18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

Erlesenes: Der Wiener Kongress und Otto von Bismarck

von Wolfgang Brauer

In seinem Buch über den „deutschen Krieg“ von 1866 schrieb Theodor Fontane zwar sehr richtig, dass die „Absicht, Preußen in seinen Ansprüchen zu beschränken, […] gleichbedeutend mit Krieg“ gewesen sei. Die „Absichten Preußens“ bewertet er allerdings als „Frage seiner Existenz“, die Österreich „aus seinem alten Eifersuchtsgefühl heraus“ nur nicht voll gewürdigt habe. Preußens Ansprüche definierte unser märkischer Wanderer „nach Kriegsrecht“. Es ging ihm also um die unschöne Legitimation bloßen Raubes.
Diese ur-preußisch getrübte Sicht irritierte nicht nur Fontanes Freund Theodor Storm, sie war auch schon zu Lebzeiten des Autors umstritten. In den Jahren nach 1870 entwickelte der Historiker Max Lehmann einen deutlich kritischeren Blick auf die preußisch-deutsche Geschichte. Der 1845 geborene Lehmann, zu Anfang seiner Laufbahn durchaus durch Heinrich von Treitschke protegiert, startete seine Karriere als Mitglied der „borussischen Fraktion“ der Historikerzunft. Er arbeitete seit 1875 im Geheimen Staatsarchiv Preußens und wurde Redakteur der Historischen Zeitschrift. Lehmann kannte also die Quellen. Dem Vergleich mit ihnen hielten die Wertungen der hohenzollernhörigen Historiker nicht stand. Vielleicht ist es für uns ein Glücksfall, dass Lehmann seine ersehnte Universitätslaufbahn nicht in Berlin, sondern in Göttingen einschlagen musste. Seine zwischen 1906 und 1921 an der dortigen Alma Mater gehaltenen Bismarck-Vorlesungen hätte er in Berlin vermutlich so nicht halten können.
Seine Tochter Gertrud gab sie nach dem Ableben des Vaters 1929 unter dem Titel „Bismarck. Eine Charakteristik“ heraus. Gerd Fesser und Helmut Donat betreuten eine Neuausgabe dieser bemerkenswerten Schrift. Der Titel, den Gertrud Lehmann den Vorlesungen ihres Vaters gab, ist irreführend. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um einen historischen Abriss der Geschichte der unter Otto von Bismarck blutig durchgesetzten Reichsgründung. Lehmann greift bis zur Paulskirchenversammlung der Jahre 1848/49 zurück und beschreibt detailgenau den preußischen Verfassungskonflikt 1859-1866. Dass der 1862 als preußischer Ministerpräsident eingesetzte Otto von Bismarck („Nur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet“, so begründete König Friedrich Wilhelm IV. 1848 seine Ablehnung des altmärkischen Junkers) diesen auf „seine“ Art lösen konnte, schreibt Max Lehmann auch dem Versagen des liberalen Bürgertums zu. Das träumte nach 1848 von der Ernennung seiner Söhne zum Reserveoffizier, wurde so zunehmend militarisiert und „seinen alten Idealen, den demokratischen von 1848, abspenstig gemacht und höfisch-aristokratischen Tendenzen zugeführt“.
Lehmanns fesselnde Darstellung der Reichseinigungskriege selbst, die de facto als preußische Eroberungsfeldzüge begannen, in ihrer sich dann entfaltenden Eigendynamik gehört zu den spannendsten Abschnitten des Buches und begründet auch seine unerhörte Aktualität. Max Lehmann beschreibt, wie vergleichsweise einfach es ist, gordische Knoten der Außenpolitik mit kriegerischen Mitteln zu zerschlagen. Bismarck hatte das vorgeführt – er hatte aber nach Lehmann genug Einsicht, „den Bogen nicht zu überspannen“. Gemeint ist der Bismarcksche Wille, nach dem österreichischen Sieg in der Seeschlacht von Lissa am 20. Juli 1866 Frieden mit Wien zu schließen. Gemeint ist auch sein gescheiterter Versuch, die Annexion Elsaß-Lothringens zu verhindern. In gewisser Weise vereinte der spätere Reichskanzler den berühmten Zauberlehrling und seinen Hexenmeister in einer Person. Heute sind zum Unglück der Menschheit offenbar nur noch Zauberlehrlinge zu finden.

Max Lehmann: Bismarck – Eine Charakteristik, Bremen 2015, Donat Verlag, 352 Seiten, 16,80 Euro.

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Dass die Politik dieses „sich zu Deutschland erweitert“ habenden Preußens (Max Lehmann) bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur auf Land- und „Seelen“-Raub aus war, belegt Adam Zamoyski in seiner Darstellung des Wiener Kongresses, die bereits 2007 bei HarperCollins Publishers erschienen war und jetzt in einer soliden deutschen Übersetzung von C.H.Beck vorgelegt wurde. Der Band schließt sich an das im selben Verlag 2012 erschienene Buch des Autors „1812. Napoleons Feldzug in Russland“ an. Zamoyski berichtet chronologisch. Er beginnt sein Buch mit der Darstellung der nächtlichen Ankunft des von den russischen Schlachtfeldern geflohenen Kaisers am 18. Dezember 1812 in den Tuilerien. Der Rahmen wird mit der Unterzeichnung der Schlussakte des Wiener Kongresses am 9. Juni 1815 geschlossen. Zamoyski blättert ein beeindruckendes Panorama dieser zweieinhalb Jahre auf, die für die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts die Weichen stellen sollten – und deren Langzeitwirkungen, „indem dieses System ganzen Klassen und Nationen ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum vorenthielt“, auch noch das 20. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag mitbestimmen sollten.
Der Wiener Kongress stand von Anfang an im Kreuzfeuer der Kritik: „Die politischen Angelegenheiten werden mit einer unvorstellbaren Leichtfertigkeit behandelt“, zitiert der Autor den dänischen Bevollmächtigten Graf Rosenkrantz. Metternichs rechte Hand, Friedrich von Gentz, sprach von einem schlecht vorbereiteten Kongress, „den ich als eines der schlimmsten Projekte unserer ereignisreichen Zeit betrachte“. Gentz musste es wissen. Er war Sekretär und Protokollführer des Wiener Kongresses. Die 121 Punkte umfassende Schlussakte stellte er zusammen. Sie sind das Ergebnis eines den gesamten Tagungsverlauf umfassenden Streites vor allem der Großmächte Russland, Österreich, Preußen, Großbritannien und Frankreich um die Neuaufteilung des europäischen Kuchens.
Zamoyski schildert diese Zänkereien detailgenau, übrigens auch unter Einbeziehung pikanterer Kongressgeschehnisse – die Bettgeschichten Metternichs und des Zaren Alexander I. sowie anderer größerer und kleinerer Potentaten waren nicht ganz ohne Einfluss auf das Geschehen. Auch Adam Zamoyski nimmt die Akten ernst. Die Nutzung der in der Czartoryski-Bibliothek in Krakòw aufbewahrten Quellen – Fürst Adam Jerzy Czartoryski war Begleiter des Zaren und einer seiner wenigen Vertrauten – sind ein Gewinn für Zamoyskis Darstellung. Die „polnische Frage“ war eines der zentralen Probleme des Kongresses. Um sie herum rankten sich die Ausdehnung des russischen Einflusses nach Mitteleuropa und die Landgier Preußens, das als „Entschädigung“ für die Landverluste durch ein russisch dominiertes Polen ganz Sachsen verlangte, dies nur zur Hälfte bekam – dafür allerdings Gebiete im Rheinland, was nicht ganz unwichtig für die Konflikte nach 1850 werden sollte.
„Man sagt, daß der Kongreß keine Prinzipien habe, und wenn doch, seien es ziemlich schlechte. Anstatt jedem zu geben, was ihm zusteht, versucht man anderen wegzunehmen, was ihnen rechtmäßig gehört“, zitiert Zamoyski die in einem Bericht der Geheimpolizei Metternichs zusammengefasste Stimmungslage in Wien. „Kaum war Napoleon gestürzt, hat man die Interessen der Nationen vergessen und sich nur um die Interessen der Fürsten gekümmert“, urteilte der russische Außenminister Graf Capodistrias. Die preußischen Unterhändler Fürst Karl von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt sahen das ähnlich. Da sich ihre Vorstellungen eines demokratisch strukturierten deutschen Bundesstaates noch nicht einmal ansatzweise realisieren ließen, setzten sie auf einen preußischen Gebietszuwachs um (fast) jeden Preis. Dahinter stand die Vision, dass ein entsprechend großes Gewicht Preußens dem Prozess der Reichseinigung eine nicht aufhaltbare Eigendynamik verleihen würde.
Ausgerechnet Otto von Bismarck, der das „Wiener System“ endgültig zerschlagen sollte, hat diesen Gedanken – auf seine Art – realisiert. Polen musste noch bis 1918 warten. Und die Verhandlungen von Jalta um seine „Westverschiebung“ erinnern verteufelt an das Wiener Gefeilsche. Zamoyski hat recht: Wer heutige Politik in Europa in manchen ihrer tückischen Verästelungen verstehen will, der muss sich auch mit dem Wiener Kongress befassen. Adam Zamoyskis Buch kann dabei helfen.

Adam Zamoyski: 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongreß, München 2014, C.H.Beck, 704 Seiten, 29,95 Euro.