19. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2016

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

In seinen kritischen Notizen zur Europäischen Friedensordnung in dieser Ausgabe konstatiert Hans J. Gießmann, dass die NATO-Staaten seit Beendigung des Kalten Krieges zu keinem Zeitpunkt „ernsthaft im Sinn hatten, ihr kollektives Verteidigungssystem ohne Russland durch ein kollektives Sicherheitssystem mit Russland zu ersetzen“ (siehe XXL 1). Dabei wäre für ein solches Sicherheitssystem im Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok durchaus auch eine Struktur denkbar gewesen, die allen in dieser Region bereits bestehenden internationalen politischen und militärischen Organisationen offen gestanden hätte. Das wäre statt auf Ersatz der NATO auf eine Ergänzung unter Einbeziehung Russlands hinausgelaufen und hätte den Weg zum Ziel einer Europäischen Friedensordnung vielleicht etwas erleichtern können. Der Autor dieser Zeilen hat sich dazu in dieser Beitragsreihe schon des Öfteren in diesem Sinne geäußert.
Doch wie dem auch sei, auf absehbare Zeit wird für derartige Überlegungen auch künftig bei der Bundesregierung kein Resonanzboden zu finden sein. Im Gegenteil – das soeben publizierte „Weißbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ dekretiert ohne Spielraum für Kompromisse: „Wesentlich für den gemeinsamen Sicherheitsraum unseres Kontinents ist […] nicht die Konzeption einer neuen Sicherheitsarchitektur, sondern der Respekt und die konsequente Einhaltung der bestehenden Regeln und Prinzipien.“
Zu den letzteren zählen bekanntlich vor allem jene, die für die NATO in Jugoslawien und im Hinblick auf den Kosovo nicht galten, für Russland im Hinblick auf die Krim und die Ostukraine hingegen vom Westen quasi zur Nagelprobe dafür gemacht werden, wie mit Moskau jetzt und künftig umzugehen sei. Und auch die derzeitige Sicherheitsarchitektur im euroatlantischen Raum ist ja keineswegs die, welche mit der Charta von Paris (1990) anvisiert worden war. Sie ist vielmehr jene, die der Westen mit den diversen EU- und NATO-Erweiterungen seit Ende der 1990er Jahre – unter Ausklammerung jeglicher substanzieller partnerschaftlicher Einbindung Moskaus – geschaffen hat. Wenn Russland sich, wenn auch spät und teils so völkerrechtswidrig wie die NATO weiland auf dem Balkan, dagegen wehrt, dann verfolgt es, die Bundeskanzlerin hat das mit dem im Westen üblichen einäugigen Differenzierungsvermögen wiederholt hervorgehoben, „eine veraltete Politik der Einflusssphären“. Quod licet jovi, non licet bovi quasi als Leitprinzip gegenüber Russland.
Insofern trägt die zitierte Passage aus dem Weißbuch ganz klar die Handschrift des Kanzleramtes. Inwieweit allerdings Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der sich ganz ohne Zweifel bleibende Verdienste darum erworben hat, dass die Falken und Russlandfresser in der NATO und in der EU nicht noch ungenierter das Zepter schwingen können, als es ihnen ohnehin schon möglich ist, die kontradiktorische Polarisierung der genannten Weißbuch-Passage mitträgt, ist zumindest unklar. Hinweise darauf, dass diese Frage zwischen Auswärtigem Amt und dem beim Weißbuch federführenden BMVg etwa ebenso kontrovers diskutiert worden wäre, wie eine mögliche künftig ausgeweitete Rolle der Bundeswehr im Inneren der Republik, fehlen jedenfalls. Zwar hört man aus dem Weißbuch durchaus auch den Außenminister heraus: „Nachhaltige Sicherheit und Prosperität in und für Europa sind […] auch künftig nicht ohne belastbare Kooperation mit Russland zu gewährleisten.“ Aber je länger hier „Butter bei die Fische“ fehlt und diese zutreffende Feststellung weitgehend im Deklaratorischen verharrt, desto größer und desto schwieriger reversibel werden die Bodengewinne jener Fraktionen in Deutschland, in Brüssel, in Polen und im Baltikum sowie jenseits des Atlantiks, die eine ganz andere Agenda auf ihre Fahnen geschrieben haben.

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Der kürzlich verabschiedete NATO-Oberbefehlshaber Europa, US-General Breedlove, wollte in Osteuropa gegen Russland, natürlich nur, „wenn […] notwendig“, „kämpfen und […] siegen“. Es ist zu befürchten, dass auch Russland keinen Mangel an solchen strategischen Gernegroßen einer Art leidet, wie sie um 1990, am Ende des Kalten Krieges, schon einmal endgültig ausargumentiert schien. Säbelrasselnd erklärte jetzt Sergej Karaganow, „Berater der Präsidialadministration von Wladimir Putin“ (Der Spiegel) – offiziell ist er immerhin Ehrenvorsitzender des als einflussreich geltenden Rates für Außen- und Verteidigungspolitik – im Interview mit dem Hamburger Nachrichtenmagazin: „Wenn die Nato eine Aggression beginnt – gegen eine Atommacht wie uns –, wird sie bestraft werden.“
Soll heißen?
Gegebenenfalls durch Ersteinsatz von Kernwaffen?
Eine Strafe, die in gleicher oder höherer Megatonnage sofort auf Russland zurückfallen würde?
Und so weiter und sofort …
Warum formuliert der Mann nicht gleich: „Wenn die Nato eine Aggression beginnt, dann werden wir freudig nukleares Harakiri begehen, und den Westen wie die Welt mit in den Abgrund reißen.“? Im Rahmen der Abschreckung, von der auf beiden Seiten jetzt wieder so viel die Rede ist, wäre das im Übrigen sehr viel wirkungsvoller, denn deren professionelle Kaffeesatzdeuter scheiterten ja schon im alten Kalten Krieg stets an der Frage, wer unter welchen Bedingungen in einem militärischen Ost-West-Konflikt tatsächlich bereit wäre, die nukleare Schwelle zu überschreiten und damit die atomare Selbstvernichtung zu riskieren.
Putin wäre noch aus einem anderen Grunde anzuraten, seine Präsidialadministration durch Karaganow nicht allzu sehr beraten zu lassen. Denn der Mann weist Denkmuster früherer zivilisatorischer Entwicklungsstufen auf, die auch für einen nur theoretischen Umgang mit Massenvernichtungsmittel wenig geeignet erscheinen. So sagte er mit Bezug auf die letzte Silvesternacht in Köln, sardonisch in die Spiegel-Kamera lächelnd: „[…] in meiner Welt ist es einfach undenkbar, dass Frauen in der Öffentlichkeit bedrängt und vergewaltig werden. […] Männer, die so etwas in Russland täten, würden umgebracht.“

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Am Rande des diesjährigen Dahrendorf Symposiums zum Thema „Europe’s Future in the Context of Global Insecurity“, das Ende Mai in Berlin stattgefunden hat, äußerte sich Andrey Kortunov, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, ausführlich zum Verhältnis seines Landes zum Westen, zur Frage der US-Raketenabwehr in Osteuropa und zur russischen Syrien-Politik.
Stichwort NATO: Kortunov traf die generelle Feststellung: „Das politische und militärische Establishment in Moskau ist sehr skeptisch im Hinblick auf jegliche substanzielle Kooperation mit der NATO zum gegenwärtigen Zeitpunkt. […] es ist unwahrscheinlich, dass die NATO ein Hauptpartner Russlands sein wird. Dafür bedürften wir eines Wunders.“
Wenige Wochen vor dem NATO-Gipfel in Warschau und der erwarteten Entscheidung, Kampftruppen im Baltikum und in Polen zu stationieren, prognostizierte er – wenig überraschend, und er hatte hinterher nichts zurückzunehmen: „[…] selbst wenn die zusätzlichen Stationierungen nicht permanent sind und einer Rotation unterliegen werden, Moskau wird sie dennoch als Verletzung des Geistes der NATO-Russland-Grundakte interpretieren.“
Stichwort US-Raketenabwehr in Osteuropa: Russland sorgt sich laut Kortunov vor allem wegen der möglichen Perspektive. Zwar stelle das System in „seiner gegenwärtigen Form […] keine glaubwürdige Bedrohung für Russlands Zweitschlagskapazität dar“. Aber jene, „die der NATO sehr misstrauisch gegenüberstehen, sehen es als einen Setzling an, aus dem eventuell ein großer Baum wachsen könnte“. Und da die Arbeiten am System auch nach dem Nukleardeal mit dem Iran, gegen dessen Bedrohung es – der wiederholten Behauptung der USA und der NATO zufolge – gerichtet gewesen sein sollte, fortgesetzt würden, stehe für Moskau fest, „dass der Westen gelogen hat. Es scheint so, dass das System von Anfang an gegen Russland gerichtet war […].“
Wenn die NATO wirklich meint, diese Besorgnisse durch mantraartig wiederholte Sprachregelungen in ihren Kommuniqués – „Die […] Raketenabwehr ist nicht gegen Russland gerichtet und wird Russlands strategische Abschreckungsfähigkeiten nicht untergraben.“ (Verlautbarung des NATO-Gipfels in Warschau) – vom Tisch zu bekommen, dann werden wir mit russischen Gegenmaßnahmen leben müssen, die den Erfolg eines gegebenenfalls auch präventiven Atomschlages mindestens gegen den Fliegerhorst Büchel in der Eifel, wo US-Atombomben für den Einsatz gegen Ziele in Russland lagern, sicherstellen sollen.
Vielleicht leben wir ja damit schon (lange), ohne es zu wissen? Das müsste die Bundesregierung allerdings nicht sorgen, denn Nuklearwaffen betreffende Sachverhalte interessieren seit 25 Jahren praktisch kein relevantes Protestpotenzial und schon gar keine Wählergruppe im Lande mehr. Industrielle Tiermast, Burka und die abstruse Vorstellung, dass Schreibschrift Grundschülern überhaupt nicht mehr beigebracht werden müsste – alles zweifellos Fragen von einer gewissen, wenn auch nicht existenziellen Bedeutung – mobilisieren allemal mehr. Alt-Kanzler Helmut Schmidt allerdings konnte gegen Ende seines Lebens nicht verstehen, warum die Furcht vor Kernwaffen – die am 10. Oktober 1981 eine halbe Million gegen den damaligen sogenannten NATO-Doppelbeschluss protestierende Menschen im Bonner Hofgarten versammelt hatte – so völlig aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit geschwunden ist …
Stichwort Syrien: Es gebe, so Kortunov, „drei Fehlwahrnehmungen des Westens über die Position Russlands bezüglich Syrien und dem Mittleren Osten“.
Die erste bestehe darin, „dass Russland Assad um jeden Preis unterstützen und schützen will. Das ist falsch. […] Russlands Hauptziel in Syrien besteht darin, den Staat zu erhalten.“ Wem das nach Afghanistan, Irak und Libyen sowie den Folgen, inklusive IS, nicht schlüssig erscheint, dem ist nicht zu helfen. Dass die Russen dabei auch den Erhalt ihrer einzigen Militärbasis im Mittelmeer im Blick haben, sollte im Übrigen Ländern, die weltweit auf solche Basen nicht verzichten wollen, eingängig sein. Ist es aber offenbar nicht. Quod licet …
Die zweite Fehlwahrnehmung sei, „dass Russland den Westen und besonders die USA aus der Region vertreiben will. Das ist unkorrekt. Russland kann die USA als Sicherheitsdienstleister in der Region nicht ersetzen.“ Das mag den russischen Standpunkt korrekt wiedergeben, ist gleichwohl seinerseits eine Fehlwahrnehmung: Die USA mit ihrem CIA-gesteuerten Putsch im Iran 1953, mit ihrer jahrzehntelangen antiarabischen Israelpolitik, mit ihrer Teheran-Politik seit dem Sturz des Schah und schließlich mit ihren Kriegen gegen Afghanistan, Irak und Syrien sind im Nahen Osten schon manches gewesen und einiges immer noch – aber der Begriff „Sicherheitsdienstleister“ ist für nichts davon besonders zutreffend.
Die dritte Fehlwahrnehmung schließlich sei, „dass Russland immer schiitische Muslims unterstützt. Mit 25 Millionen sunnitischen Muslims in Russland wäre es selbstmörderisch, gegen diese zu arbeiten. Zudem ist Ägypten – das größte sunnitische Land in der Region – einer der stärksten Partner Russlands.“
Stichwort Europa- versus Asienorientierung Russlands: Auf die Frage, ob Asien wirklich die Rolle der EU für Russland ersetzen könne, wie mancher befürwortet und andere befürchten, antwortete Kortunov: „Aus meiner Sicht ist eine solche Entwicklung nicht realistisch […].“ Als einen von drei Hauptgründen benannte er: „[…] Europa ist ein strategischer Partner, aber Asien ist das, zumindest bisher, nicht.“