von Horst Teltschik
Sehr verehrte Frau Professor Bahr, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren!
Zu dem heutigen Egon-Bahr-Symposium als Redner eingeladen zu sein, empfinde ich als eine besondere Ehre. Noch wenige Wochen vor seinem Tod rief mich Egon Bahr an. Wir sollten uns unbedingt treffen. Es gäbe so vieles zu besprechen. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen.
Seit meiner Zeit als Schüler und Assistent von Richard Löwenthal in den sechziger Jahren in Berlin habe ich das Wirken von Egon Bahr verfolgt, in späteren Jahren kommentiert, nicht immer zum Wohlgefallen meiner Vorgesetzten und Kollegen in den Unionsparteien. In der Ausrichtung seiner Verständigungspolitik mit der Sowjetunion und den Warschauer Pakt-Staaten waren wir uns immer einig. Differenzen ergaben sich, wenn überhaupt, mehr in der Methodik, aber das tat unserem partnerschaftlichen Umgang keinen Abbruch.
In den achtziger Jahren hatte uns einmal der ZDF-Journalist Siegloch in seine Sendung „Streitgespräch“ eingeladen. Nach der Sendung stellte er enttäuscht fest, dass es gar kein Streitgespräch gewesen sei. Darauf erwiderte Egon Bahr: Er hätte die falschen Leute eingeladen. Wir beide wüssten zu viel.
Eine ähnliche Erfahrung machte einmal Peter Sloterdijk, der uns in seine Sendung „Philosophisches Quartett“ zusammen mit Rüdiger Safranski eingeladen hatte, um über eine neue Weltordnung zu diskutieren. Nach der Sendung stellte Sloterdijk fest, dass es noch keine Sendung gegeben habe, in der er so wenig zu Wort gekommen sei.
Doch viel eindrucksvoller war für mich eine Begegnung mit Egon Bahr während meiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt, als er mir persönlich seinen vertraulichen Kontakt in Moskau übertrug. Ich habe ihn genutzt und damit verbinden sich für mich besondere Erlebnisse. Darüber zu sprechen, würde jetzt zu weit führen.
Wir haben unsere beiderseitigen Erfahrungen mit Moskau immer wieder ausgetauscht. Vor jeder seiner Moskaureisen kam Egon Bahr zu mir in das Bundeskanzleramt mit der schlichten Frage: Wo und wie kann ich Euch helfen?
Dieses Zusammenwirken war und ist für mich beispielhaft, auch für heute.
Vier Schlussfolgerungen:
Erstens – Was bedeuten Parteigrenzen, wenn es um die Sache geht; um gemeinsame politische Ziele zum Nutzen aller, wie um Frieden, Entspannung und Zusammenarbeit?
Zweitens – Vertrauliche Kontakte können gerade im Umgang mit der russischen Führung nützlich sein, auch heute. Aus meiner Erfahrung lieben gerade Russen solche Vorgehensweisen.
Drittens – Wer heute die KSZE-Schlussakte von 1975 preist, sollte nicht vergessen, dass sie von Generalsekretär Breshnew unterzeichnet wurde, der nicht nur den Prager Frühling 1968 mit Panzern blutig niederwalzen ließ, sondern unmittelbar nach Unterzeichnung der Schlussakte eine neue Aufrüstung mit nuklearen Mittelstreckenraketen begann. Sie führte Anfang der achtziger Jahre mit der sowjetischen Androhung eines dritten Weltkrieges zu einem neuen Höhepunkt des Kalten Krieges.
Regierungen können sich ihre Partner nicht aussuchen, wenn sie Konflikte eindämmen oder lösen wollen. Das zeigen auch die aktuellen Beispiele in Russland oder Iran oder Syrien. In den Beziehungen zu nicht-demokratischen Staaten könnte es aber eine sehr sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Regierung, Parlament und Medien geben. Eine Regierung muss Lösungen anstreben und muss deshalb mit öffentlicher Kritik an ihren Partnern behutsam umgehen. Das Parlament, die Medien oder NGOs dagegen sind frei, ihrem Zorn öffentlich freien Lauf zu lassen. Sie sollten aber die Qualität der Regierungspolitik nicht allein an der Lautstärke der öffentlichen Kritik messen, die eine Regierung gegenüber ihren autoritären Partnern äußert.
Viertens – Das Thema Sicherheit war und bleibt das Schlüsselthema in den Beziehungen zu Russland. Seit Chruschtschow war die UdSSR immer an vertraglichen sicherheitspolitischen Vereinbarungen mit dem Westen interessiert. In Kenntnis dessen hat Bundeskanzler Helmut Kohl im April 1990 der sowjetischen Führung Verhandlungen über einen bilateralen Vertrag zwischen einem geeinten Deutschland und der UdSSR über die zukünftige Zusammenarbeit angeboten, verbunden mit klaren sicherheitspolitischen Zusagen. Dieser Vorschlag bedeutete den Durchbruch in den Verhandlungen mit Moskau. Als Außenminister Schewardnadse am 4. Mai in Bonn zu einem Gespräch mit dem Bundeskanzler zusammentraf, betonte er, dass Sicherheitsgarantien in Europa nötiger seien denn je, und dazu könne der Vertrag beitragen. Das Ergebnis ist der „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ vom 9. 11. 1990, der klare sicherheitspolitische Vereinbarungen enthält.
Eine europäische Friedensordnung ist ohne die Ereignisse vor 25 Jahren nicht vorstellbar. 1989/1990 vollzogen sich drei friedliche Revolutionen, die völlig neue Voraussetzungen für eine gesamteuropäische Friedensordnung schufen:
- Deutschland wurde geeint. Alle Vier Siegermächte und alle Nachbarstaaten haben zugestimmt. Die Oder-Neiße-Grenze wurde endgültig anerkannt. Deutschland erhielt seine volle Souveränität zurück.
- Europa wurde geeint. Der Kalte Krieg war zu Ende. Der Warschauer Pakt löste sich fast lautlos auf. 500.000 sowjetische Truppen kehrten aus Mitteleuropa nach Russland zurück. 1991 löste sich die UdSSR auf.
- Das bi-polare Weltsystem war zu einem Ende gekommen. Zu Ende war die weltweite Auseinandersetzung zweier antagonistischer Gesellschaftssysteme.
Das alles hatte sich friedlich vollzogen. Im November 1990 unterschrieben alle 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten in Paris die „Charta für ein neues Europa“. Erklärtes gemeinsames Ziel war eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok. Welch‘ eine Vision!? Und was haben wir in den letzten 25 Jahren daraus gemacht?
Analog zur KSZE-Schlussakte von Helsinki sind die Prinzipien der Zusammenarbeit inhaltlich definiert worden. Erste Strukturformen und Instrumente der Zusammenarbeit wurden definiert:
- Jährliche Außenminister-Treffen: Was haben sie in 25 Jahren bewegt?
- Regelmäßige Folgetreffen der Teilnehmerstaaten; das letzte Treffen fand nach 11-jähriger Pause 2010 in Astana statt mit kläglichem Ausgang. Der damalige OSZE-Generalsekretär Marc Perrin de Brichambaut hatte die Teilnehmer aufgerufen, „frischen Wind in die Rüstungskontrollgespräche zu bringen, die Frühwarnung und vertrauensbildende Maßnahmen zu verbessern, gemeinsam an die Bewältigung grenzüberschreitender Bedrohungen heranzugehen“ und im Umwelt- und Wirtschaftsbereich stärker zusammenzuarbeiten. Er könnte heute – 16 Jahre danach – seine Rede unverändert wiederholen.
- Ein Konfliktverhütungszentrum wurde eingerichtet; welche Konflikte hat es in 25 Jahren verhütet? Die ständige Rede über frozen conflicts spricht für sich selbst. Wer hat sich denn in den ganzen Jahren vor Maidan zwei für die Ukraine interessiert – außer Polen?
- In das öffentliche Bewusstsein drang nur die vereinbarte Wahlbeobachtung; für Moskau jedoch nur ein Instrument des Westens, sich in die inneren Angelegenheiten einzumischen.
- Erst die Ukraine-Krise wurde nach Außenminister Kerry zu einem wake up-call für die OSZE, die heute endlich versucht, eine maßgebliche Rolle in der Ukraine zu übernehmen. Außenminister Steinmeier hat in diesem Jahr die Präsidentschaft übernommen.
Letztlich hat keine Regierung im Westen in den mehr als 20 Jahren ernsthaft den Versuch unternommen, das Ziel einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung weiter zu verfolgen.
Der Vorschlag von Präsident Medwedew in seiner Rede vom Juni 2008 in Berlin, „einen juristisch verbindlichen Vertrag über die europäische Sicherheit“ abzuschließen, blieb im Westen ohne Resonanz. Genauso wenig Gehör hatte die Rede von Präsident Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefunden. Auf die umfangreiche Liste seiner Beschwernisse gegenüber dem Westen ging niemand ein. Es wurde nur die Frage aufgeworfen, ob die Rede den Beginn eines neuen Kalten Krieges ankündige. „Horst, ihr wollt uns ja nicht“, war die nüchterne Reaktion eines russischen Gesprächspartners.
Bilanziert man die Entwicklung nach der Pariser Charta, so drängt sich mir der Eindruck auf, dass sich der Westen, allen voran auch die deutsche Politik, vornehmlich auf die „weichen Themen“ wie Menschenrechte, Zivilgesellschaft, Demokratie, Pressefreiheit und so weiter konzentriert haben, während für Russland die Sicherheitsthemen im Vordergrund standen: Osterweiterung der NATO; Einkreisungsbefürchtungen; die militärische Intervention der NATO – ohne UNO-Mandat auf dem Balkan, insbesondere gegen Serbien, und andere. Sicherlich sind die Sicherheitsbefürchtungen Russlands maßlos überzogen, doch in der Politik ist die Perzeption von Gefahren oft wichtiger als die Realität.
Darüber hinaus haben Yelzin wie Putin Russland nach wie vor als globalen Spieler in einer multipolaren Welt verstanden, auf gleicher Augenhöhe mit den USA, China oder Indien. Das hat man vor allem in Washington nicht immer wahrhaben wollen. Die Verhandlungen über das iranische Nuklearpotential und über den Waffenstillstand in Syrien, waren der nächste wake up-call.
Natürlich kann der Westen auf die anderen Ebenen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Russland verweisen:
- Auf die Sicherheitspartnerschaft Deutschlands mit Russland. Ist sie jemals mit Substanz ausgefüllt worden?
- Auf die Sicherheitspartnerschaft der EU mit Russland. Im Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit von 1997 (2007 ausgelaufen) ist die Rede von den „vier Gemeinsamen Räumen“. Der dritte Gemeinsame Raum ist mit „Äußere Sicherheit“ bezeichnet. Was ist bis heute konkret erfolgt? Warum ist der Vorschlag von EU-Präsident Prodi gegenüber Putin, eine Gesamteuropäische Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok zu verhandeln, nicht weiterverfolgt worden?
Außenminister Steinmeier hat in diesen Tagen die Erwartung ausgesprochen, dass die G 7 doch wieder auf G 8 erweitert werden könnte. - Auf die Sicherheitspartnerschaft NATO – Russland. Sie ist sehr konstruktiv in Gang gekommen: Sowohl Yelzin als auch anfänglich Putin haben eine NATO-Mitgliedschaft Russlands für möglich gehalten. Präsident Clinton hatte sie angeboten. Auch heute noch kann sich die russische Führung eine Mitgliedschaft in der Politischen Organisation der NATO vorstellen.
Russland wurde 1994 Mitglied der Initiative von Präsident Clinton Partnership for Peace. Hinzu kam die Grundakte vom Mai 1997 und in der Folge die Gründung des NATO-Russland-Rates. Groteskerweise trat er weder in der Zeit des Georgienkrieges 2008 noch während der Krise in der Ukraine zusammen. Die letzte Sitzung fand im Juni 2014 statt. Gestern fand nun endlich wieder eine Ratssitzung auf Botschafterebene statt. Wir müssen abwarten, was Gespräche auf dieser Ebene in der jetzigen Krisenphase bewegen können.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hatte Bundeskanzlerin Merkel in Anwesenheit von Putin noch vorgeschlagen, die Beziehungen der NATO zu Russland weiter zu entwickeln. Sie hat diesen Vorschlag nie konkretisiert, und keiner hat nachgefragt.
Im November 2010 hatte die NATO Präsident Medwedew zu ihrem Gipfeltreffen nach Lissabon eingeladen und ihm eine Kooperation bei der Entwicklung eines Raketenabwehrsystems angeboten. Dazu ist es nicht gekommen.
Das waren viele hoffnungsvolle Ansätze. Mit der ungelösten Ukraine-Krise stehen wir erneut ziemlich am Anfang eines Prozesses friedlicher Zusammenarbeit und einer europäischen Friedensordnung. Wir sollten aber nicht versuchen, alles neu zu erfinden. Natürlich muss Minsk II von allen Seiten eingelöst werden. Ministerpräsident Medwedew hat im Februar in München das „Normandie-Format“ (Merkel, Hollande, Putin, Poroschenko) ausdrücklich als das beste Instrument dafür benannt. Jetzt bezeichnet ein Vertreter des polnischen Präsidenten dieses Format als überholt? Es müsse erweitert werden.
Darüber hinaus muss man auf den verschiedenen Ebenen der bisherigen Zusammenarbeit die Ansatzpunkte identifizieren, die man versuchen sollte, wieder zu beleben – wie den NATO-Russland-Rat. Das wird aber nicht ausreichen, wenn man nicht auch inhaltlich neue Ziele setzt.
Überfällig sind konkrete Maßnahmen der Vertrauensbildung auf militärischer Ebene, sind neue Initiativen auf der Ebene der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Europäische wie internationale Sicherheit müssen die prioritären Ziele der Zusammenarbeit sein. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, die Konfliktregelung im Nahen und Mittleren Osten bis einschließlich Afghanistans, das Migrationsproblem u.a.m. sind auch für Russland von unmittelbarem Interesse.
Und die Europäer müssen auf die USA einwirken, Russland nicht als Regionalmacht, sondern auf gleicher Augenhöhe zu behandeln. Entscheidend war 1989/90 die öffentliche Zusage von Präsident Bush sen. in seiner Rede im Mai 1989 in Mainz, dass „die Sowjets wissen sollten, dass unser Ziel nicht darin besteht, ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu untergraben“.
Das war ein wichtiges politisches Signal zur richtigen Zeit.
Unter der deutschen Präsidentschaft von Außenminister Steinmeier hat jetzt die Troika am 12. April mehrere Initiativen beschlossen: Im Mai soll eine Konferenz über das Phänomen ausländischer Terroristen stattfinden. Die Migrationskrise ist aufgegriffen worden, und am 1. September soll in Potsdam ein informelles Treffen der Außenminister über die sicherheitspolitischen Bedrohungen in Europa stattfinden.
Es kann geradezu als Glücksfall bezeichnet werden, dass die Bundesregierung in diesem Jahr die OSZE-Präsidentschaft übernommen hat. Der Bundeskanzlerin wie dem Außenminister ist in den letzten Jahren gewissermaßen die Schlüsselrolle in den Beziehungen zu Russland zugefallen. Sie verfügen über die engsten Kontakte zu ihren jeweiligen Partnern in Moskau. Das ist Bürde wie Chance zugleich. Sie sollten die Bürde vergessen und die Chance gemeinsam vor allem mit Frankreich, Polen und der EU nutzen.
* – Prof. Dr. Horst Teltschik hielt diesen Vortrag auf dem 1. Egon-Bahr-Symposium am 21. April 2016 in Berlin. Der Autor war vor und während des deutschen Vereinigungsprozesses der maßgebliche außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzler Kohl und leitete von 1999 bis 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz.
Schlagwörter: Deutschland, Egon Bahr, Horst Teltschik, NATO, OSZE, Russland, Sicherheit, USA