20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Hochamt der Transatlantiker

von Detlef Puhl

Wie jedes Jahr vor dem Höhepunkt der Faschingssaison feierte die große internationale Gemeinde der Transatlantiker jetzt wieder ihr Hochamt in München – die „Münchner Sicherheitskonferenz“, die 53. Über 500 Experten versammelten sich im „Bayerischen Hof“; alles, was in der Welt der internationalen Sicherheitspolitik Rang und Namen hat, Freund und Feind, auf engstem Raum. Wie schon oft zuvor, war diese Konferenz auch die erste große Gelegenheit für eine gerade ins Amt gekommene neue US-Regierung, sich und ihre Vorstellungen von der Welt zu präsentieren. So weit, so normal.
Nur – in diesem Jahr war nichts normal. Der neue US-Präsident Donald Trump irritiert seine Freunde und Verbündeten nicht erst seit seiner Amtseinführung vor fünf Wochen, und seitdem fast jeden Tag – mit Tweets, Dekreten, eigenen Presseauftritten und der Präsentation „alternativer Fakten“ durch seine Sprecher. Entsprechend groß waren Bedarf und Erwartung der transatlantischen Freunde, in München Klarheit zu erhalten. Über die Haltung der USA zur Nato, zur EU, zu den Beziehungen mit Russland, zum Krieg im Nahen Osten und in Syrien im Besonderen. Über all die Fragen, zu denen sich der Präsident bereits mehrfach, und zwar mehrdeutig, geäußert hatte.
Der Vorsitzende der Konferenz Wolfgang Ischinger stellte zum Abschluss der drei Tage zwar fest, dass es einige Fragezeichen weniger gebe als zuvor, was ihn schon insoweit zufrieden stellte, als „ein gewisser Grad an Klarheit wieder hergestellt werden konnte“ – wie sich hochrangige Diplomaten eben so ausdrücken. Die US-Journalistin Anne Applebaum von der Washington Post („fake news Medium“ nach den Kriterien von Donald Trump) dagegen wunderte sich, dass „ein Redner nach dem anderen Einigkeit und Zusammenhalt forderte angesichts der schweren Gefahren, vor denen die westliche Allianz stehe. Aber niemand hat es fertig gebracht, die Wahrheit auszusprechen: dass eine der größten Gefahren für die westliche Allianz vom Präsidenten der USA ausgeht.“
Also, was nun? Grund zur Beruhigung? Oder zu Befürchtungen? Zu beidem – wie immer. Als Grund zur Beruhigung mag gelten, dass sowohl US-Vizepräsident Mike Pence als auch US-Verteidigungsminister James Mattis alles daran setzten, um nur ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass die USA zu ihren Verpflichtungen in der Nato und in ihrer Politik gegenüber den Europäern stehen. Mehrfach verkündeten sie als Botschaft ihres Präsidenten, dass sich die Freunde auf Amerika verlassen könnten.
Befürchten muss man, dass die beruhigende Wirkung dieser Bemerkungen dem Umstand zu danken ist, dass sie schon lange bestehende Divergenzen, unabhängig von Trump und seinen Ideen, weiterhin kaschieren. Richtig – das auch hier wieder postulierte Ziel der Nato, die Nationen sollten für Verteidigungsausgaben eine Summe bereitstellen, die 2 Prozent ihres BIPs entspricht, wurde noch 2014 beim Nato-Gipfel in Wales im Gefolge der Ukraine-Krise bekräftigt. Es schadet also nicht, das hier noch einmal zu wiederholen. Man ist sich ja einig.
Keineswegs einig freilich ist man sich im Bündnis darüber, wofür denn dieses Geld ausgegeben werden soll. Also ob etwa mit dem vielen zusätzlichen Geld (in Deutschland entspräche eine Anhebung des Verteidigungshaushalts auf das Niveau von 2 Prozent des BIP fast einer Verdoppelung!) eher Kräfte zur Landesverteidigung gestärkt werden sollten, die dann bei unseren östlichen Nachbarn Präsenz zeigen könnten, was diese seit Jahren wünschen; oder ob mehr Geld in die Fähigkeiten zum Luftkrieg auf Distanz gesteckt werden sollte, die dann unseren Freunden dabei helfen könnten, „den IS in Grund und Boden zu bomben“, wie sich der US-Präsident ausdrückte? Hier ist sie wieder, die alte Frage von 2001/2002 – welchem Zweck dient die Allianz? Schon nach dem 11. September 2001 hielten einflussreiche Leute in Washington die Nato in ihrer damaligen Form für überflüssig. Das Spiel wiederholt sich. Und wofür 2 Prozent vom BIP? Diese Frage blieb unbeantwortet, ja sie wurde gar nicht gestellt.
Doch: Sigmar Gabriel gab zu bedenken, ob es denn wirklich klug sei, dass Griechenland als einer der vier Nato-Staaten – außer den USA noch Großbritannien, Polen und Estland – zwar das 2-Prozent-Ziel für Verteidigungsausgaben erreicht, aber angesichts seiner horrenden Staatsverschuldung zugleich Renten kürzen muss. Nein, das Bekenntnis der USA zur Nato, verbunden mit der wiederholten Forderung nach Steigerung der Militärausgaben, konnte nur scheinbar beruhigen, weil es die Frage nach der Nato-Strategie der Trump-Regierung nicht beantwortet. Und mit wie viel Geld und zu welchem Zweck Trump die Streitkräfte seines Landes, die ja nach seiner Erkenntnis derzeit in desolatem Zustand sind, wieder zu den größten machen will – darüber verloren die seriösen Trump-Vertreter auch kein Wort. Also – die Unsicherheit bleibt.
Und es war sicher kein Zufall, dass Ursula von der Leyen in ihrer Eröffnungsrede ihrem amerikanischen Kollegen für „das klare Bekenntnis des amerikanischen Verteidigungsministers zum transatlantischen Band“ dankte. Nicht den USA, nicht der neuen Regierung, sondern nur ihm persönlich, dem Minister. Denn „die Nato ist nicht selbstverständlich – für Amerika nicht und für uns Europäer nicht.“
Freilich, die große Stunde der Europäer war diese Konferenz auch nicht. Federica Mogherini, die EU-Außenbeauftragte, pries immerhin die EU als „stabilen, verlässlichen, berechenbaren Partner“ für „Sicherheit durch Kooperation“ an. Angesichts der „Konfusion, mit der wir uns konfrontiert sehen“ auch ohne Namensnennung ein nettes Kontrastprogramm, wenn man es so lesen will. Dies braucht allerdings noch einiges an Unterfütterung.
Und auch wenn Sigmar Gabriel und Jean-Marc Ayrault, die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, noch gemeinsam einen Appell unterbreiteten, um die Bedeutung der EU für die Sicherheit und den Frieden Europas zu stärken, sehr konkret wurden sie nicht. Allerdings warf Gabriel in diesem Zusammenhang eine zentrale Frage auf, deren politische Behandlung bisher tunlichst umgangen wurde: „Sind wir als Europäische Union in unseren Handlungsstrukturen und unserem Politikverständnis eigentlich kompatibel mit der heutigen Welt?“ Dies könnte ein kräftiger Impuls für eine umfassende und tiefgreifende Debatte über Wesen und Rolle der Europäischen Union gewesen sein. Es liegt an den Ministern, eine entsprechende Debatte nun zu fördern und auch selbst zu führen.
Im Gegensatz zu früheren Jahren leuchtete Russlands Licht in diesem Jahr klein. Natürlich erinnerte Sergej Lawrow, der ewige Außenminister, an Wladimir Putins Rede in München vor zehn Jahren – als der Präsident das Ende der unipolaren, von den USA dominierten Welt forderte und sich nicht ernst genommen wähnte. Und er versuchte nun, für ein „post-westliches Zeitalter“ zu werben – natürlich, wo doch das „westliche“ Zeitalter selbst im Westen zu Ende zu gehen droht, wenn man den Auftrieb autoritären Gehabes und nationalistischen Denkens in Rechnung stellt. Putin kämpft schließlich schon lange gegen die „westliche Dekadenz“, die ihm und seinesgleichen den Anspruch streitig macht, auch ohne lästige Vertreter direkt im Namen des Volkes zu herrschen.
Immerhin ließ sich Lawrow zu Gedanken für neue Rüstungskontrollvereinbarungen bewegen. Nach all den „snap exercises“ (Überraschungsübungen) der Russen in den vergangenen Jahren in den westlichen Militärbezirken und den jüngsten Truppenverlegungen der Nato nach Osten (zuvor hatte Moskau auch seine Militärpräsenz in den westlichen Bezirken erhöht, insbesondere in der Enklave Kaliningrad/Königsberg) könne man sich doch zusammensetzen und gemeinsam feststellen, wer welche Kräfte wo stationiert hat und dann über Rüstungskontrolle und andere Sicherheitsmaßnahmen verhandeln.
Aber meist ist es von Gedanken zu verbindlichen Vorschlägen ein langer Weg. In München könnte freilich vieles auf den Weg gebracht werden – in den vielen Hinterzimmern, in denen die unterschiedlichsten Delegation zusammensitzen und unbeobachtet miteinander reden, auch streiten können. An Gelegenheiten mangelt es jedenfalls nicht.