von Erhard Crome
Außenpolitische Perzeptionen zu untersuchen heißt zu fragen, wer auf Grund welcher Voraussetzungen welche Entscheidungen getroffen hat und warum. Dabei spielt die Sicht auf die eigenen Interessen, aber auch auf Bedrohungsanalysen, Vorannahmen und auf die eigenen Möglichkeiten eine wichtige Rolle –zugleich aber auch die Fähigkeit oder Unfähigkeit, die Gegenseite zu verstehen und die Gesamtsituation wahrzunehmen.
Berliner Außenpolitik in Europa war zumeist vom Nichtverstehen der Interessen und Politik der anderen europäischen Staaten geleitet, und zwar je mächtiger es wurde, desto weniger. Der vielgelobte Bismarck hatte gewusst, innerhalb der europäischen „Pentarchie“ immer Sorge zu tragen, dass Deutschland mit zwei der anderen im Einvernehmen bleibt und Frankreich isoliert. Er selbst jedoch hatte die Beziehungen zu Großbritannien ab Mitte der 1880er Jahre absichtlich verschlechtert, weil er befürchtete, ein Kaiser Friedrich würde unter dem Einfluss seiner englischen Frau das deutsche politische System parlamentarisieren. Mit der „Lombardsperre“ (1887) – der damaligen Form von „Sanktionen“ auf dem Kapitalmarkt – vertrieb er die russische Nachfrage nach Krediten vom Berliner Kapitalmarkt. Die wanderte dann nach Paris, wo sie bis zum ersten Weltkrieg blieb. Da Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag mit Russland 1890 nicht erneuerte und Russland befürchtete, ohne Bündnispartner dazustehen, schloss es mit Frankreich 1892 eine Militärkonvention und 1894 einen förmlichen Bündnisvertrag. Damit war die Zweifrontenlage hergestellt, die Bismarck für Deutschland immer verhindern wollte. Angebote Großbritanniens zu engerer Zusammenarbeit schlug die deutsche Regierung ebenfalls aus, und die deutsche Flottenrüstung belastete die beiderseitigen Beziehungen. Allein das Bündnis mit Österreich-Ungarn stellte das deutsche außenpolitische Hinterland dar. Zugleich glaubten die Außenpolitiker in Berlin, die weltpolitische Konkurrenz zwischen Großbritannien und Russland einerseits und die kolonialpolitischen Differenzen zwischen Großbritannien und Frankreich andererseits würden deren Zusammengehen auf Dauer verhindern – und Deutschland hätte weltpolitisch freie Hand.
Am Ende gab es die „Entente“ zwischen Frankreich, Großbritannien und Russland. Deutschland fühlte sich im Juli 1914 durch diese eingekreist, Russland durch die Verbindung zwischen dem Zweibund und dem Osmanischen Reich. Großbritannien, das die Entente-Verträge zunächst eher als kolonialpolitische Einigungen außerhalb Europas angesehen hatte, gehörte in der Bosnischen Krise (1908) zu den Unterstützern der russischen Position, die bereits von Frankreich gestützt wurde. In der Juli-Krise 1914 war keine der Seiten in der Lage, die Interessen der anderen einschätzen zu können. Jede bestand auf ihrer Position, wollte nicht zurückstecken. Die deutsche Politik hatte die außenpolitische Zwickmühle, in der sie nun steckte, in den Jahrzehnten zuvor selbst geschaffen. Am Ende entstand ein Krieg, den so keiner gewollt hatte – niemand wollte vier Jahre lang einen „totalen Krieg“ führen, mit Millionen Opfern und dem Ruin der Staaten; am Ende mit dem Zusammenbruch von vier Großmächten. Es ist dies der Hintergrund dafür, dass der Historiker Christopher Clark von „Schlafwandlern“ sprach, die Europa 1914 in den Weltkrieg manövrierten.
Und wie ist es heute um die Perzeptionsfähigkeit deutscher Außenpolitik bestellt? Beginnen wir mit Russland. Dieses ist wieder einmal der Lieblingsfeind der deutschen Propaganda, wie unter Wilhelm II. und unter Goebbels. Welch‘ eine Kontinuität! Nur die Argumentationsfiguren hierzulande sind zeitgemäß etwas aufgehübscht – Goebbels sprach offen von Erdöl und Weizen, heute wird artig von Demokratie und Menschenrechten geredet. Tatsächlich aber braucht das europäische Finanzkapital, so kürzlich der Moskauer Wissenschaftler Wassili Koltaschow in neues deutschland, „Russland als abhängiges, kontrolliertes Land […] und nicht als selbstständiges Zentrum mit eigenem Kapital und eigener Politik“.
In den einschlägigen Mainstream-Politikpapieren in Deutschland wird betont, es gehe um „einen mittel- bis langfristigen Politikwechsel“ in Russland als Voraussetzung für „Reformen“ – im Sinne der westlichen Vorstellungen. Dem solle von außen eine Politik dienen, die aus einer „Mischung von Eindämmung und Kooperation“ besteht. Die Zustimmungsraten in Russland für Präsident Putin aber liegen bei 80 Prozent. Dennoch brächte nur ein Regimewechsel echte Veränderungen. So wird gemutmaßt, die Demonstrationen in Moskau und anderen großen Städten Ende 2011 / Anfang 2012 (es waren einige 10.000 Demonstranten) hätten Putin große Angst eingejagt. Deshalb habe er absichtsvoll die Beziehungen zum Westen verschlechtert. Der Konflikt um die Ukraine sei „ein Stellvertreterkrieg mit dem Westen“. Der Militäreinsatz Russlands in Syrien habe demselben Ziel gedient. Und damit punkte Putin bei der russischen Bevölkerung. Dass, wer die heutige russische Außenpolitik verstehen will, nicht auf irgendwelche pro-westlichen Demonstranten schauen sollte, sondern auf die Kontinuitäten russischer Politik seit Peter I., die auch über Stalin und Breshnew hinweg wirkmächtig blieben, hat in Berliner Regierungskreisen kaum jemand im Blick.
Nächstes Beispiel: Österreich. Österreich-Ungarn war im ersten Weltkrieg schon wegen des Kriegsverlaufs von Deutschland abhängig; gleichwohl wurde unter Kaiser Karl in der Schlussphase des Krieges in Paris sondiert, ob Frankreich im Falle eines Separatfriedens der Donaumonarchie ihre Existenz garantieren würde. Da Paris unter Clemenceau auf die Unterstützung der Nationalismen in Osteuropa setzte, erfolgte das nicht und die Monarchie blieb bis zum bitteren Ende an deutscher Seite. Kurz vor dem Ende der DDR war im Herbst 1989 ein letzter Emissär der SED bei der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Ihm wurde gesagt: Wenn ihr fallt, fallen wir auch. Dem ist die Wiener Regierung durch den EU-Beitritt und geschicktes Taktieren in dieser ausgewichen. Es war im Sommer 2015 aber eine völlige Fehlwahrnehmung der Merkel-Regierung zu erwarten, die österreichische Regierung werde ihr in der Flüchtlingsfrage bedingungslos folgen. Im Gegenteil. Die Wiener Regierung baute eine Koalition von Balkanstaaten zusammen, die mit den Visegrád-Staaten liiert war, und hat so die „Balkanroute“ geschlossen. Wien hat wieder einmal bewiesen, dass es in der Lage ist, auch aus einer wesentlich schwächeren Position heraus eine gegenüber Berlin selbstständige Außenpolitik zu betreiben. Auch gegen dessen ausdrücklichen Willen. Und dass der Bau neuer Kontrollanlagen Österreichs an den Straßen nach Süden nur mit den Flüchtlingen zu tun hat, ist nicht ausgemacht; es kann auch die Vorbereitung auf den Zerfall der Euro-Zone und/oder der EU sein.
Dass die deutsche Außenpolitik die Eigenständigkeiten in Osteuropa – Stichwort Polen, Ungarn, Visegrád-Bündnis – nicht versteht, ist im Blättchen schon zur Genüge beschrieben worden. Auch hier ist politische und wirtschaftliche Macht nicht linear in hegemoniale Direktiven umsetzbar. Das gilt auch für die Bevölkerungen in Westeuropa. Man wähnte sich in Berlin und Brüssel der Unterstützung der anderen EU-Staaten für die Ukraine-Politik, diese in den eigenen Machtbereich hinüberzuziehen, sicher. Das Referendum in den Niederlanden hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Machtorientierte Geopolitik kann betrieben werden, soweit die Macht reicht. Dafür gibt es aber nicht mit Sicherheit eine demokratisch legitimierte Unterstützung. – Weshalb viele Politiker der Regierungsparteien, aber auch der Grünen in Deutschland sich wieder einmal gegen Volksentscheide aussprechen.
Nehmen wir die USA. Donald Trump hat neben vielerlei Unsinn auch ein paar interessante Sätze gesagt. Einer war: „Als Saddam Hussein und Gaddafi noch lebten, war die Welt sicherer.“ Das sieht eine Mehrheit der US-Amerikaner offenbar auch so, weshalb Jeb Bush, der Präsident Bush III werden wollte, sehr früh aus dem Kandidatenrennen der Republikaner ausschied. Dann erklärte Trump, er sehe keine großen Differenzen mit Russland; wenn er Präsident der USA sei, werde er sich mit Putin treffen, sie könnten über alles reden, und dann gebe es keine großen Gefahren mehr. Damit war eine außenpolitische Grunddifferenz zu Hillary Clinton ausgesprochen. Wenn eines klar ist, dann dass eine Präsidentin Clinton die imperiale und zugleich antirussische Politik, die schon ihr Mann machte und die sie als Außenministerin praktizierte, fortsetzen wird. Trump schob noch nach, die USA sollten ihre Ausgaben für die NATO reduzieren. Ein Aufschrei ging durch die Mainstream-Medien, auch die deutschen: Das sei Verrat und diene nur Putin.
Tatsächlich muss sich wohl die Politik daran gewöhnen, dass in den USA Ideen des sogenannten „Isolationismus“ wiederkehren. Die Beschränkung der Außenpolitik auf eigene Interessen und das Bestreben, sich nicht in fremde Konflikte hineinziehen zu lassen, bestimmte die USA-Politik bis zum ersten Weltkrieg. Dann führte der Demokrat Woodrow Wilson das Land in diesen Krieg; die Gründung des Völkerbundes ging maßgeblich auf seinen Einfluss zurück. Der US-Senat lehnte die Ratifizierung des Vertrages aber ab. Die isolationistische Linie hatte sich wieder durchgesetzt. Nachdem Franklin D. Roosevelt die USA in den zweiten Weltkrieg geführt hatte und unter seinem maßgeblichen Einfluss die UNO gegründet wurde, begann die lange Phase der „internationalistischen“ Politik der USA, gekennzeichnet durch Globalstrategie und militärische Interventionen. Der Isolationismus schien Vergangenheit.
Zu den Eigenheiten dabei gehört, dass es Demokraten waren, die die USA in Kriege führten: Wilson in den ersten Weltkrieg, Roosevelt in den zweiten Weltkrieg, Truman in den Korea-Krieg, Kennedy in den Vietnam-Krieg. Und es waren „reaktionäre“ Republikaner, die Kriege beendeten: Eisenhower den Korea-Krieg, Nixon den Vietnam-Krieg. Insofern war Bush II unter dem Einfluss der neokonservativen Einflüsterer und der Öl-Lobby mit den Kriegen gegen Afghanistan und Irak die Ausnahme, während Obama mit den Kriegen in Libyen und Syrien wieder dem Muster entspricht. Mit Trump ist das Erbe des Isolationismus in den USA wieder aufgerufen. Das bleibt, auch wenn er nicht Präsident wird. In Berlin ertönt aber nur Geschrei und der Wunsch, Clinton möge Präsidentin werden. Besser sollte man sich hier auf Anforderungen für eine eigenständige Außenpolitik einstellen. Eine, die die Nachbarn versteht, mit Russland Frieden und Verständigung sucht und nicht darauf baut, mit US-amerikanischen Raketen zu drohen.
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