von Ines-Jacqueline Werkner et al.**
Dieses auf den 2. Mai 2017 datierte Memorandum wurde im Auftrag der EKD von einer Arbeitsgruppe an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) erarbeitet.
Die Redaktion
Die Entwicklungen Europas mit seinen sicherheitspolitischen Herausforderungen und dem Scheitern der EU-Nachbarschaftspolitik – sowohl im Osten als auch im Süden – erfordern ein prinzipielles Umdenken: Notwendig ist eine gesamteuropäische Friedensordnung, gestützt auf kooperative Sicherheitsstrukturen. Das geht über den Fokus auf eine verstärkte Integration der EU-Staaten und dem Versuch der Übertragung des westeuropäischen Modells als Maßstab für ein Zusammenwachsen Europas deutlich hinaus. In Anlehnung an den Leitbegriff der Palme- Kommission von 1982 plädieren wir für die Denkfigur der gemeinsamen Sicherheit. Auch wenn dieses Konzept in der Zeit des Kalten Krieges unter den Bedingungen der Blockkonfrontation und nuklearen Abschreckung entstanden ist, hat es nichts an Aktualität eingebüßt. In gewisser Weise scheint sich die Sicherheitslage in und um Europa sogar noch verschärft zu haben: Nicht nur, dass Krieg in Europa wieder zu einem Mittel der Außenpolitik geworden ist und Streitkräfte nicht nur vorgehalten, sondern mittlerweile eingesetzt werden, auch das atomare Säbelrasseln und das Denken in Kategorien nuklearer Eskalationsdominanz erleben eine Renaissance. Angesichts neuer Kriege und des Emporkommens nichtstaatlicher Akteure gewinnt die Proliferation noch einmal eine ganz neue Dimension. Hinzu kommen neue technologische Herausforderungen: von automatisierten und autonomen Waffensystemen bis hin zum Cyberwar. Auch lassen die zunehmend globalen Herausforderungen wie der transnationale Terrorismus oder der Klimawandel sich nicht mehr allein national bewältigen.
Diese Entwicklungen bestärken die Maxime, dass sich Sicherheit nur gemeinsam herstellen lässt. Im Begriff der gemeinsamen Sicherheit ist der Lösungsansatz des Problems bereits enthalten: Die eigene Sicherheit muss „stets auch die Sicherheit des Nachbarn und des Gegenübers berücksichtigen“ (Dieter Lutz). Sicherheit ist nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander zu suchen. Auf diese Weise geht gemeinsame Sicherheit über die traditionelle Sicherheitslogik hinaus und lässt Momente einer Friedenslogik wirksam werden. Denn Frieden als soziales Phänomen kann nicht durch einen einzelnen – auch kollektiven – Akteur, sondern immer nur gemeinsam verwirklicht werden.
Gemeinsame Sicherheit beruht auf der Akzeptanz wechselseitiger ökonomischer und politischer Abhängigkeiten und auf der gemeinsamen und unteilbaren Verantwortung für den Frieden. Dabei werden – im Gegensatz zur Politik der EU-Integration – gesellschaftspolitische Differenzen anerkannt. Das vorrangige Ziel sind koexistenzielle Beziehungen, bei denen ein Wertekonsens nicht erreicht, ein globaler Interessenabgleich aber möglich wird: „Gemeinsame Sicherheit leugnet nicht den Gegensatz der Sicherheitskontrahenten, sie baut aber auf ihr vernunftorientiertes Miteinander am und im Interesse der Kriegsverhütung“ (Dieter Lutz).
Eine europäische Friedenspolitik durch Schaffung gemeinsamer Sicherheit muss die Sicherheitsinteressen und Bedrohungswahrnehmungen aller Beteiligten mit bedenken und einbeziehen. Das bedeutet auch, jede Seite der anderen „das gleiche Maß an Sicherheit zu[zu]billigen, das sie für sich selbst in Anspruch nimmt“ (Wolfgang Scheler). Das schließt Russland zwingend mit ein, ist doch seine Mitwirkung bei der Bearbeitung der aktuellen Konflikte und Lösung globaler Probleme unerlässlich. Grundbedingung dieses Interessenabgleichs und Basis einer solchen Zusammenarbeit ist der Gewaltverzicht. Der Übergang zu einem gewaltfreien System ist nicht einfach. Dabei muss gerade das überwunden werden, „was durch militärische Potenziale konstituiert wurde“ (Friedensgutachten 2015).
Der wichtigste Schritt zu einem gewaltfreien System ist der politische Dialog. Erst wenn es gelingt, Konfrontation durch Dialog zu ersetzen, kann Vertrauen gebildet und Frieden geschaffen sowie konsolidiert werden und ein partnerschaftliches Europa entstehen. Dabei ist Dialog dort am drängendsten, wo er unmöglich erscheint. Er setzt voraus, den Akteuren – auch den „normativ Anderen“ – ihre Lern-, Reform- und Friedensfähigkeit nicht grundlegend abzusprechen. Vertrauensbildung ist allerdings nicht einfach, muss sie doch unter Bedingungen doppelter Kontingenz hergestellt werden: Da sowohl die Äußerungen und Reaktionen des einen als auch des anderen Akteurs anders ausfallen können als der jeweils andere erwartet, bleibt Vertrauen „eine zunächst einseitige und darum ‚riskante Vorleistung’“ (Werner Stegmaier). Zur Vertrauensbildung gibt es keine Alternative: „Gemeinsame Sicherheit baut auf kooperative und wechselseitige Handlungs- und Verhaltensformen“; das kann auch „einseitige Maßnahmen im Sinne von Selbstbeschränkung und Destabilisierungsverzicht bis hin zu unilateralen (autonomen) Vorleistungen“ mit einschließen (Dieter Lutz).
Neben Vertrauen basiert gemeinsame Sicherheit auf Respekt und Achtung. Das erfordert die Überwindung eines Denkens in Freund-Feind-Schemata und die Fähigkeit, ohne die „Projektion des Bösen“ auszukommen. Gerade jüngere friedenspolitische Forschungen zeigen auf, dass im Konfliktgeschehen auch subjektive Faktoren zum Tragen kommen und die Konfliktlösung wesentlich beeinflussen können – im positiven wie im negativen Sinne. Angesichts dieses Befundes gilt es, „das konstruktive Potenzial menschlicher Anerkennungsbedürfnisse“ (Reinhard Wolf) für eine europäische Friedenspolitik fruchtbar zu machen. Auch dieser Weg ist nicht einfach, denn mit der Anerkennung des Anderen sind auch Risiken verbunden: Die Respektbekundung könnte zu Missverständnissen über den Status von Akteuren führen, als Zustimmung ihrer (aggressiven) Politik gewertet werden und mögliche Transformationschancen verschütten; durch sie könnten sich andere Akteure zurückgesetzt fühlen; oder sie könnte von der eigenen Bevölkerung als unangemessen betrachtet und abgelehnt werden. So besteht die Herausforderung einerseits darin, die normative Differenz auszuhalten. Diese Spannung hat eine lange Tradition. Sie zieht sich sowohl durch die UN-Charta als auch durch den KSZE-Prozess (zwischen dem Prinzip VI der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und dem Prinzip VII der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten). Auch die Responsibility to Protect (R2P) basiert auf der Balance dieser beiden Prinzipien. Andererseits existieren aber auch Grenzen: nicht in der Achtung des Anderen, jedoch in der Anerkennbarkeit seiner Handlungen. Das macht einen wesentlichen Unterschied. Mit der internationalen Schutzverantwortung, der R2P, versucht die internationale Gemeinschaft, genau diese Grenzen aufzuzeigen. Sie zu konkretisieren, wird für die nächsten Jahre eine gemeinsame Aufgabe bleiben.
Gemeinsame Sicherheit ist ein Entwurf, der europäische Sicherheit unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Akteure als Grundlage einer europäischen Friedensordnung denkt. Das stellt zweierlei Anforderungen: „Gemeinsame Sicherheit verlangt als Alternativkonzept nach sofortigen und raschen Veränderungen, gleichwohl ist sie als evolutionärer Prozess zu verstehen, der Destabilisierungen vermeidet, Übergänge sucht und bestehende Strukturen nutzt“ (Dieter Lutz). Dabei ist die Umsetzung gemeinsamer Sicherheit nicht nur eine Aufgabe der politischen Eliten, sondern erfordert zugleich gesellschaftliche Anstrengungen: „Erst wenn die Denkfigur der gemeinsamen Sicherheit Gemeingut und der Bewusstseinswandel weniger zu Selbstverständlichkeit für viele geworden ist, werden die Baumeister die nötige Legitimation für den Umbau besitzen“ (Klaus von Schubert).
* – Auszug. Zum Download des Volltextes hier klicken.
** – Matthias Dembinski, Heinz Gärtner, Sarah Jäger, Hans Misselwitz, Rüdiger Noll, Konrad Raiser.
Schlagwörter: Berliner Memorandum, der Westen, Europa, Frieden, gemeinsame Sicherheit, Russland