von Herbert Bertsch
„In meinem Lied ein Reim käme mir fast vor wie Übermut“
Bertolt Brecht: Schlechte Zeiten für Lyrik, 1939
Dem Schmerz des Dichters waren Kampfansage und Aufruf beim „1. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur“ am Abend des 21. Juni 1935 in Paris voraus gegangen, sich der Realität zu stellen:
„Kameraden, denken wir nach über die Wurzel des Übels! […] Viele von uns Schriftstellern, welche die Gräuel des Faschismus erfahren und darüber entsetzt sind, haben diese Lehre noch nicht verstanden, haben die Wurzel der Rohheit, die sie entsetzt, noch nicht entdeckt. Es besteht immerfort bei ihnen die Gefahr, daß sie die Grausamkeit des Faschismus als unnötige Grausamkeit betrachten. Sie halten an den Eigentumsverhältnissen fest, weil sie glauben, daß zu ihrer Verteidigung die Grausamkeiten des Faschismus nicht nötig sind. …Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!“
Nicht alle Kollegen waren seiner Meinung und bereit, diesen materiellen Zusammenhang von Kultur und sonstiger Gesellschaft zu akzeptieren, von der sozial-ökonomischen Bedingtheit nicht erst zu reden.
Bis in die Gegenwart gibt es eine fast heilige Scheu in Deutschland zu erkennen und auszusprechen, dass das „nationalsozialistische System“, gern so politisch- ideologisch definiert, in seinem Grundcharakter eine Form und Methode von Herrschaftsausübung des ordinären Kapitalismus war. Mit Wachstum, Profit und mörderischem „Wettbewerb“ auch bei den Eigentumsverhältnissen; Arisierung einbegriffen, wobei das Abwicklungsgeschäft über den Staat nebst Gesetzgebung, weniger über die führende Partei erfolgte. Da gab es die Arbeitsteilung, wonach die „Partei mit ihren Gliederungen“ und die gleichgeschaltete Publizistik die Funktion der „Aufklärung und Propaganda“ hatte, am Profit auch die neue Politikerkaste, aber im Verhältnis stärker als sie, privatkapitalistische Institutionen beteiligt waren. Dies erweiterte sich organisch durch die Ausbeutung der eroberten Staaten und sonstigen Gebiete, die direkt oder mit tributpflichtigen Vasallen besetzt waren.
Auch wenn es damals dem deutschen Volksgenossen kaum anders vorstellbar schien: diese Art der Herrschaftsausübung war zwar folgerichtig deutsch, aber keineswegs alternativlos, wenn es um den Vergleich kapitalistischer Praktiken geht, gerade auch im Konkurrenzgeschehen. Neben der andersgearteten Sowjetunion waren es ja andere und letztlich dem deutschen überlegene kapitalistische Gesellschaftssysteme, die den militärischen Sieg errangen und in Westdeutschland das bei ihnen übliche Modell des Kapitalismus installierten oder es zu installieren zuließen, wobei wiederum erstaunlich viel Kontinuitäten gewahrt blieben, oder – Beispiel Deutsche Bank – rasch wieder hergestellt wurden. Das hat mit Interessen zu tun. Deshalb gab es zum Beispiel den „Marshall-Plan“ als Belohnung für die nahtlose Einfügung in den antikommunistischen Block und überdies aktive Zustimmung zum „deutschen Weg nach Westen“ auf der Basis des entwickelten Kapitalismus, dessen Widersprüche freilich eingeschlossen.
Nicht wenige Deutsche und solche, die es schnell werden wollten, hielten und halten das Modell prinzipiell für „alternativlos“ und vermuten deshalb auch fälschlich, dies sei im Grundgesetz fundamental fest- und vorgeschrieben wie in der BRD (alt) und nach dem Beitritt in ganz Deutschland praktiziert. Und so abwegig ist diese Vermutung ja auch nicht, weil die Verfolgung angeblich verfassungsfeindlicher Betätigung, etwa Agitieren für die Einheit Deutschlands zu Adenauers Zeiten, als „verfassungswidrig“ streng geahndet wurde. Und zusätzlich im Vollzug: Der Beamte kann ja nicht ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, wie Bundesinnenminister Höcherl 1963 belehrte.
Es gibt – auch am Beispiel Deutschlands zu exemplifizieren – keine Vorschrift für eine einheitliche Art und Weise der kapitalistischen Herrschaftsausübung, also nicht nur so, wie sie Brecht aus damaliger Sicht zutreffend charakterisierte.
„In Wirklichkeit bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese zwei Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten. … Nicht aus böser Absicht einzelner Personen und nicht zufällig geht die Bourgeoisie von der einen Methode zur anderen über, sondern infolge der radikalen Widersprüche ihrer eigenen Lage.“
Das steht in einem Artikel der „Swesda“ vom 16. Dezember 1910, Unterschrift: W. Iljin. Leider fand diese Analyse später wenig gebührende Beachtung.
Das sind, theoretisch verarbeitet, seinerzeitige Erfahrungen, gerade ohne Anspruch auf historischen Determinismus. Real kannte Lenin ja weder die ausgefeilte liberale, „schlauere“ Form der Herrschaftsausübung noch deutschen kapitalistisch fundierten „Nationalsozialismus“ oder noch später die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ als einseitigem Demokratieprinzip. Lenin hat das anpassungsfähige kapitalistische Herrschaftsprinzip vorab annähernd so beschrieben, wie es noch heute wirkt. Aktuelles Beispiel: Zwei Parteien in den USA. Wen man da auch wählt – an der Grundstruktur bewegt sich dadurch wenig.
Es wäre müßig, hier aufzuzählen, was derzeit die Existenz der Menschheit als Gattung bedroht – mit dem Merkmal, dass man die Gefahren kennt, in Worten anerkennt, aber so weitermacht wie bisher. Stichworte: Wachstum (bei allen!), Herrschaft von exklusiven Gremien innerhalb und außerhalb von Staatswesen oder ähnlichen Gemeinschaften.
Wen kann es da ernstlich verwundern, dass tatsächliche oder vermeintliche Gefährdungen besorgte Menschen zur „Opposition“ hintreiben, die unter unseren Gegebenheiten aber auch keine Lösungen anbietet. Im Herrschaftssystem ist das auch nicht vorgesehen, da dies Eliten vorbehalten, die ihrerseits versagen. Dies Deutschland ist das Beste und Erfolgreichste, das es je gab, und mangels Bedarf daher alternativlos. Das ist und soll der Hauptbefund und dessen Wahrnehmung bleiben.
Offenbar gibt es in dem Gesellschaftsbereich, der seinerzeit für Lenin komplex „die Bourgeoisie“ war, aber die ahnungsvolle Befürchtung, die Parteiendemokratie und die aktuellen Handlungen der Politik in Deutschland seien nicht dauerhaft dazu angetan, die Heilsversprechen zu realisieren, und probiert eine „Alternative“ aus. Keineswegs eine grundlegende, die etwa die Eigentumsverhältnisse antastet (deshalb die schärfsten Forderungen nach Verzicht auf Erbschaftssteuern im Programm der AfD), sondern diese durch harte Politik „gegen linke Experimente“ eher stärker sichern will. Angedeutet wird auch eine andere Akzentuierung der Außenpolitik im Programm, ohne Wechselverpflichtung. Hauptsache anders als jetzt – egal wie.
Im Wesen also Fleisch vom Fleische der Etablierten. Was dabei an Frontleuten, was an Fußvolk, was an auf neue Karrieren hoffenden Politstars, an „Überläufern“ agiert und womit: das wechselt, auch mittels Einwirkung „der Wirtschaft“. Was die aktuellen Kampagnen anlangt, als Reaktion auf fehlerhafte offizielle Politik oder aus Eigeninitiative, da wird zwar auch „Wir sind das Volk“ tätig; hauptsächlich aber geht es darum, was Frau Petry und Herr Gauland personalisiert artikulieren. Nicht der Gegensatz von Arm und Reich, nicht der von Ost und West drängen zum Durchbruch: Für oder gegen Merkel, darin fokussiert sich der eigentlich weitergehende Anspruch, „wir sind die bessere, die richtige CDU“. Die gegenwärtige erfülle nicht oder nicht mehr die zentrale Aufgabe der Besitzwahrung und dessen Mehrung als „nationales Anliegen des Volkes“, so jedenfalls propagiert. Wer aber ist Volk?
Aktuell vollzieht die AfD dazu einen Paradigmenwechsel im Erscheinungsbild. Nachdem sie in „Ostländern“ jene Proteststimmen abgefischt hat, die man eigentlich als Linken-Reservoir vermutete, geriert sie sich im Westen als das, was sie ist: Eine mittelstand-basierte Systempartei als Alternative zu einer aufgeweichten Groko oder gar zu Rot-Grün-Rot. Also auch als Drohpotenzial gegenüber jenen, die „dran sind“ und sich deshalb heftig wehren. Gegenwärtig macht sich das Establishment aber erst mal mit dieser Botschaft an das Staatsvolk ran: Seid zufrieden, wie es ist – könnte alles doch viel schlimmer sein. Und wenn es doch …? Auch gut! Dann übernimmt eben die Kampfreserve die Geschäfte.
Schlagwörter: AfD, Bertolt Brecht, Demokratie, Faschismus, Herbert Bertsch, Kapitalismus, W.I.Lenin