von Erhard Weinholz
Vor einigen Wochen habe ich in einer alten Nummer der Po svetu, einer Lernhilfe für den Russischunterricht, ein Bild aus dem Jahre 1951 entdeckt, das mir in ganz besonderem Maße zeittypisch zu sein scheint: Pjotr Isaakewitsch Rosin, Lenin und Stalin am Rasliw-See. Links der See, am Ufer ein Boot und darin der Bootsführer, der Arbeiter Jemeljanow, der uns den Rücken zukehrt, also gesichtslos bleibt. In der Mitte, auf festem Boden noch, in Frontalansicht Lenin, daneben dann Stalin; der Maler hat genau den Augenblick abgepasst, wo die beiden einander die Rechte reichen. Man kennt solchen Handschlag von Pressefotos: Da wird nicht einfach Tschüs gesagt, da geht geschichtlich Bedeutsames über die Bühne. Fast könnte man meinen, Stalin gebe Lenin eine Botschaft, einen Auftrag gar mit auf den Weg. Denn Rosin beherrschte eine Kunst, die seinerzeit hoch im Kurse stand: In Bildern solcher Art Lenin in die Mitte zu stellen und dennoch zu erreichen, dass Stalin zur Hauptfigur wird. Er ist hier nämlich, auf die wirkliche Körpergröße umgerechnet, gut zehn Zentimeter größer als Lenin – tatsächlich waren es nur drei. Und er erscheint, anders als dieser, im Profil; versteht sich, dass es ein höchst markantes ist.
Rosin hätte Stalin auch anders darstellen können, schräg von hinten zum Beispiel, im sogenannten verlorenen Profil. Aber dann hätte er sich die Geschichtsfälschung wohl ganz sparen können. Denn dass Lenin damals, in den letzten Julitagen des Jahres 1917, von Stalin zum Rasliw-See geleitet worden war, ist meines Wissens eine Erfindung. Zugleich fehlt auf dem Bild jener bekannte Mitkämpfer, der ihn tatsächlich begleitet hatte, Grigori Sinowjew nämlich. Kurz zuvor war die Juli-Offensive der Bolschewiki gescheitert, die Provisorische Regierung hatte deren Presse verboten, auf Lenin hohes Kopfgeld ausgesetzt. Die nächsten dreieinhalb Wochen kampierten die beiden, von Jemeljanow und seinen Kindern versorgt, als Illegale in einer Laubhütte am östlichen Ufer des Sees, gut dreißig Kilometer nördlich vom revolutionären Petrograd. Die ganze Episode hatte bei aller Gefährlichkeit etwas Abenteuerlich-Romantisches an sich, sie ist dann auch in die Literatur eingegangen und verfilmt worden. Zeitgleich erschienen 1960 zwei Bücher zum Thema, das eine hierzulande, das andere in der SU: Auguste Lazars Jura in der Leninhütte und Emmanuil Kasakewitschs Das blaue Heft.
Auch bei Auguste Lazar hat Sinowjew am Rasliw-See nichts zu suchen; als er ein paar Wochen später namenlos auftritt, verwirft er mit giftiger Stimme den Aufstandsbeschluss des ZK. Kasakewitsch dagegen, der sich ganz auf die Zeit in Rasliw beschränkt, erzählt eine andere Geschichte: Sinowjew übernimmt bei ihm eine der drei Hauptrollen, gibt aber neben Lenin und Jemeljanow eine eher klägliche Figur ab. Vielleicht war er ja tatsächlich so: unpraktisch, kein Freund der Kinder und vor allem schwach und unentschlossen. „Im Grunde genommen“, läßt Kasakewitsch ihn denken, „sind wir doch nur ein Häuflein Intellektueller, ringsum das unermeßliche Rußland mit seinen habgierigen Großbauern, versoffenen Handwerkern, ekstatischen Betbrüdern.“ Und korrupten Beamten, hätte er noch hinzufügen können. Doch immerhin tritt er nicht mehr, wie zuvor im Kurzen Lehrgang, als Faschistensöldling und Abschaum der Menschheit auf – Kasakewitschs Buch stand, so vermute ich, im Zusammenhang mit der zweiten Entstalinisierungsphase in den Jahren um 1960. Dazu passt, dass Stalin nur ein einziges Mal erwähnt wird: Er soll, so hat es das ZK beschlossen, Ende Juli auf dem VI. Parteitag der SDAPR (B) das Hauptreferat halten, und der wichtigste Mann der Partei stimmt dem zu.
Auf Deutsch erschien Das blaue Heft im Lenin-Jahr 1970 beim Jugendbuch-Verlag Neues Leben. Es wurde – Parteigeschichte hat mich schon damals interessiert – eines der ersten Bücher meiner Bibliothek und hat alle Säuberungsaktionen überstanden. Das Geschehen ist einprägsam erzählt, der Streit zwischen den beiden Illegalen – Aufstand: Ja oder Nein? – leicht zu begreifen, und Lenin-Sätze wie „Gott verhüte, dass unsere Partei sich dazu versteige, ihre Politik hinter verschlossenen Türen zu machen […] sozusagen, wir sind gescheit, wir wissen alles, für die Massen aber reicht auch die halbe Wahrheit“ las man gern. Aber was war ein Kampfbündler? Was hatte es mit den Aprilthesen auf sich? Wer war Dan? Anmerkungen fehlen; es war nicht opportun davon zu reden, dass eine ganze Reihe derer, die in diesem Buch erscheinen, später ermordet wurden: nicht nur Sinowjew, sondern auch zwei verdienstvolle Bolschewiki, die Lenin in Rasliw besucht hatten, und zwei der Jemeljanow-Kinder.
Schon in der SU war die Entstalinisierung im Interesse der Parteiherrschaft nur halbherzig betrieben worden, die Ursachen und Funktionen des Terrors diskutierte man allenfalls intern. In der DDR blieb man noch dahinter zurück. Zwar verschwanden von den Wänden die Stalinbilder und aus den Bibliotheken die bekannten dreizehn braunen Bände, doch Stalins Wort galt oft genug weiter, und der Umfang der Verbrechen in der SU wurde nicht einmal annähernd deutlich. Erst recht nicht redete man von den Opfern hier im Lande, rehabilitiert wurden sie, wenn überhaupt, nur ganz unzulänglich, die Verantwortlichen amtierten weiter. Immerhin wurde in der Zeit um 1960, ich war damals zehn oder elf, die Aufklärung noch ein Stück weit vorangetrieben: Eine Schar guter Jungpioniere, zu denen auch ich zählte, traf sich dazu an unserer Schule mit einem Arbeiterveteranen. Die Einzelheiten habe ich vergessen, wahrscheinlich wurde, wie üblich, allein der Kult um Stalins Person kritisiert. Damals nannte mein Vater auch einmal – aus gutem Grunde nur zu Hause – seinen Vorgänger im Amt des Schuldirektors, Herrn B., einen alten Stalinisten. Die Stalinisten, so stellte ich mir vor, waren eine Art Sekte, deren Tun etwas Krankhaftes und Verwerfliches an sich hatte – und so jemand lebte mitten unter uns und ging die gleichen Wege wie wir. Die Sache war mir unheimlich und hat mich noch lange beschäftigt.
Das Wort Stalinist ist, anders als Leninist, fast von Anbeginn an immer nur als Schimpfwort gebraucht worden. Das hat, so vermute ich, auf verschiedenerlei Weise auch mit der Persönlichkeit der beiden Namensgeber zu tun. Es gibt nur wenige Fotos, die Stalin neben Lenin zeigen. Das bekannteste, erstaunlich, dass es überhaupt öffentlich wurde, entstand 1922 in Gorki; Lenin: ein schwer zu deutendes Lächeln, Stalin: zynisches Grinsen. Und doch waren sie beide von gleichem Holz. Lenin sei „hart gegen die Feinde, aber nur gegen die Feinde“, lässt Kasakewitsch einen Rasliw-Besucher sagen. Das Prinzip kannten schon die Volkstümler: Den Freunden des Volkes die ausgestreckte Hand, den Feinden die gepanzerte Faust. Aber wer hält Freund und Feind auseinander und wie? Lenin ließ aus politischen Gründen die Zarenkinder umbringen, Stalin Politbüromitglieder und Volkskommissare; es ist nicht das gleiche, diente nicht unbedingt dem gleichen Zweck, dennoch ist der Unterschied nicht sonderlich groß: Der alte Grundsatz Ohne Tat keine Strafe galt beiden nichts.
Jenes alltägliche Russland, an das Sinowjew in Das blaue Heft denken musste, hat in sich wandelnder Gestalt allen Terror überstanden – war es nicht auch sein Gehilfe gewesen? Zugleich ist die neue Ordnung, genauer gesagt: was davon übrig war, als sich ihre Möglichkeiten erschöpft hatten, vor allem an diesem Russland gescheitert. Ohne mit der Geschichte rechten zu wollen, kann man doch fragen: Was hat der Umweg eigentlich erbracht? Die Industrialisierung? Die hätte, wahrscheinlich nicht ganz so schnell, dafür aber mit weniger Opfern, auch die Bourgeoisie geschafft. Manch anderes ebenso. Vielleicht erweist sich zuletzt nur eines als ganz eigene Leistung dieser gut siebzig Jahre: Eine idealische Literatur zum Blühen gebracht zu haben, die, in welcher Absicht auch immer, den Arbeitenden jene Würde zuschrieb, die in ihrem Alltag oft genug verletzt worden ist. „Was bleibet aber“, heißt es schon bei Hölderlin, „stiften die Dichter.“ Vorausgesetzt, man liest, was sie schreiben.