von Sem Pflaumenfeld
Die Wissenschaft hat festgestellt, dass das Gehirn Unsinn enthält. Als ich gestern Abend auf meiner Couch lag, wurde mir die Idee von Ockhams Rasiermesser in einer Krimiserie vorgestellt. Mein Wortschatz wurde um eine bündige Definition reicher und mein Oberstübchen etwas voller.
Im Zeitalter von Kurznachrichten und Gedanken in Telegrammstil sind kurze Bezeichnungen für menschliches Verhalten praktisch. Auf diese Art können wir mit dahin geworfenen Worten schnell Einigkeit über den verhandelten Gegenstand erzielen. Wir lassen uns glauben, dass wir das Selbe meinen. Die Soziologie hat in den letzten Jahrzehnten Begriffe für menschliche Reaktionen gefunden, die mehrere Jahrhunderte alt sein dürften. Der Dunning-Kruger-Effekt zum Beispiel bezeichnet populärwissenschaftlich das Verhalten von Menschen, die mit Gusto ihre eigene Unwissenheit sowie die Kompetenz anderer unterschätzen und sich damit gleichzeitig selbst überschätzen.
Mit dem Auftauchen von Pegida, AfD und Co in den sozialen Netzwerken macht auch die Benennung „Schrödingers Nazi“ die Runde. Diese mag eine Ableitung von Godwins Gesetz sein. Der Rechtsanwalt Mike Godwin meinte einmal, dass, je länger eine Onlinediskussion dauerte, desto größer die Chance würde, dass ein Hitler- oder Nazivergleich herangezogen wird. In Ableitung von „Schrödingers Katze“, deren Leben oder Tod nur durch einen Blick in die Kiste belegt werden kann, offenbart sich der so Benannte nun im Laufe einer Facebook-Diskussion mit seinen oder ihren eigenen Worten.
Poes Gesetz verweist auf die Nähe von Satire zur Realität. Bei einigen Aussagen lässt sich nicht mehr sagen, ob das ernst gemeint ist oder doch nur ein Witz. Das Anzeigen von Ironie und Sarkasmus muss deswegen oft durch Emoticons, also kleinen Gesichtern, die Emotionen ikonographisch darstellen sollen, ausdrücklich gekennzeichnet werden. Manchmal ist der Postillion, eine satirische Onlinepublikation, die ehrlichste und ernsthafteste Berichterstattung, der Menschen glauben wollen. Eines ihrer Gerüchte, dass Kanzlerin Angela Merkel die AfD-Gründung in Auftrag gegeben hätte, erreichte die höchsten Führungskreise jener Partei selbst und musste offiziell dementiert werden. Im Internet ist die absurdeste Aussage die wahrscheinlichste geworden.
Der Philosoph und Theologe William of Ockham (1288–1347) nun stellte als Vertreter der Spätscholastik einige erkenntnistheoretische Überlegungen an. Sein Sparsamkeitsprinzip ist als „Ockhams Rasiermesser“ in den populärwissenschaftlichen Diskurs um Wahrheitsfindung eingegangen. Seine spätmittelalterliche Ordnung basiert auf dem aristotelischen Denken, dass die Welt nach logischen und rationalen Prinzipien aufgebaut ist. Gott, der diese Welt als eine der möglichen erschaffen hat, handelt rational und nicht willkürlich nach menschlichen Maßstäben. „Entia non sunt multiplicanda sine necessitate“, wurde ihm auch von Leibniz als Leitspruch zugeschrieben: „Seiende Dinge [Entitäten – d.A.] sollen nicht unnötig vervielfacht werden.“ Was nach ihm als Prinzip des Rasiermessers, das Unnötiges wegschneidet, interpretiert wurde, war bei Ockham lediglich die Mahnung zur Vorsicht bei theoretischen Überbauten. Es geht bei dem Rasiermesser um das Gegenteil zum Schwadronieren: Je mehr Worte für die Erklärung einer Erkenntnis gebraucht werden, desto unsinniger ist sie. So sind Wetterbedingungen zur Analyse eines des Nachts auf die Straße gefallenen Baumes eher wahrscheinlich und mit weniger anhängenden Unklarheiten verbunden als zum Beispiel Raumschifflandungen. Letztere mögen für andere Phänomene als Theoreme plausibel erscheinen, wohl jedoch nicht für den Zustand des Bewuchses in deutschen Wäldern.
Um sich Diskussionsverhalten im Internet selbst erklären zu können, haben Menschen wie ich recht willkürlich und manchmal gegen die ursprüngliche Intention des Namensvaters deren Bezeichnungen benutzt. Da sind wir nicht anders als diejenigen, die wir versuchen ironisierend bloßzustellen. Erklärungen zu Plänen, dass Europa mit den herbeigeredeten „Flüchtlingsströmen“ überrannt werden, dass wahlweise George Soros, die Familie Rothschild oder Reptilien hinter dem genetischen Austausch einer deutschen Volksgemeinschaft (wer immer das ist) stecken sollen, werden absurder, je länger man nachhakt. „Cui bono“, „wem zum Vorteil?“, ist eine Frage, deren Beantwortung fahriger wird je komplexer die Erklärungsmuster werden. Wenn ich auf „Die Amis / Russen / Aliens / Flüchtlinge…“ zurückgreifen muss, analysiere ich nicht mehr, sondern fasele ich verschwörungstheoretisch vor mich hin. Vor allem aber geht es dann nicht mehr um ein Erkenntnisinteresse, das mich zu konkreten Handlungen und möglichen Gegenmaßnahmen führen kann, sondern um Bestätigung meines festgefahrenen Weltbildes.
Ein mir sehr lieber Mensch bedauerte vor einiger Zeit wieder einmal das Diskussionsverhalten von befreundeten Menschen online. Einhellig wurde darauf geantwortet, dass Menschen den verbreiteten Unsinn sowieso denken, ihn von Angesicht zu Angesicht vielleicht nur nicht so offensichtlich formulieren würden. Ein anderer weiser Mann hatte einer Bekannten empfohlen, sich die eigenen E-Mails vor dem Versenden zur Sicherheit noch einmal laut vorzulesen. Das würde ich mir bei Meinungen auf Facebook auch wünschen. Denn ich möchte nicht glauben, dass wir uns den Müll in unserem Oberstübchen selbst erzählen, den wir andere zwingen zu lesen.
Manchmal sage ich meinen Schülerinnen und Schüler, dass nicht alles, was sie denken, an die frische Luft muss. Das Internet ist diesem Bild folgend die ausgelagerte Dachkammer unseres Gehirns, die unbedingt gelüftet werden muss. Nur zieht ein solcher Waschtag die Tauben an, die auf die Wäsche scheißen. Damit wird nur mehr Dreck produziert. Eigentlich ist die Wäsche auch nicht wirklich gewaschen, sondern wir umgehen den Waschgang und gehen gleich zum Schleudern über. Das einzige, was damit erreicht wird, ist, dass die Gedanken knittriger und verknoteter werden.
Thilo Sarrazin war mit seinen Büchern noch salonfähig gewesen, als er die Selbstabschaffung Deutschlands herbei fabulierte. Denn warum Menschen, die in Deutschland ein besseres Leben vor Krieg, Ausbeutung, wirtschaftlicher Notlage und Verfolgung suchen, das Land, in das sie flüchten, abschaffen wollen sollten, hat mir noch niemand wirklich erklären können. Menschen werden bei diesem Unsinn zu einer uniformen Masse, die nicht individuell nach eigenen Bedürfnissen oder Interessen handelt. Frauen werden zu Gebärmaschinen, die irgendwie dazu gebracht werden, von „nicht-deutschen“ Männern viele Kinder bekommen zu wollen. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass ich entscheiden darf, ob und mit wem ich mich wie fortpflanze. Der mittelalterliche Theologe Ockham ging von Handlungen von Individuen aus, denen nur der göttliche Wille Grenzen setzte.
Mein kluger Bruder schlug vor einigen Tagen vor, sich gesellschaftlichen Prozessen naturwissenschaftlich zu nähern: Je mehr Menschen an einer Entscheidung beteiligt sind, desto größer ist der Reibungsverlust. Mehr Menschen in einem Prozess bedeuten das Vielfache an Interessen und damit die Gefahr, dass jemand aus Eigennutz eben das (womögliche) Geheimnis nicht wahrt. Doch es wird auch in meinem engsten Umfeld immer schwieriger, gegen eine Irrationalität zu argumentieren, ohne den Menschen ihren Willen zum menschlichen und logischen Denken abzusprechen. Ich kann mich mit ironischen Bezeichnungen darüber lustig machen. Doch mich beunruhigt diese emotive Abwehr von Veränderungen durch die komplizierte Suche nach Schuldigen für das eigene unsichere Gefühl immer mehr.
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