20. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2017

Revolutionsängste und Polizeistaat

von Wolfgang Brauer

Adam Zamoyski räumt im Vorwort seines opulenten Bandes ein, dass die Versuchung, beim Schreiben seines Buches über das Europa der Zeit zwischen 1815 und 1848 auf Parallelen zwischen den Politikern der damaligen Zeit und dem heutigen Führungspersonal der modernen Welt hinzuweisen, zuweilen stark gewesen sei. Er verweist aber darauf, dass dann unweigerlich die Gefahr bestanden hätte, „ins Lächerliche abzugleiten“. Nun sind solche Übungen in der politischen Literatur unserer Tage gang und gäbe – und so mancher heutige „Entscheider“ hätte nichts dagegen, mit Otto von Bismarck oder Guiseppe Garibaldi verglichen zu werden. Aber doch nicht mit dem Fürsten Metternich oder gar dem russischen Zaren! Allerdings verbindet Thomas de Maizière, Viktor Orbán und Barack Obama – diese Auswahl unterlag dem Zufallsprinzip, es hätten auch dutzende andere Namen sein können – mit ihrem Kontroll- und Überwachungswahn mehr mit dem paranoiden Strippenzieher der Heiligen Allianz, als sie wohl selbst freiwillig einräumen würden. Selbst Zar Alexanders I. Idee aus dem Jahre 1822, mit einer europäischen Armee den Atlantik zu überqueren, um die rebellischen spanischen „Kolonien zur Räson zu bringen“ (Zamoyski), klingt sehr heutig. Die am 3. Dezember 1823 vom USA-Präsidenten James Monroe verkündete „Monroe-Doktrin“ war in diesem Zusammenhang zunächst nicht mehr als eine deutliche Warnung an die europäischen Kolonialmächte, vom Doppelkontinent gefälligst die Finger zu lassen …
Die Parallelen jedenfalls liegen scheinbar auf der Hand: In einer Zeit, in der die Regierenden zunehmend mit den von ihnen selbst geschaffenen Problemen nicht mehr fertig werden, beschwören sie die enorme Kompliziertheit dieser Welt und rotten sich mit ihren Repressionsideen zusammen. Man kann das „Heilige Allianz“ nennen oder auch „Koalition der…“ von was auch immer. In jedem Falle scheint sich bei ihnen allen im Unterbewusstsein das Gefühl von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände eingenistet zu haben, das letztendlich zu politischen Entscheidungen führt, die dem tatsächlichen Ziel, „Ruhe und Ordnung“ zu bewahren, diametral entgegen stehen. „Regieren durch Hysterie“ nennt Zamoyski das. Auf treffliche Weise führt er die Wirkungen dieser Art des Regierens anhand der Verweigerung einer Wahlrechtsreform in England durch die Tories mit dem erzreaktionären Herzog von Wellington, dem Sieger von Waterloo, an der Spitze vor: Aus Furcht vor jakobinischen Umtrieben und diversen Verschwörungen, die bis zum heutigen Tage quellenmäßig nicht belegbar sind, wurde das Königreich mit einem Netz polizeistaatlicher Maßnahmen überzogen, bis es in der ersten Hälfte der 1830er Jahre tatsächlich vor einem revolutionären Umsturz stand. Dass infolge der durchgreifenden Industrialisierung die soziale Frage in neuer, immer schärfer werdender Form stand, konnten und wollten die „alten“ Eliten nicht begreifen. Dass sie den neuen Wein nur in ihren alten Schläuchen denken konnten, hatten sie mit den heutigen gemeinsam. Das Verständnis für die Forderungen der Zeit ging und geht beiden offenkundig ab. Jedenfalls solange sie politisch am Ruder sind. „Post festum“ sozusagen gelangen sie in ihren Memoiren häufig zu bemerkenswerten anderen Einsichten. Adam Zamoyski nennt auch für das 19. Jahrhundert treffende Beispiele.
Vor einem revolutionären Umsturz jedenfalls empfanden nach dem Wiener Kongress die Herren Europas eine geradezu manische Furcht. Überall witterten sie das finstere Wirken eines „comité directeur“, das natürlich in Paris sitzen musste und hinter dem zumindest die Jakobiner, wenn nicht gar die Illuminaten stecken mussten. Unter völliger Verkennung der tatsächlichen Lage im nachnapoleonischen Frankreich – und der Politik Bonapartes selbst, der die Revolution im Dezember 1799 kurzerhand per Dekret als beendet erklären ließ („Bürger, die Revolution ist auf die Prinzipien, die an ihrem Anfang standen, festgesetzt: Sie ist beendet.“) – befürchteten sie eine Wiederkehr der revolutionären Zustände der Jahre 1792 und 1793. Adam Zamoyski beschreibt auf beeindruckende Weise, wie aus dieser Furcht heraus durch das Restaurationsregime Ludwigs XVIII. in Frankreich die Saat für den als „Julirevolution“ bezeichneten Umsturz des Jahres 1830 gelegt wurde. Der Erfolg der „drei Glorreichen (Tage)“, wie sie in Frankreich noch immer genannt werden, war nicht zuletzt einem dank der polizeistaatlichen Unterdrückungsorgien zustande gekommenen kurzzeitigen Zusammengehen zwischen Bürgertum und proletarischen Unterschichten geschuldet.
Zu Letzteren geht der Autor allerdings auf deutliche Distanz. Den „Mob“ mag er gar nicht, ihm traut er viel zu – allerdings nur Schlechtes. Aufmerksam lesen sollte man aber die zahlreichen von ihm zitierten Beispiele des Missbrauchs der armen Leute durch die Dunkelmänner der Heiligen Allianz: So waren es Bauern, die 1846 in Westgalizien, aufgestachelt von österreichischen Emissären, während des Krakauer Aufstands 2000 polnische Landadlige meuchelten! „Sensen schwingende Bauern“ unterstützten die österreichischen Truppen dann bei der Niederschlagung des Aufstandes. Und das obwohl die liberalen Revolutionäre um Edward Dembowski eine „Bauernbefreiung“ verkündeten… Zamoyski bezeichnet letzteren ebenso wie den später als Kommandeur der badischen Revolutionsarmee 1849 agierenden Ludwik Mierosławski als „unzurechnungsfähig“. Das ist bösartig – seine Einschätzung, dass deren „Pläne phantastisch und zum Scheitern verurteilt waren“, trifft allerdings zu.
Überhaupt wechselt er – der Preis der lockeren Schreibe? – doch mitunter etwas vorschnell in den postumen Zensurengebermodus. Eugène François Vidocq, den Begründer und ersten Chef der französischen Sûreté Nationale, als „Kleinkriminellen“ abzuqualifizieren, geht denn doch an den Tatsachen vorbei. Friedrich Engels schickt der Autor kurzerhand an der Seite Michail Bakunins und Richard Wagners im Mai 1849 auf die Dresdner Barrikaden. Der war zu dieser Zeit aber im Rheinland und beteiligte sich am Elberfelder Aufstand. Solche Fehler und Oberflächlichkeiten sind ärgerlich. Überhaupt geht Zamoyski mit der Europäischen Revolution der Jahre 1848 und 1849 recht stiefmütterlich um. Er hakt sie ab als „eine Reihe zweckopportunistischer Aufstände aus den unterschiedlichsten Beweggründen“. Die Mängel dieser Revolution sieht er recht genau: das Fehlen von für breite Massen verständlichen Zielen, das Fehlen qualifizierter politischer Führungskräfte. „Es gab keine übernationale Zusammenarbeit. Es gab keinen Versuch, die Gesellschaftsordnung umzustürzen. […] Doch die Kräfte der Unterdrückung hatten eine goldene Gelegenheit erhalten, sich zu konsolidieren, und die Polizei war von nun an nicht mehr wegzudenken.“
Für Adam Zamoyski wurde mit den verkorksten Chancen der Mitte des 19. Jahrhunderts die im 20. aufgehende Drachensaat ausgestreut. Macht man als Leser nun das, was der Autor behauptet sich verkniffen zu haben – nämlich mit dem Wissen um Ohnmacht, Lächerlichkeit und die letztendlich katastrophalen Folgen der Politik der Mächtigen von Nikolai I. bis zu den Ferdinanden „beider Sizilien“, die einen längst nicht mehr den gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechenden politischen Status quo aufrechterhalten wollten, die Messlatte historischer Erfahrungen an Heutiges anzulegen –, entsteht ein durchaus düsteres Zukunftsbild. Natürlich hat das etwas mit der sehr tiefgehenden Frustration eines mit analytischem Weitblick begabten Historikers zu tun – der Adam Zamoyski zweifellos ist. Man kann seine Schlüsse ablehnen, zur Kenntnis nehmen sollte man seine Befunde auf jeden Fall. Auch wenn die Geschichte dazu neigt, wie Hegel meinte, sich als Farce zu wiederholen: Eine politische Farce kann sehr blutig sein und heutzutage in eine weltumspannende Katastrophe münden.

Adam Zamoyski: Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit. 1789-1848, Verlag C.H. Beck, München 2016, 618 Seiten, 29,95 Euro.