20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Bemerkungen

Kurze Notiz zu Gräfenhainichen

Wenn die Protestanten, Lutheraner und Evangelikalen im Herbst nach Wittenberg pilgern, um die Reformation und ihren Glauben zu feiern, werden viele von ihnen zwangsläufig an Gräfenhainichen vorbeikommen. Die Stadt liegt direkt zwischen Wittenberg und Dessau und erstreckt sich bis zur sächsischen Grenze. Ausgedehnte Heiden und Seen gehören zum Stadtgebiet, Häuser und Einwohner weniger.
In Gräfenhainichen ist seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr viel passiert. Damals brannte das kursächsische Schloss nieder, danach wurde ein bisschen nach Kohle gebuddelt, bis sich das nicht mehr lohnte. Die Kohlezeit war zu kurz, um der Stadt großartigen Wohlstand und Zuzug zu verschaffen: Mehr als ein paar Plattenbau-Straßenzüge sind nicht zusammengekommen.
Sich seiner historischen Bedeutung durchaus bewusst, konzentriert sich das Werben der Stadt um Touristen auf mickrige Türme, eine Postmeilensäule, den Marktbrunnen und Paul Gerhardt. Wer also seine Urlaubsziele nach den Geburtsorten barocker Kirchenlieddichter auswählt, ist in Gräfenhainichen ganz richtig, wenngleich nur auf Voranmeldung. Denn das Geburtshaus des Dichters steht nicht regulär offen.
Gräfenhainichen hätte also nichts zu bieten, wenn da nicht Ferropolis wäre: die Stadt aus Eisen. Eigentlich handelt es sich um ein Freilichtmuseum, das im Wesentlichen von vier im Quadrat aufgestellten Tagebaumaschinen gebildet wird. Die rostenden Fahrzeuge lassen erahnen, mit welch gigantischen technischen Anstrengungen das längst geflutete Kohlerevier erschlossen wurde. Ferropolis zieht aber nicht nur Nostalgiker und Technikfans an, sondern auch Konzertgänger. Festivals wie das Melt! oder Splash! locken bundesweites Publikum nach Gräfenhainichen.
Das hat die Kleinstadt der Region und eigentlich dem ganzen Bundesland voraus: Wer jung und unternehmungslustig ist, kennt ganz sicher Ferropolis. Aber eben nicht Gräfenhainichen, denn wenn im Sommer mehrmals doppelt so viele Festivalbesucher anreisen, wie die Stadt Einwohner hat, zelten die Partyfreunde direkt vor den Tagebaumaschinen, kommen aber nicht in die eigentliche Stadt. Und im beschaulich und ärmlich verödenden Gräfenhainichen selbst scheinen keine Bemühungen unternommen zu werden, daran etwas zu ändern. Das kann man wahlweise schön unverfälscht finden oder auch sehr unambitioniert.

Thomas Zimmermann

Laternenkampf

Nichtsahnend aus dem Urlaub zurückkehrend, werde ich auf der Fahrt durch Berliner Straßen von der Ankündigung überrascht, Karlshorst wähle XY. Die Überraschung weicht der Besinnung auf die bevorstehende Bundestagswahl: Der Wahlkampf hat begonnen, sichtbar am Kampf um die Laternenmasten. Aber warum müssen Herr oder Frau Karlshorst aller Welt von jeder zweiten Laterne mitteilen, dass er oder sie sich für XY entschieden hat? Die Wahl ist schließlich geheim und die Stimmen werden nicht ortsteilweise im Konsens abgegeben. Als ich am Tierpark vorbeifahre, wird mir die Kunde zuteil, dass auch Lichtenberg den jungen Mann namens XY wählt. Mir schwant, dass es sich nicht um die Bekenntnisse einzelner Personen handelt, sondern dass vielmehr XY höchstselbst und seine Partei die Auftraggeber der Plakate sind. Früher wurde solche Werbung als Aufruf formuliert: „Wählt XY!“ Heutzutage wird der Aufruf quasi als Anordnung, als Befehl formuliert.
Ich ahne schon, dass mir der Kandidat auch im heimischen Hohenschönhausen – derselbe Wahlbezirk – als überlebensgroßes Porträt entgegenlächelt. Tatsächlich: „Hohenschönhausen wählt XY“. Und was, wenn nicht? Werde ich im Weigerungsfall aus Hohenschönhausen ausgewiesen, exmittiert? Vor allem: Woher nimmt der Kerl dieses Selbstbewusstsein? Zumal er mir mit keinem Wort verrät, warum ich ihn wählen sollte. Da verlässt er sich offenbar ganz auf die Zugkraft seiner Parteichefin: Frau Merkel ist nämlich „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Wer wäre das nicht?
Zugegeben, die Wahlaussagen auf den Plakaten anderer Bewerber sind auch nicht aufschlussreicher: „Unsere Heimat – unser Auftrag“ – „Heimat mit Zukunft!“ – „Die Zukunft kommt nicht von allein“ … Wüssten Sie die Phrasen auf Anhieb drei verschiedenen Parteien zuzuordnen?
Übrigens teilen sich die Wahlbewerber die Laternenmasten in meinem Stadtbezirk mit den Einladungen von Circus Busch und der frohen Verheißung „Hüpfburgen kommen in Ihre Stadt!“ Im Brandenburgischen wird alternierend das Gauklerfest in Storkow angepriesen. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.

Achim Höger

Weddinger Superhelden

In den Zeiten sozialer Bedrohung kam in den dreißiger und vierziger Jahren in den USA die Rettung in Gestalt von Comic-Helden mit übernatürlichen Kräften. Was sagt es über unsere Zeit aus, dass die Superhelden in den letzten Jahren in Filmadaptionen zu Blockbustern werden? Definitiv beantworten können die Parodisten im Prime Time Theater diese Frage auch nicht, und doch kann das Stück „Die Weddingers“ (angelehnt an „Die Avengers“) einen Gedankenanstoß geben. Der Briefträger Kalle mutiert als „Captain Wedding“ zu einer Art Captain America für Arme, und Imbissbudenbesitzer Ahmed ist zwar nicht Iron Man, setzt aber seine Kräfte als „Ayran Man“ ein, um den Wedding, wenn nicht gar ganz Berlin, vor dem Bösen zu retten.
Das ist nicht unintelligent, macht gute Laune und reizt zum Lachen. Ausstattung und Filmeinspieler nötigen Bewunderung ab. Und doch scheint sich Autor Philipp Lang (unter anderem auch als der gefährliche „Thür“ auf der Bühne) etwas überhoben zu haben. In die Superhelden-Parodie hat er vergnügt so viele Personen und Motive gepackt, dass der Zuschauer schon mal durcheinanderkommen kann. Schließlich gibt es mehrere Ebenen mitzudenken. Spaß macht es aber allemal.
Doch etwas Wehmut mischt sich auch darunter. Daniel Zimmermann (Ayran Man), seit Jahren wesentliche Stütze des Ensembles, nimmt mit dieser Inszenierung (vorerst?) Abschied vom Prime Time Theater. Der 32-Jährige sucht neue Herausforderungen – gut für seine Entwicklung, schlecht für das Stammpublikum. Dafür kann man sich auf Neuentdeckungen freuen.
Die Weddingers, Prime Time Theater Berlin-Wedding, nächste Vorstellungen 31. August bis 3. September, 20.15 Uhr.

Frank Burkhard

Gedanken zu einem weiteren Pressefoto

Terrorakt in der Fußgängerzone „Las Ramblas“ im Herzen Barcelonas am 17. August. Ein Lieferwagen rast über die berühmte Flaniermeile. Die traurige Bilanz: 14 Tote und mehr als 100 Verletzte. Rund um den Erdball sind die Erschütterung und die Trauer groß.
Zwei Tage später erscheint in der Presse ein dpa-Foto vom Tatort. Trauernde hatten Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet. Hunderte Neugierige umringen die Stätte und haben nichts anderes zu tun, als ihre Fotoapparate und Handys in die Luft zu recken, um einen Schnappschuss vom „Schauplatz“ einzufangen. Ist das die moderne Trauerbewältigung? Eigentlich ist Trauer eine Zeit der Stille, des Schmerzes und der inneren Einkehr. Hier verkehrt sich Trauer jedoch in Neugierde, in die Gier nach einem Bild von dem schrecklichen Geschehen. „Ich war vor Ort“ und kann es meinen Freunden und Bekannten beweisen. Voyeurismus statt Anteilnahme.

Manfred Orlick

Medien-Mosaik

Kann man Ödön von Horvath acht Jahrzehnte nach seinem Tod noch vom Blatt verfilmen? Michael Knofs getreue Adaption „Jugend ohne Gott“ vom Beginn der neunziger Jahre wirkt heute trotz guter Schauspieler altbacken. Der aus der Schweiz stammende Regisseur Alain Gsponer und seine Szenaristen Alex Buresch und Matthias Pacht gingen einen anderen Weg. Sie verlegten die Auseinandersetzungen eines Lehrers und seiner Schüler in die nahe Zukunft. Das Individuum zählt nur noch so viel, wie es allen nützlich sein kann. Mitmenschlichkeit ist zum großen Teil verloren gegangen. Eliten werden an Privatschulen herangezüchtet, wer nicht spurt, fällt durch den Rost, quält sich an der Regelschule. Freundschaften können sich nicht mehr entwickeln. Soziales Gespür wird nicht verlangt. Was bei Horvath noch die Warnung vor Faschismus war, ist jetzt die Vision eines neoliberalen Überwachungsstaats. Die düstere Utopie erzählen die Filmemacher aus dreierlei Blickwinkeln hintereinander, so dass sich stets neue Details erschließen. Dabei wird das Gewicht der Handlung auf den sensiblen Schüler Zach (Jannis Niewöhner) verlagert. Ob die Besetzung des Lehrers mit dem türkischstämmigen Fahri Yardim glücklich ist, sei dahingestellt. Durch sein deutliches Anderssein verkörpert er nicht mehr die von Horvath angestrebte Durchschnittlichkeit. Trotzdem ein Film, der weit über den Durchschnitt herausragt.
Jugend ohne Gott, Regie Alain Gsponer, Verleih: Constantin Film, ab 31. August in zahlreichen Kinos.

*

Hans Moser (der 1931 den Zauberkönig in der Uraufführung von Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ spielte) ist eine so einmalige Legende des österreichischen Theaters und Films, dass seine Filme fast täglich in einem der vielen deutschsprachigen Sender laufen und seine oft für ihn geschriebenen Wiener Lieder häufig in den Spartenprogrammen des Rundfunks laufen. Er war bis ins hohe Alter ein Kassenmagnet, und blieb es auch mehr als 50 Jahre nach seinem Tod. Darum kommen auch immer wieder neue Bücher mit ihm und über ihn heraus. Das neueste ist ein Bildband von Danielle Willert, die zuvor mit einem Peter-Alexander-Buch Erfolg hatte. Sie durfte im Filmarchiv Austria stöbern und hat einige schöne teils schwarzweiße, teils farbige Fotos und Programmhefte gefunden, wobei die versprochenen Plakate mit zwei an der Zahl nicht nennenswert sind.
In bescheidenem Maße gibt die Autorin Angaben zur Biografie, wobei sie auf Mosers Zeit im Nationalsozialismus eingeht, dem er als durch und durch unpolitischer Mensch hilflos gegenüberstand. Immerhin gelang es ihm, seine jüdische Frau zu retten.
Die Bildunterschriften sind mitunter ergänzungsbedürftig, fehlen doch die Namen seiner Partner nicht selten, seien es Hans Adalbert Schlettow, Heinz Salfner, Margarethe Slezak oder Arno Paulsen. Die Bemerkung, „Das Ferienkind“ von 1943 sei Mosers Lieblingsfilm gewesen, ist schwer zu widerlegen. Andere Autoren berichten glaubhaft, es wäre das Tier-Melodram „Herrn Josefs letzte Liebe“ (1959), an dessen Drehbuch der Hundefreund Moser maßgeblich beteiligt war. Auch die Behauptung, „Kaiser Josef und die Bahnwärterstochter“ sei 1963 sein letzter Film gewesen, trifft nicht zu, da dem 1961 gedrehten Fernsehfilm noch ein Kinostreifen mit Conny Froboess und die Schnitzler-Adaption fürs Fernsehen „Leutnant Gustl“ mit der wirklich letzten Rolle folgten. Ein schönes Blätterbuch für den Interessierten, aber nicht mit Akribie verfasst!
Danielle Willert: Hans Moser in seinen schönsten Filmen. Sutton Verlag, Erfurt 2017, 128 Seiten, rund 150 Abbildungen, 20,00 Euro.

bebe

Aus anderen Quellen

Beim Confed Cup im Juni in Russland haben, schreibt Christoph Cöln, „Löws Welpen […] ihre Gegner mit schönstem Tempofußball schwindelig“ gespielt und sogar die Russen verzaubert, „die dem Bundestrainer längst verziehen haben, dass er nur die B-Elf mitgenommen hat“. Das habe auch daran gelegen, „dass der DFB-Chefdesigner einen neuen Typus kreiert hat: den gebildeten Fußballer, dem nichts mehr vom Hautgout der Straße anhaftet, der Armani statt Adiletten trägt, lieber Mandelmilch statt Mariacron trinkt und nicht im Playboy blättert, sondern Paulo Coelho liest. Nationalelf-Anwärter, die zu oft in der Disco erwischt werden oder ihren Pokergewinn im Taxi liegen lassen, schlägt Löw die DFB-Tür vor der Nase zu, egal wie viele Tore sie schießen. Auch rhetorisch sollten sie sich besser nicht allzu oft verdribbeln. ‚Fußball ist wie eine Frikadelle, man weiß nie, was drin ist‘, meinte ein Bundesliga-Stürmer einmal, und spätestens da dämmerte es jedem, dass in einem Kickerkopf so viel Füllung sein könnte wie in einem Fleischklops, nämlich gar keine. Inzwischen äußern Nationalspieler sich ganz selbstverständlich zum Weltgeschehen.“
Christoph Cöln: Dumm kickt gut – bei Löw gilt das nicht mehr, WELT.N 24, 02.07.2017. Zum Volltext hier klicken.

*

„Am 15. Dezember 2015“, so beginnt Tobias Timm seinen Bericht über einen Kriminalfall und Kunstskandal der ganz besonderen Art, „verschwindet am helllichten Tag ein wertvolles Kunstwerk aus einem Ausstellungsraum des Museums Berlinische Galerie in Berlin-Kreuzberg. Zwei Jahrzehnte lang hat es an der Wand gehangen […].“ Es handelte sich um das Relief „Ohne Titel (Synthetisches Musikinstrument)“ Wladimir Wassiljewitsch Lebedews, der zur Avantgarde im nachrevolutionären Sowjetrussland der 1920er Jahre zählt. Auf 300.000 Euro sei der Wert des Kunstwerkes 2001 bei einer Ausleihe beziffert worden. Und weiter – zum Verschwinden: „Das Musikinstrument wird nicht etwa gestohlen. Der Leiter des Museums lässt das wertlos gewordene Werk entfernen. Denn das Synthetische Musikinstrument, so hat sich kurz zuvor herausgestellt, stammt gar nicht von Wladimir Wassiljewitsch Lebedew. Es ist eine Fälschung. Und es ist nicht die einzige. Die Berlinische Galerie ist nur einer der Schauplätze in diesem ungewöhnlichen Kriminalfall, in dem es nicht um Raub geht, sondern um Betrug, um einen der größten Fälschungsskandale der Nachkriegszeit. Museen und Galerien wurden hintergangen, auch Händler und Sammler, die für die fraglichen Werke viele Millionen Euro bezahlten.“
Tobias Timm: Kunstfälschung: Ist das echt? In deutschen Galerien und Kunstmuseen sind Fälschungen aufgetaucht, ZEIT.ONLINE, 19.07.2017. Zum Volltext hier klicken.