20. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2017

Lenin auf Rügen

von Dieter Naumann

Das zweifaches Jubiläum, zum einen Lenins Bahnreise vor 100 Jahren aus dem Schweizer Exil zurück nach Russland, zum anderen die Aufstellung eines typgleichen Waggons vor dem Bahnhof von Sassnitz 60 Jahre später, soll Anlass sein, auf die Hintergründe, die Akteure und den Verlauf der Reise einzugehen.
Deutschland, das im Ersten Weltkrieg einen Zweifronten-Kampf führte, befand sich in der Zwickmühle: Zwar errang man im Osten gegen Russland militärische Erfolge, der Kriegseintritt der USA im Westen stand jedoch unmittelbar bevor – ein Separatfrieden an der Ostfront wurde sofort gebraucht. Für einen Frieden mit der Provisorischen Regierung ohne Annexionen hätte die deutsche Führung allerdings den Traum von der Weltmacht aufgeben müssen, und dazu war sie nicht bereit. Stattdessen unternahm man alles, um Russland von innen her zu destabilisieren; Revolutionierung Russlands nannte man das.
Informelle Kontakte des deutschen Auswärtigen Amtes zu russischen Exilanten gab es bereits seit September 1914 über den deutschen Gesandten in Bern, Gisbert Freiherr von Romberg, und die Gesandten in Dänemark, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, und Schweden, Hellmuth Lucius von Stoedten. Vermeintliche und tatsächliche Zarengegner prahlten damit, sie könnten Meutereien auf der russischen Schwarzmeerflotte anstiften, Aufstände lostreten oder soziale Unruhen schüren. Unter ihnen auch Alexander Helphand, einer der politischen Abenteurer des 20. Jahrhunderts, wegen seiner beträchtlichen Leibesfülle Parvus, „der Kleine“ genannt, der mit wortgewaltigen Artikeln auf sich aufmerksam machte.
Am 15. März 1917 dankte der Zar nach Massenprotesten ab, die am selben Tag gebildete Provisorische Regierung übernahm die Macht. Den Wunsch des Volkes nach Frieden erfüllte die neue Regierung nicht.
Wladimir Iljitsch Uljanow (1870–1924), der sich Lenin (der von der Lena) nach einem Verbannungsort nannte, unternahm nach Ausbruch der Februar-Revolution 1917 in Russland alle Anstrengungen, aus seinem Schweizer Exil nach Russland zu kommen, und war bereit, sofort Druck auf die russische Regierung zum Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland auszuüben, schließlich ging es um die Macht in dem riesigen Land.
Bis dahin hatte Lenin in Zürich nicht viel mehr tun können, als Bücher zu lesen. In der „Zentralstelle für soziale Literatur der Schweiz in Zürich“ findet sich ein so genannter „Bürgschein“, auf dem der Unterzeichner empfiehlt, dem „Uljanoff, Wladimir“, Benutzer Nr. 4585, die Benutzung des Lesezimmers und der Bibliothek zu gestatten. Gleichzeitig bürgt er für Verluste oder Beschädigungen, falls der Nutzer nicht innerhalb einer bestimmten Frist zahlen sollte. Unterzeichner ist am 22. März 1916 ein F. Platten, der noch eine wesentliche Rolle spielen sollte.
Wie aber sollte Lenin nach Deutschland kommen? Eine Rückkehr über Frankreich oder England blieb ausgeschlossen; dort hatte man kein Interesse daran, Lenin, der ein sofortiges Ausscheiden seines Landes aus dem Krieg verlangte, nach Russland zu lassen. Lenin und Genossen fürchteten auch, bei einer Fahrt über Nord- und Ostsee versehentlich von deutschen U-Booten torpediert zu werden. Lenin erwog sogar, sich als taubstummer Schwede auszugeben, inkognito durch Deutschland zu reisen oder mit einem Flugzeug über die Ostfront zu fliegen. Am Ende schloss er sich dem Vorschlag anderer linker Emigranten an, die für die Fahrt mit der Eisenbahn durch Deutschland und Skandinavien plädierten. Dieser Schritt konnte aber nur mit Zustimmung der kaiserlichen Behörden erfolgen, wobei Lenin und die anderen fürchteten, sich zu kompromittieren.
In diesem Zusammenhang wird häufig behauptet, die Idee zu dieser Reise stamme von Ludendorff von der Obersten Heeresleitung. Tatsächlich wies Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg den Gesandten Romberg an, den Revolutionären in der Schweiz die Rückreise über Deutschland anzubieten, die Reichsregierung bot freie Durchfahrt durch Deutschland an und stellte finanzielle Unterstützung in Aussicht, wenn ein Friedensvertrag im Sinne Deutschlands vorbereitet würde. Ludendorff gab nur seinen militärischen „Segen“.
Leider ist es hier nicht möglich, die weiteren Verhandlungen und Akteure zu beleuchten. Der bereits genannte Fritz Platten (1883–1942), ein Schweizer Sozialist, verhandelte die Bedingungen für die Durchreise über Deutschland nach Schweden, er fungierte später auch als Reisebegleiter. Festgelegt wurde unter anderem, dass während der Fahrt durch Deutschland der Eisenbahnwaggon der russischen Emigranten zum exterritorialen Gebiet erklärt werden würde. Zwei Offiziere der Obersten Heeresleitung sollten in einem separaten Abteil des Waggons die Reise überwachen. Ansonsten bestand Lenin darauf, dass es keinerlei Kontakt zwischen den Russen und Deutschen während der Fahrt geben dürfte. Zu den ausgehandelten Bedingungen gehörte weiterhin, dass das Gepäck der Reisenden verplombt und in Deutschland keine Passkontrolle stattfinden werde. Auf eigenen Wunsch fuhren die meisten Insassen dritter Klasse, weil viele von ihnen unbemittelt waren und den höheren Fahrpreis nicht bezahlen konnten. Außerdem ist vereinbart worden, dass die Presse keinerlei Meldung zur Durchreise der Revolutionäre veröffentlichen würde.
Am 9. April 1917, 15.10 Uhr, ging es für die die 32 Frauen, Männer und Kinder vom Züricher Hauptbahnhof los. An der Grenze in Gottmadingen stiegen zwei deutsche Begleitoffiziere in den D-Zugwagen zweiter und dritter Klasse zu. Sie nahmen in einem reservierten Abteil dritter Klasse Platz, das durch einen Kreidestrich auf dem Fußboden von den russischen Abteilen getrennt war. Die Waggontür neben dem Abteil der Offiziere blieb unverschlossen, die anderen drei Türen wurden verschlossen und/oder verplombt.
Da die Raucher unter den Reisenden immer wieder die Toilette blockierten, wurden provisorische Karten zugeschnitten. Nur mit einer Raucherkarte durfte man nun in der Toilette qualmen, Schlangen waren hin und wieder die Folge.
Weitverbreitete Lesart ist, Lenin und seine Mitfahrer seien am 11. April 1917 gegen Abend in Sassnitz angekommen und dort von Sassnitzer Honoratioren am Bahnhof empfangen worden. Die Herren sollen sehr enttäuscht gewesen sein, als ihnen erklärt wurde, dass die russischen „Herrschaften“ keinerlei Kontakt aufzunehmen wünschten und die Nacht über im Wagen bleiben würden. Angeblich war eine leer stehende Villa für die Herrschaften eingerichtet worden, auch ein gutes Abendessen soll auf sie gewartet haben, und die Sassnitzer Herren hatten sich auf einen sensationellen gesellschaftlichen Abend eingerichtet. Sie sollen geglaubt haben, dass irgendwelche russischen Großfürsten im Transport wären.
Diese Episode wird auch von H. Teschke (Gebrauchsanweisung für Rügen und Hiddensee, München 2013) erzählt, der sich dabei auf einen der beiden oben genannten Offiziere, einen Dr. Wilhelm Buhrig, beruft. Bei M. Pearson (Der plombierte Waggon, München 1990) wird stattdessen als zweiter Offizier ein Leutnant von Bühring (nicht Buhrig) neben Rittmeister von der Planitz genannt. Ob die zugegeben amüsante Episode tatsächlich stattgefunden hat, ist nicht sicher: Die Mehrzahl der ausgewerteten Quellen, darunter auch die Reiseerinnerungen von Fritz Platten und des deutsch-polnischen Sozialisten Karl Radek, beschreibt nur kurz, dass man nach Ankunft in Sassnitz die Reise mit dem schwedischen Eisenbahnfährschiff „Drottning Victoria“ fortsetzte. Ein längerer Aufenthalt in Sassnitz wird nicht erwähnt, in einigen Quellen ist vielmehr die Rede davon, dass der Zug eine Nacht in Berlin aufgehalten wurde.
Sofern der Waggon, in dem Lenin und seine Begleiter durch Deutschland reisten, überhaupt beschrieben wird, ist immer von einem Waggon mit zweiter und dritter Klasse die Rede. Zumindest in dieser Hinsicht entsprach der preußische D-Zugwagen in Sassnitz nicht dem Original, er enthielt auch ein Abteil erster Klasse. Bis zu seiner Aufarbeitung stand der Wagen im Hilfszug des Bahnbetriebswerks Saalfeld (Saale). Nach der Wende wurde er bei einer Nacht- und Nebel-Aktion zunächst in einem Lokschuppen in Lauterbach untergestellt, der Anfang der 1990er Jahre abbrannte. Zu dieser Zeit war der Waggon aber bereits nach Dresden und schließlich in das Nürnberger DB-Museum „verschoben“ worden. Inzwischen steht der Wagen am restaurierten Kaiserbahnhof in Wildpark bei Potsdam, ist im Innern zu einem Seminarraum umgestaltet worden und kann nicht besichtigt werden.