19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

Querbeet (LXXI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Rosen für die Domröse und ein Buch für Hochhuth…

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Kleine Paula – große Klappe, grüne Kulleraugen, zwei Kinder, Ofenheizung, Kohleschleppen, Schichtbetrieb in der HO-Kaufhalle und im Herzen eine Riesensehnsucht nach was Großem, Schönem, Aufregendem: Das war das menschliche Antlitz der Deutschen Demokratischen Republik. Sexy Paula, das ist Freiheit, Zukunft, Glaube an die unglaublich große Liebe Paul. Angelica Domröse war längst ein Star. Doch mit dem 1973er DEFA-Film „Die Legende von Paul und Paula“ wurde sie, seltenes Glück, legendär. Am 4. April feiert sie ihren 75. Geburtstag.
Die Arbeit mit Regisseur Heiner Carow wirkte wie ein Befreiungsschlag gegen ihre Angst, künstlerisch an der Oberfläche kleben zu bleiben, bloß als tolles Weib wahrgenommen zu werden. Diese Angst trieb sie lebenslang um – bis hin in schwere Krisen. Ihr Wesen ging immer gegen bloß Hübsches, überhaupt gegen spektakuläres Bloßstellen von Einseitigkeiten.
Noch einmal ganz auf der Höhe ihrer Kunst sowie gleichsam und ganz bewusst als unvergessliches Vermächtnis: Die Domröse vor gut einem Jahrzehnt im Potsdamer Theater als Mary Tyron in Eugen O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, dem Drama einer sich auflösenden Familie. Hochhackig stöckelt die morphiumsüchtige Mary Domröse durchs Haus, umtänzelt den Esstisch, sackt bleiern zusammen. Die schreiende Leere dort, wo einst Familie, Wärme, Wohlsein waren, stößt sie zurück ins kalte, hoffnungslos Gegenwärtige. Eine Erloschene. Doch gleich wieder glüht in weit aufgerissenen Augen die Erinnerung an alte Seligkeiten. Und so geht das: Schwelgerei im Wahn, schwerer Fall auf harte Tatsachen, die sofort verdrängt werden. Eine Kaputte. Anfälle von Aufbegehren, gar aasig triumphierender Abgebrühtheit. Dann wieder verbitterte Schicksalsergebenheit. Momente eisiger Klarsichtigkeit wechseln mit Wehleid. Das Wahnsinns-Endspiel einer großen Schauspielerin im Potsdamer Theater. Um die Ecke begann, ein Halbjahrhundert zuvor, ihre sagenhafte Karriere: an der Filmhochschule Babelsberg.
Angelica Domröse, Kind aus einem Hinterhaus Berlin-Mitte, kam mit 17 durch eine Zeitungsanzeige zum Film: Hauptrolle in Slatan Dudows Schmonzette „Verwirrung der Liebe“. Da meinte sie, das schlichte „k“ im Vornamen durch ein schickes „c“ ersetzen zu müssen. Seither war sie zu Hause bei der DEFA und später beim Fernsehen (TV-Klassiker wie „Effi Briest“ und „Unterm Birnbaum“ nach Fontane oder „Emilia Galotti“ nach Lessing). Mit 19 sprach Angelica bei Helene Weigel im Berliner Ensemble vor. Man war angetan. – „Aber Helli, die ist für uns doch viel zu schön“, monierte Manfred Wekwerth. „Na, das kriegen wir auch noch weg“, frohlockte die Prinzipalin. Und engagierte „das Pupperl“ (das die Domröse nie sein wollte).
Angelica heiratete zuerst den tschechischen Schauspieler Jiri Vlstava; im Osten bekannt als „Clown Ferdinand“. Dann wurde sie die Frau ihres Kollegen Hilmar Thate – und blieb es bis heute. Beide waren hoch privilegiert. Zugleich waren sie zunehmend genervt von der Gängelei der Politfunktionäre in diesem „Karnickelstall DDR“. Ihr „Widersprechen von links“ gipfelte im Festhalten an der Parteinahme für „Volksfeind Wolf Biermann“ – gegen „kleinbürgerliche Selbstgerechtigkeit und geistigen Kartoffelsuppengeruch“. Sie gingen in den Westen.
Doch dort war sie zunächst kein Star. „Äußerst gewöhnungsbedürftig!“ Allmählich aber fasste sie Tritt im Film- und TV-Geschäft, das sie freilich zunehmend irritierte als „Windgenerator“. Der mache zwar unaufhörlich Welle, schrecke aber vor nichts so sehr zurück wie vor Seegang: Bloß kein Risiko! Für sie reizvolle Filmangebote mit tollen Stoffen wurden nie realisiert aus Furcht vor niedrigen Quoten. „Hat mich traurig gemacht“, gestand sie 1986 – da war sie gerade „Schauspielerin des Jahres“ geworden und drehte „Kir Royal“.
Trotz dieser Erfolge: Sie vermisste die kontinuierliche Arbeit mit einem Regisseur an einem Theater. Als sie ins Berliner Schiller-Theater fand, fühlte sie sich endlich wieder „heimatlich“. Umso schlimmer dessen Abwicklung. „Wie eine zweite Austreibung aus der DDR.“ Da ist sie Anfang 50, schwieriges Alter. Dennoch dreht sie fleißig für Kino und TV, bekommt Lorbeeren (Goldene Henne fürs Lebenswerk, Josef-Kainz-Medaille). Trotzdem: Die notorisch Skeptische stürzt in Daseinsängste, schluckt maßlos Alkohol. Reißt sich, Hilmar hilft ihr, wieder hoch. Macht mit in der Komödie über eine renitente Seniorenheim-Clique. – Zum Schauspieler-Beruf gehöre „die Fähigkeit zur Hingabe an ein anders Sein“, sagt sie. Und die beruhe auf einem sehr starken Ich. – Dazu: Gratulation!

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Mutter Ilse, erzählt er, war Kettenraucherin. „Sie saß also auf dem Bett, qualmte und meinte, ihr Mann soll sie wieder heim holen aus der Klinik – blinder Alarm! Doch da schrie die Hebamme: Beine hoch, Frau Hochhuth! Und da lag ich auch schon. Ein Aprilscherz.“ – Das war am 1.4.1931. Seither tobt Rolf Hochhuth auf dieser Welt. Und ist bislang nicht müde geworden, lauthals an ihrer Verbesserung zu werkeln. „Ich habe ein Renitenz-Gen geerbt“, sagt er. Und gesteht, warum er nie ohne Schlips geht. Weil er zu dick sei, und weil Krawatten den Bauch teilten. Ob das Jackett, das er stets nur lässig über die Schulter wirft (sein zweites Erkennungsmerkmal), ob das ebenfalls schlank mache, dazu sagt er nichts. Doch ansonsten ist er nicht auf den Mund gefallen. Legt sich, stur, wie er ist (aber Charme kann er auch), überall an, wo er Ungerechtigkeiten, Lügen oder auch nur Dämlichkeiten spürt. Und bringt massenhaft Anwälte auf Trab, was ihm allerlei Beschimpfung einbringt („Pinscher, Ratte, Schmeißfliege“); aber auch tiefe Bewunderung. Ein manischer Krawallmacher, dem keine Institution, keine Großmacht heilig ist. Und der mit gerade mal 32 Lenzen auf einen Schlag weltberühmt wurde: Mit der mutigen, glanzvoll recherchierten Klage und Anklage über die Mitschuld von Papst Pius XII. am Holocaust, dem Doku-Drama „Der Stellvertreter“, seinem dramatischen Erstling. Erwin Piscator hob ihn 1963 im Theater am Kurfürstendamm, dem damaligen Domizil der Freien Volksbühne, aus der Taufe. Der Fünfakter wurde zum größten Theaterskandal des letzten Jahrhunderts und sicherte dem Autor einen Ehrenplatz in der Theatergeschichte.
Erstaunlich, dass erst jetzt, sozusagen als Geschenk zum 85. Geburtstag, eine Biographie dieses Mannes erscheint. Die Hamburger Autorin Birgit Lahann, Jahrgang 1940, hat sich an die nicht einfache Sache gemacht. Und der ach so schwierige Herr H. (mit vier Hs, vier Ehen, drei Söhnen) hat sich drauf eingelassen. „Wohl, weil ich nicht sein Richter oder Gegner sein wollte und kein Moralist bin.“ Heraus gekommen sei „ein Psychogramm mit Reportageeinflüssen, ein kommentierter Dialog mit diesem großen Melancholiker, genussvoll Widerspenstigen und schonungslos Selbstkritischen“. Titel: „Hochhuth, der Störenfried“, (J.H.W. Dietz Verlag, Bonn, 29,90 Euro).
Kollege Martin Walser, auch einer mit großer kritischer Klappe, hat das 384-Seiten-Buch schon mal gelesen und greift zum Superlativ: Es sei das Lebendigste, was er in diesem Genre je zu lesen bekam. „Und dass dieses prinzipiell verquere Unikum schlicht liebenswürdig wird, liegt an Brigitte Lahann, die als scharfe Jägerin das Unikum in all seiner Lebendigkeit voll aufs Papier bringt.“
In ihren zahllosen Jagdgesprächen meist in Hochhuths Heim auf historisch schwer kontaminiertem Boden an der Berliner Wilhelmstraße (durch die mit Gedrucktem und Getipptem vollgestopften Zimmer wuselt ein Trupp junger Damen, die als Assistentinnen die Hochhuth-Factory am Laufen halten), also bei diesen Redereien kam es – natürlich! – auch zu Goethe und dessen Bemerkung, allein das Unzulängliche sei produktiv. Lahann spöttisch: „Das könnte auch auf Ihr Werk zutreffen.“ – „Aber ja!“, gibt H. zurück. Natürlich sei er unzulänglich, habe nicht mal Abitur, sei Schulabbrecher wie Thomas Mann oder Gerhart Hauptmann. Doch mit 14 hätte er dessen „Biberpelz“ gesehen. „Hab mich nass gemacht vor Vergnügen; von da an wollte ich nur noch Stücke schreiben…“
Vom Theater als lebenslange Leidenschaft, davon ist natürlich besonders die Rede in den 26 Kapiteln des Buchs. Von den vielen Krächen, denn H. hasst eigenmächtige Interpretationen der Regie; zuletzt etwa Einar Schleefs fantastische Paraphrase aufs Deutsch-Deutsche mit Hochhuths „Wessis in Weimar“ am BE. Der, ganz uralte Schule, will seine Texte eins zu eins auf der Bühne und basta. Und so hasst er pauschal alle „durch Subvention verblödete, selbstherrliche Theatermacher“. Auch mit Claus Peymann liegt er beständig über Kreuz. Für den wiederum ist R.H. der Beweis, „dass man selbst im hohen Alter immer noch in der Pubertät sein kann“. Und genau das hält offensichtlich frisch. Gratulation!