19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Auf andere Art so große Hoffnung
Johannes R. Becher zum 125. Geburtstag

von Christian Peter

Die Lebensgeschichte des Bürgersohns Johannes R. Becher (1891-1958) vereint Extreme: Kriege und Revolutionen, Terror, Exil, Trümmer und Neuaufbau, Augenblicke des Glücks, Rausch und vor allem die Hoffnung auf das Anderswerden. Becher überlebte drei Suizidversuche. Mit Neunzehn beschließt der Gymnasiast, Sohn eines Münchner Richters, mit seiner Geliebten Franziska Fuchs „in den Tod zu gehen“ – sie stirbt, er überlebt. „Ich erinnerte mich zu spät daran, dass man sich am besten in den Mund schießt“, notierte er im Gedenken an den von seinem Idol jener Jahre Heinrich von Kleist 100 Jahre zuvor an seiner Freundin Henriette Vogel und sich selbst begangenen Mord.
Bechers Vater macht die bei seinem Sohn mit 17 Jahren beginnende „manische Dichterei“ dafür verantwortlich. Die Dichtung Goethes und Schillers, neben Kleist, Hölderlin oder Petrarca bilden die Messlatte des jungen Becher, der sie im rauschhaften Größenwahn nicht nur als Vorbilder gewählt hat, sondern sich in deren Nähe empfindet. In dem von seinem Schulfreund Heinrich Bachmair gegründeten Verlag erscheint 1911 unter dem Titel „Der Ringende. Kleist-Hymne“, der erste Gedichtband des 20-jährigen Becher.
Der Verleger Kurt Wolff, der 1908 mit Ernst Rowohlt den wichtigsten deutschen Verlag für expressionistische Literatur in Leipzig gründete und bis 1940 führte, nahm sich des wegen seiner Schussverletzung zum Kriegsdienst untauglichen 25-jährigen Dichters Johannes Robert Becher an und veröffentlichte in kurzer Zeit dessen Gedichtbände „Verbrüderung“ (1916), „An Europa“ (1916) und den der griechischen Mythologie entlehnten „Päan gegen die Schar“ (1918).
Buchstäblich im Rausch entstehen ohne Rast zahllose Gedichte. Rasant wächst die Veröffentlichungsliste in ausgewiesenen Verlagen wie Insel, Die Aktion, Rowohlt, Die Schmiede. Zwischen euphorischem politischen Bekenntnis und persönlicher Katastrophe bewegen sich Bechers Themen. Die Oktoberrevolution und das Ende des Zarenreichs in Russland begrüßt der 26-Jährige 1917 mit der radikalen Aufforderung: „Augen zu! Lasst Guillotinen spielen. Menschenknäuel übern Platz gefegt.“
An Konsequenz fehlt es ihm dagegen, wenn es um seinen seit 1915 voranschreitenden Morphinismus geht. Bei einem von vielen Entzugsversuchen gesteht Becher, der in Jena Medizin studiert, in der dortigen psychiatrischen Klinik, dass er sich täglich 40 Mal Morphium gespritzt habe. Er bricht auch diese Behandlung ab und begeht seinen zweiten Suizidversuch, als er 1917 in Berlin vom Selbstmord seines jüngeren Bruders erfährt. Seinem Förderer Harry Graf Kessler erscheint er noch Wochen später als ein „Gast aus der Hölle“. Im Herbst 1918 gelingt es einem Pfleger aus der Jenaer Psychiatrie, Becher zum totalen Entzug zu bewegen. Dieser Versuch glückt, schreibend zwischen religiöser Verklärung und der Pflicht als „Parteisoldat“ nach Orientierung suchend. 1919 wird er Mitglied der KPD, zaudert aber mit einem Engagement noch wegen des radikalen Schnitts. Umso mehr zählt seine literarische Produktion.
Allein 1919 und 1920 erscheinen jeweils vier Gedichtbände, eine Produktivität, die sich bis 1927 fortsetzt und für deren Themen die Titel Programm sind und die politische Entwicklung Bechers ausdrücken: „Gedichte an Lotte“, „An alle!“, „Zion“, „Ewig in Aufruhr“, „Mensch, steh auf!“, „Um Gott“, „Arbeiter, Bauern, Soldaten“, „Verklärung“, „Vorwärts, du rote Front!“, „Am Grabe Lenins“, „Roter Marsch. Der Leichnam auf dem Thron/Der Bombenflieger“, „Maschinenrhythmen“. 1923 entschließt sich Becher zur aktiven Arbeit in der KPD und beschließt: „Das Kaffeehaus ist vorbei, die lustige Künstlerei und Schwabingerei ist vorüber. Ich habe zu funktionieren.“ Eine der Gedanken- und Empfindungswelt des Dichters widerstrebende Entscheidung zur Disziplin, mit der Becher in den folgenden Jahrzehnten immer wieder in Konflikt geraten wird.
Mit „Der Bankier reitet über das Schlachtfeld“ und „Levisite oder Der einzig gerechte Krieg“ veröffentlicht Becher auch Erzählungen und Romane, aber die Dichtung bleibt seine vornehmliche Ausdrucksform. 1925 wird er durch das Reichsgericht der „Aufhetzung zum Bürgerkrieg“ bezichtigt und des „literarischen Hochverrats“ angeklagt. Ein von Kollegen wie Bertolt Brecht, Max Brod und Carl Zuckmayer initiierter internationaler Protest beendet das Verfahren. Becher ist zu dieser Zeit ein radikaler politischer Dichter, der zum zehnten Jubiläum der Oktoberrevolution nach Moskau reist und Mitglied des Internationalen Büros für revolutionäre Literatur der Kommunistischen Internationale und 1928 Vorsitzender des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) wird.
Becher gibt mit Andor Gábor, Kurt Kläber, Hans Marchwitza, Ludwig Renn und Erich Weinert die Zeitschrift Die Linkskurve des BPRS heraus und ist ab 1932 Redakteur, der am 9. November 1918 von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründeten Zeitung Die Rote Fahne, die – nach dem Ende der Weimarer Republik ab 1919 verboten – als Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands illegal im Widerstand gegen die nationalsozialistische Bewegung im Untergrund weitergeführt wurde und bis 1945 erschienen ist.
Johannes R. Becher emigriert 1933 über Frankreich nach Moskau. Für die Kommunistische Internationale (Komintern) organisiert er 1935 in Paris einen Kongress gegen den aufkommenden Faschismus, an dem 100 Autoren aus 20 Ländern teilnehmen. Für Becher war die Situation widersprüchlich: „Die Sowjetunion war die große Hoffnung im Kampf gegen die Nazis, die Bastion, die Basis des Kampfes, und außerdem der Versuch, eine neue sozialistische Gesellschaft zu errichten“, konstatiert 2003 der Marburger Germanist Wolfgang Näser, was für jene Jahre eine bemerkenswerte Feststellung ist. Johannes R. Becher unterliegt bis heute aus westdeutscher Sicht dem Verdikt, „ein euphorischer Parteigänger einer Diktatur“ gewesen zu sein (Jens-Fietje Drawers: „Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher“, Aufbau-Verlag, 1998). Wobei hier daran erinnert sein soll, dass sich euphorische Parteigänger nicht selten in beharrliche Kritiker wandeln können.
Für Becher muss das Tagesgeschehen der Aufbaujahre eine Zerreißprobe gewesen sein. In Moskau hatte er sich in unzähligen Reden und Ausätzen mit den Voraussetzungen für das „Anderswerden“ in einem neuen Deutschland befasst und so die Dichtung vernachlässigen müssen. Er zog nach seiner Rückkehr aus dem für ihn durch massenweise Verurteilungen und Exekutionen traumatischen und nicht zuletzt aus Verzweiflung um das Schicksal der Stadt Stalingrad unternommenen dritten Suizid eine ernüchternde Bilanz seines sowjetischen Exils. „Dieses Bild will nicht von mir lassen. Es war ein Sommertag des Jahres 1944, als 500.000 deutsche Soldaten den Marsch durch die Straßen Moskaus antraten. Verlorene Haufen von Menschen. Was mochte in diesen Männern vorgehen, die als Sieger in diese Stadt einziehen wollten?“
Unmittelbar nach seiner Rückkehr 1945 in Berlin gründete Becher den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Der Parteidisziplin gehorchend, ließ er sich 1954 zudem als erster Kulturminister der DDR in die Pflicht nehmen. Der Schlüssel zur Macht wird ihm wohl auch Eindruck gemacht haben. Der Preis dafür war hoch. Denn nach Jahren des Verzichts, seiner Berufung als Dichter folgen zu können, bleibt ihm wieder nur die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen und weniger künstlerischen Neubeginn. Die hatte er in seinen im sowjetischen Exil dafür vorbereiteten Aufsätzen und Reden „Vom Anderswerden“ formuliert.
Der Kulturbund sollte nach seiner Überzeugung ein Verband für liberale Intellektuelle sein. Als dessen Präsident war Becher darauf aus, emigrierte Künstler zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. Und er hatte damit auch Erfolg. Brecht, Hanns Eisler, Arnold Zweig siedelten sich bald in der späteren Hauptstadt der DDR an, und selbst Heinrich Mann, der ab 1930 Präsident der Preußischen Akademie der Künste war, hatte seine Einladung angenommen, dieses Amt in der neu zu gründenden Deutschen Akademie der Künste zu übernehmen. Allein, Heinrich Mann starb unmittelbar vor seiner geplanten Überfahrt von Santa Monica nach Berlin am 11. März 1950.
„Auferstanden aus Ruinen“, dichtete Johannes R. Becher, worauf Hanns Eisler die Nationalhymne der DDR komponierte. Wegen des Refrains „Deutschland einig Vaterland“, was seit jeher ein Anliegen Bechers ausdrückte, wurde die Hymne ab 1972, als die deutsche Zweistaatlichkeit zur Doktrin wurde, nur noch als Melodie und ohne Text aufgeführt. Ein letzter Verzicht darauf, nachfolgenden Generationen das dichterische Werk des am 22. Mai 1891 in München geborenen und am 11. Oktober 1958 in Ostberlin verstorbenen Dichters in seiner Dimension, Qualität und in kritischer Aneignung zu übermitteln.