Das Buch über die „Todesflüge“
1994 wurde der argentinische Journalist Horacio Verbitzky in der U-Bahn von Buenos Aires von einem Mittvierziger angesprochen. Es handelte sich um den Korvettenkapitän Adolfo Scilingo, dessen Gerechtigkeitsempfinden schwer gestört war. Es stellte sich heraus, dass dieser seit 1977 an der ESMA – der berüchtigten Folter-und Mordeinrichtung der argentinischen Marine – eingesetzt und überhaupt nicht damit einverstanden war, wie selektiv das nachdiktatorische Argentinien mit den Diktatoren und ihren Handlangern umging. Scilingo beklagte sich, dass seine Kameraden – und er natürlich – „wie die Mitglieder einer Verbrecherbande“ behandelt würden, obwohl er in seiner Zeit in der ESMA „Befehle von vorgesetzten Offizieren ausgeführt [habe], die heute mit Zustimmung des Senats der Nation Admiräle sind“. In der Folge führte Verbitzki viele lange Gespräche mit ihm, in denen nicht nur zahlreiche Details der „Todesflüge“ an das Tageslicht kamen, sondern die inneren Mechanismen dieses „Krieges ohne Gefechte“ der Militärs gegen die, die sie als ihre Gegner ausmachten – auch wenn es die eigenen Kinder waren –, offenbar wurden. Die Militärs selbst vernebelten ihr Vorgehen gern mit dem Begriff „irreversible Repression“. Zynischer geht es nicht. Gemeint ist Mord: Mord durch Folter, Erschießen oder „Verlegung per Flugzeug“ – die Opfer wurden nackt und betäubt aus so großer Höhe aus dem Flugzeug in den Atlantik oder den Rio de la Plata geworden, dass sie beim Aufprall auf das Wasser starben. Die von Horacio Verbitsky mitgeteilten Details sind grauenhaft. Aber ist nur das Eine. Das auf der Grundlage der Gesprächsprotokolle 1995 erstmals in Buenos Aires veröffentlichte Buch ist nicht mehr und nicht weniger als ein Psychogramm einer Diktatur, die mit kirchlicher Billigung „die Spreu vom Weizen trennen“ wollte und 1983 nur zum Stoppen gebracht werden konnte, weil die Generäle und Admiräle das Land in die vollständige ökonomische Katastrophe getrieben hatten – und ihm dann noch das Desaster des verlorenen Falkland-Krieges bereiteten. Die Junta trat übrigens freiwillig ab.
Verbitskys Buch löste eine breite Bewegung gegen die noch vor ihrem Abgang erfolgte Selbstamnestierung der Junta und die Schlussstrichpolitik der argentinischen Regierung aus. Scilingo selbst wurde nach der Veröffentlichung von „Der Flug“ durch den peronistischen Präsidenten Carlos Menem seines Dienstgrades enthoben. In einem fingierten Prozess wurde er als Betrüger verurteilt. Seit 2005 sitzt er allerdings in einem spanischen Gefängnis ein. Ein dortiges Gericht verurteilte ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Vorwort des Bandes schreibt Wolfgang Kaleck, dass Argentinien mittlerweile „als Modell einer späten, aber erfolgreichen juristischen Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen“ gelte. Hier ist Vorsicht angebracht: Verbitsky teilt in der Zeittafel im Anhang seines Buches mit, dass zwischen 2001 und Oktober 2015 „522 Menschen verurteilt und 57 freigesprochen“ wurden sowie 250 Verfahren eingestellt werden mussten. Juristisch ist dies sicher einwandfrei. Anibal Ibarra, ehemaliger Bundesanwalt und Bürgermeister von Buenos Aires zwischen 2000 und 2006, erzählte mir im Herbst 2014 auf dem ESMA-Gelände, dass man noch immer auf ein Kartell des Schweigens stoße. Sollte Scilingo Recht gehabt haben, so war tatsächlich fast der gesamte Personalbestand der Streitkräfte auf die eine oder andere Art in das System der „irreversiblen Repression“ verwickelt. Das erklärte Ibarras frustrierende Erfahrungen.
„Sie haben uns in Verbrecher verwandelt“, sagte Adolfo Scilingo in einem der Gespräche mit Horacio Verbitsky. Es ist wichtig zu wissen, wie so etwas funktioniert. Das macht den Wert dieses Buches aus. Die Geschichte ist kein geradlinig verlaufender Prozess, der einmal begangene Zivilisationsbrüche unwiederholbar macht. Alles kann wieder geschehen. Auch im so selbstsicher in seinem „Wertesystem“ ruhenden Europa.
Wolfgang Brauer
Horacio Verbitsky: Der Flug. Wie die argentinische Militärdiktatur ihre Gegner im Meer verschwinden ließ, mandelbaum verlag, Wien 2016, 200 Seiten, 19,90 Euro.
Wortschatzfunde
Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, warum sich eine Kuh wie vor neuen Tor verhält? Oder verhielt sie sich vorm Neuen Tor? Und was hat das Kapital mit dem Kopf – und der wiederum mit Kapitalverbrechen zu tun, für die mitunter ein Kuhfuß benutzt wird? Warum kann ein Abweichen von der Richtschnur schnurstracks zur Richtstatt führen? Dass dem Hinrichten auf Letzterer in der Regel ein Richten vorausgeht, dürfte wiederum bekannter sein. Aber was hat das alles mit unser aller sprachlichen Übervater Johann Wolfgang Goethe zu tun – und wie kam es dazu, dass aus dessen schlechtem Gewissen eine der berührendsten Frauengestalten der deutschen Literatur erwuchs?
Von den Tücken der deutschen Sprache wusste schon der Europareisende Mark Twain („Die schreckliche deutsche Sprache“) aufstöhnend zu berichten. Und Twain konnte nur an der Oberfläche der Bedeutungsschichten unseres Wortschatzes herumkratzen. Der Blättchen-Autor und Kriminologe Frank-Rainer Schurich und der Historiker Christian Stappenbeck – sie verweisen dankenswerterweise auf Twain – bohren bei hunderten von Wörtern und stehenden Wendungen tiefer. Und wie bei jeder guten Bohrung werden sie fündig: Die Autoren bieten dem geduldigen Leser, der es über die etwas sehr gelahrt daher kommenden ersten 20 Seiten schafft, ein äußerst vergnügliches Kompendium der Etymologie der deutschen Sprache, das zugleich ein aufschlussreiches Kompendium des vertrackten Innenlebens der Deutschen über die Jahrhunderte hinweg ist. Der Verführung, einen neuen „Wasserzieher“ – also gleichsam in den Fußstapfen dieses Übervaters der Etymologie des Deutschen wandelnd –zu erarbeiten, erlagen sie Gott sei Dank nicht. Ihre Methode ist die eines guten Feuilletonisten: Sie halten das Ende eines Fadens in der Hand und lassen sich von diesem bereitwillig durch das Labyrinth der Wortbedeutungen und ihrer Geschichte leiten. Den guten, alten Lichtenberg persiflierend kann man häufig nur resignierend feststellen, dass es nicht immer der Kopf ist, der hohl klingt, wenn er mit einem Buche zusammenstößt. Schurichs und Stappenbecks Buch kann es mit verteufelt vielen Köpfen aufnehmen… Es sei allen, die noch nicht an der Verflachung des Alltags-Deutschen irre geworden sind, wärmstens empfohlen. Weshalb man allerdings „weit unten“ sein soll, wenn man Berliner berlinern hört, ist eine der ganz wenigen Fehldeutungen der Autoren in diesem Buche: Also weeßte, dette jloob ick nich! Det Berlinerisch is so wat wie die Könichsklasse von die deutschen Dialekte!
Günter Hayn
Frank-Rainer Schurich / Christian Stappenbeck: Expeditionen in die deutsche Sprachlandschaft. Kuriose Funde einer Wortschatzsuche, Verlag Dr. Köster, Berlin 2016, 248 Seiten, 12,95 Euro.
Sich verzaubern lassen…
Manchmal gibt es Bücher, die gleich mehrere Generationen ansprechen, im besten Fall sogar begeistern. Wir kennen dieses Mehrgenerationengefühl vom Märchen, aber hier versucht meist nur ein Erwachsener Kind oder Enkel zu beglücken. Seltener ist auch der Erwachsene noch vom Märchen beseelt. Aber es soll vorkommen wie der alte Märchenfan in mir weiß. J. K. Rowling ist es gelungen, dass meine Enkelin sich seit Monaten auf den 8. Band der Harry-Potter-Saga freut und sich schon mit der Mutter über das Erstlesen streitet beziehungsweise Regelungen über wechselseitiges Lesen getroffen werden, während ich den Komplikationen durch Eigenbestellung aus dem Wege gehe. Harrys Kampf gegen das Böse enthält für Kinder reichlich Abenteuer, Phantasie und Humor, Freundschaft, die auch der Erwachsene genießt. Es gibt so wunderbare Stellen zum Ablachen: Ein Buchhändler beschwert sich über ein neues Lehrbuch, das beißt und besser nicht geöffnet wird… Er sagt dann, schlimmer sei nur die Lieferung des „unsichtbaren Buches der Unsichtbarkeit“ gewesen, richtig teuer und dann habe man die Bücher bis heute nicht finden können… Hinzu kommen ernste Fragen, die nicht nur in der Zauberwelt Gültigkeit haben. Neben dem Gut gegen Böse geht es bei Harry Potter um die große Frage, wie geht man mit Verlust um, wie mit Trauer und Traurigkeit. So mancher Zauberspruch ist da wie ein guter Ratgeber. Gegen Wesen, die die Seele aussaugen, hilft ein Spruch, der nur funktioniert, wenn man sich mit aller Kraft auf die schönste Erinnerung konzentriert. Manche sind zu erwachsen, um mal in diese Bücher hinein zu sehen, voll Grinsens über den „Hype“. Zugegeben – anfänglich habe ich genau wegen des Hypes und all des Kommerzes die ersten Bände nicht gelesen (geht mir so mit allen „Bestseller“-Empfehlungen), aber von einem Freund bekniet, habe ich dann doch gelesen – und konnte nicht aufhören zu lesen. Ich habe wohl irgendeinen Zauber abbekommen. Ende Juli kommt nun ein neuer Band heraus („Harry Potter und das verwunschene Kind“) – und es bleibt zu sehen, ob er an seine Vorgänger anknüpfen kann. Aber J. K. Rowling hat bisher nicht enttäuscht. Das ist eine Leseempfehlung!
Margit van Ham
Schlagwörter: Argentinien, Christian Stappenbeck, Frank-Rainer Schurich, Günter Hayn, Harry Potter, Horacio Verbitzky, J. K. Rowling, Margit van Ham, Wolfgang Brauer, Wortschatzsuche