19. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2016

Verfassungskonform?

von Hermann-Peter Eberlein

„Der Islam ist an sich eine politische Ideologie, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist“ – dieser Satz hat Beatrix von Storch, der stellvertretenden Vorsitzenden der AfD, heftigen Widerspruch eingetragen. In trauter Übereinstimmung haben muslimische Verbände, Vertreter der Parteien, staatliche Funktionäre und die großen christlichen Kirchen protestiert und auf die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit hingewiesen. Der Erzbischof von Köln, Kardinal Woelki, etwa sagte in einer Videobotschaft: „Wer Ja zu Kirchtürmen sagt, der muss auch Ja sagen zu Minaretten […] Die Religion des Islam ist hier in Deutschland also genauso mit dem Grundgesetz vereinbar wie das Judentum oder das Christentum.“
Damit bringt er die Sache auf den Punkt – nur anders, als es auf den ersten Blick erscheint: Es geht nämlich nicht allein um den Islam, sondern es geht um die Frage, inwieweit Religionen beziehungsweise Religionsgesellschaften überhaupt grundgesetzkonform sind oder sein können. Es geht also letztlich auch um Woelkis eigene Kirche. Der Kardinal muss den Islam in Schutz nehmen, will er nicht seine eigene Kirche in Frage stellen lassen; seine Intervention geschieht in eigener Sache.
Denn wie steht es mit den Werten des Grundgesetzes und der katholischen Kirche? Von der demokratischen Grundlage des Staates ist in Artikel 20 des Grundgesetzes die Rede und von der Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz. Entsprechend müssen selbst im Vereinsrecht bestimmte demokratische Verfahrensregeln eingehalten werden. Die katholische Kirche aber ist eine Monarchie, eine absolute sogar; von demokratischen, sprich: allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen ihrer leitenden Amtsträger kann keine Rede sein. Sie hat ein eigenes Recht, gebündelt im Codex iuris canonici, und eine eigene Gerichtsbarkeit, die nur an das kirchliche Recht gebunden ist. Der Begriff der Menschenwürde ist für das Grundgesetz konstitutiv – diesen Begriff hat 1486 Giovanni Pico della Mirandola eingeführt in deutlicher Umkehrung der christlichen Rede vom menschlichen Elend. Erst in jüngerer Zeit hat die Kirche sich diesen Gedanken zu eigen gemacht und entweder über die Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet oder über die Inkarnation Gottes in Jesus Christus. Doch das sind nachträgliche Begründungen, die nichts daran ändern, dass der Mensch im Christentum nicht als autonomes Subjekt mit einer ihm von dort her zukommenden Würde verstanden wird, sondern als erlösungsbedürftiger Sünder. Kurz: die Werte des Grundgesetzes stammen aus dem Ideengut der westeuropäischen Aufklärung, sind von den Kirchen oft genug heftig bekämpft worden und haben ihre Wurzeln zum Teil in platonischen oder stoischen naturrechtlichen Vorstellungen
. Kardinal Woelki hat also gute Gründe, nicht nach inhaltlichen Kongruenzen zwischen Religion und Grundgesetz zu fragen, sondern sich auf die Religionsfreiheit zu berufen.
Was die demokratischen Verfahrensregeln angeht, so tut sich die evangelische Kirche leichter: Sie kennt Wahlen auf allen Ebenen, ihre Führungsgremien und Funktionäre sind demokratisch legitimiert. Aber letztlich ist es eben doch nicht die Mehrheitsmeinung, die sich in den Kirchenparlamenten durchsetzen soll, sondern in möglichst einmütigen Beschlüssen soll sich der Wille des Heiligen Geistes spiegeln. Und auch die evangelischen Kirchen haben ein eigenes Recht und eigene Gerichte.
Eine politische Ideologie sei der Islam, sagt von Storch. Unabhängig davon, was man unter einer politischen Ideologie verstehen mag: Die katholische Kirche jedenfalls hat von ihrem Selbstverständnis her immer versucht – versuchen müssen – die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Der politische Katholizismus ist gezähmt – aber er existiert: wenn es um die Fragen nach Abtreibung oder Euthanasie geht, um Wirtschaftsethik oder Ehegesetzgebung. Der relativ geringe politische Einfluss der Kirchen (denn es gibt auch einen politischen Protestantismus, mehr von Calvin denn von Luther beeinflusst) in unserem Lande verdankt sich der Kandare, an die man die Kirchen nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges gelegt hat, und an einem mehrheitlich säkularen gesellschaftlichen Klima in den letzten vierzig Jahren.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es im Grundgesetz und dementsprechend werden Urteile im Namen des Volkes gefällt. Gottesdienste aller Konfessionen aber beginnen Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Beides ist nicht kompatibel – auch wenn Volksherrschaft und Gottesherrschaft in den letzten Jahrzehnten bei uns nicht wirklich in Streit geraten sind. Sie können auch gar nicht kompatibel sein, denn in Religion und Staat geht es um völlig verschiedene Größen: Hier werden die Verfahren zu einem halbwegs zivilisierten Miteinander in einer Gesellschaft festgelegt, dort geht es um viel größere, ja kosmische Dimensionen – die Ursprünge des Seins und das Ende der Welt, Tod und Leben, Zeit und Ewigkeit. Religionen liefern Deutungsmodelle für den Einzelnen wie ganze Gesellschaften; sie tun es jenseits von Wissenschaft mit Hilfe von Ursprungsmythen und Erlösergestalten, tun es im Vollzug von Riten und kultischen Begehungen. Religionen liegen den Kulturen zugrunde, selbst wenn sich die Kulturen von ihnen gelöst haben; positive Rechtssetzungen, auch Verfassungen, sind nur Ausflüsse kultureller Gestaltungen. Grundgesetze haben eine sehr beschränkte räumliche und zeitliche Gültigkeit (auch wenn einzelne Sätze immerwährende Geltung beanspruchen mögen wie bei uns die Artikel 1 und 20); Religionen beanspruchen ewige Wahrheit (auch wenn sie de facto geschichtlichen Veränderungen unterliegen und absterben können wie der Mithras-Kult oder die Verehrung der olympischen Götter).
Religionen können gar nicht verfassungskonform sein und dürfen es auch nicht, wenn sie sich selbst ernst nehmen. Religionsgemeinschaften mögen sich mehr oder weniger an die durch Grundgesetze geregelten Verfahren halten – dass Muslime dazu unfähig seien, weil ihre Geschichte eben nicht durch den Säkularisierungsschub der westeuropäischen Moderne geprägt sei, das eigentlich ist von Storchs Unterstellung. Ansonsten besteht die Rolle der Religionen vielleicht gerade darin: Staaten und Gesellschaften aufzuzeigen, dass sie nicht alles sind, nicht alles regeln dürfen, weil es Bereiche gibt, die dem Grundgesetz nicht unterliegen: den bestirnten Himmel über mir jedenfalls und das moralische Gesetz in mir mindestens auch.