler ist, will etwas durchsetzen, muss er doch ein Machtmensch sein. […] In einem Fall war ich wie ein Diktator, siehe Euro, in einem Fall war ich ein Zauderer, habe alle Probleme ausgesessen.“ (Kohl-Zitate und Zusammenfassungen des Autors der Dissertation sind hier nach den Deutschen Wirtschafts Nachrichten vom 9. April 2013 wiedergegeben.)
Die Ära Kohl, die Persönlichkeit Kohl sollte nun spätestens ab Montag, dem 3. Juli 2017, nur noch als „Geschichte“ taugen. Aber wie steht es einige Wochen später um den systemischen Aspekt beim Kanzlertun? Dafür rufen wir die Kronzeugin mit Einlassung vom 14. August auf, hier nach Fokus-Online zitiert: „Persönlich angefasst zeigt Merkel sich nie. Ob ihr die Kritik zusetze, durch ihre Flüchtlingspolitik habe sie Europa auseinander getrieben, erklärt sie erst einmal, was in den vergangenen Monaten alles gut gelaufen sei in Europa und dass mit Blick auf die Verteilung der Flüchtlinge noch dicke Bretter zu bohren seien. Erst auf Nachfrage wehrt sie einfach ab, es wäre doch wohl auch kaum so gewesen, dass alle freudig Flüchtlinge aufgenommen hätten, wenn man sie vorher gefragt hätte.“ Warum dann erst fragen?
Angela Merkel tat und tut, was ihre Vorgänger getan haben, und vermutlich wird ihre Nachfolge in dieser Kontinuität ähnlich handeln: Immer als „alternativlos“ und  beste Lösung. Hätte Kanzler Gerhard Schröder seine grundlegenden Reformen dem Volk zur Abstimmung vorlegen sollen? Hätte Kanzler Helmut Schmidt den Nachrüstungsbeschluss vorab diskutieren lassen sollen? Hätte Kanzler Willy Brandt den Radikalenerlass von einer Volksbefragung abhängig machen sollen? Kanzler oder Kanzlerin befragen gemäß bundesdeutscher Werteordnung vor wichtigen Entscheidungen das eigene Volk oder andere Staaten, falls des Sieges gewiss; andernfalls geht’s ohne. Und das scheint bereits der Normalfall zu sein, in Deutschland.