von Erhard Crome
Als Viktor Orbán, der Ministerpräsident Ungarns, im Sommer 2015 den bekannten Zaun an der Grenze zu Serbien hatte errichten lassen, um die Flüchtlingsströme von Ungarn fernzuhalten, wurde dies reflexhaft als Wertedebatte geführt: Wollen wir ein Merkel-Europa oder eines von Orbán? Eine Wertegemeinschaft oder ein Europa der nationalen Interessen? Nach dem EU-Gipfel vom 18./19. Februar wird deutlich, dass die nationalen Interessen weiter an Gewicht gewonnen haben. Die Europäische Union ist in der Krise. Es ist unklar, ob sie die EU bleibt, die wir kennen.
Zunächst sei noch einmal an die Vorschläge von Herfried Münkler erinnert, die er im Sommer 2015 – bevor die große Flüchtlingskrise begann – an die Adresse der von Berlin praktizierten Hegemonialpolitik gemacht hatte. Er betonte, die deutsche Regierung solle alles tun, damit Großbritannien in der EU bleibt, weil dessen Ausscheiden aus der Union die fragilen Gewichtsverteilungen zwischen Nord und Süd, Ost und West sowie auch zwischen Deutschland und Frankreich in einer Weise verändern würde, dass die deutsche Hegemonie als der entscheidende Faktor in Frage gestellt würde. Und in der Flüchtlingsfrage nannte er als eine der Bedingungen für Festigung und Stärkung der deutschen Hegemonie „die Fähigkeit, einen Beitrag zur Begrenzung der Flüchtlingsströme zu leisten“.
In der ersten Frage ist die Politik der Münkler‘schen Analyse gefolgt, in der zweiten hat sie – auch aus humanitären Erwägungen – seit Sommer 2015 das Gegenteil getan. Nachdem der politische Druck von rechts in Deutschland und seitens der anderen EU-Länder zunahm, versuchte Angela Merkel zurückzurudern, bisher allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. In Sachen Großbritannien haben sich die Staats- und Regierungschefs, so das offizielle Kommuniqué, nach „intensiven Verhandlungen […] auf eine Vereinbarung über einen verstärkten Sonderstatus Großbritanniens in der EU verständigt. Es handelt sich um einen rechtsverbindlichen und unumkehrbaren Beschluss aller 28 Staats- und Regierungschefs.“ Alle Beteiligten hoffen, dass der britische Premier Cameron damit das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU bestehen kann.
In der Flüchtlingsfrage wurde nichts erreicht, auch weil der türkische Ministerpräsident nicht teilnehmen konnte, sondern nur ein weiteres Gipfeltreffen für Anfang März vereinbart. Etwa 1,1 Millionen Flüchtlinge kamen 2015 nach Deutschland. Die vieldiskutierten „Quoten“ einer Verteilung der Flüchtlinge, die in Griechenland und Italien ankommen, sind noch immer nicht umgesetzt. Eine „europäische Antwort in der Flüchtlingspolitik“ liegt in weiter Ferne.
Die Gipfelregie wollte beide Themen in den Verhandlungen strikt voneinander trennen. Praktisch gelang das nicht. Zwischendurch hatte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras gedroht, den Großbritannien-Beschluss zu blockieren, sollte es keine Zusage der EU-Kommission und der anderen Regierungen geben, die sogenannte Balkan-Route, über die die meisten Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, nach Mitteleuropa gelangen, nicht zu schließen. Irgendwie konnte man Tsipras zur Zustimmung bewegen. Die Balkan-Route wurde dennoch geschlossen und Griechenland droht mit Zehntausenden Flüchtlingen allein gelassen zu werden.
Am 25. Februar wurde eine Mitteilung des tschechischen Regierungschefs, Bohuslav Sobotka, verbreitet, ein möglicher Austritt Großbritanniens aus der EU werde eine Welle des Nationalismus und Separatismus in ganz Europa auslösen. Das ist ein Euphemismus. Der Nationalismus ist schon da. Und die tschechische Regierung hat das ihre dazu beigetragen. Am Montag, dem 15. Februar 2016, kamen in Prag die Regierungschefs von Tschechien, Polen, Ungarn und der Slowakei – die Gruppe der Visegrád-Staaten („V4“) – zusammen, um vor dem EU-Gipfel ihre Positionen abzustimmen. Teilgenommen hatten auch die Regierungschefs von Bulgarien und Mazedonien – ein Hauptpunkt war, die „Balkanroute“ möglichst zu erschweren und die Grenze Mazedoniens und gegebenenfalls auch die Bulgariens zu Griechenland zu schließen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte die vier Länder davor, in der Flüchtlingskrise einen „Verein der Abtrünnigen“ zu bilden. Sie hätten in der Vergangenheit viel Solidarität erfahren. Sollten sie sich nun abschotten, werde es in Brüssel sehr schnell eine Debatte darüber geben.
Deutschland braucht die EU. Aber welche? Nachdem die Schuldenregime, wie im Falle Griechenlands, dazu geführt hatten, die nationalen Entscheidungskompetenzen der gewählten Parlamente und Regierungen drastisch zu beschneiden, schien die Aushöhlung des Souveränitätsprinzips überhaupt auf die Tagesordnung zu rücken. So wurde auch die Flüchtlingspolitik als deutsche Hegemonialpolitik umgesetzt: „Wir“ entscheiden, was allen gut tut, und erwarten, dass die anderen EU-Staaten dem folgen. Das Dublin-Verfahren – Bearbeitung von Asylanträgen in dem EU-Land, das der Asylsuchende zuerst betreten hat – wurde deutscherseits für Flüchtlinge aus Syrien außer Kraft gesetzt. Nach dieser einseitigen Aufgabe einer Rechtsposition, wie sie das Dublin-Verfahren darstellt, ist der Ruf nach Solidarität keine Rechtsposition – auf der die deutsche Regierung in Sachen Griechenland immer bestand –, sondern Bittstellerei. Die anderen aber entscheiden, ob sie der Bitte folgen.
Die slowakische Zeitung Pravda schrieb nach dem Visegrád-Gipfel, mit Asselborn polemisierend: „Das System mit Deutschland als Europas Chef funktioniert nur in guten Zeiten. Es zeigt seine Schwächen, wenn der Kontinent vor großen Problemen steht. Das Prinzip, wonach deutsche Lösungen immer auch gute Lösungen sind, ist nicht universell. […] In der Flüchtlingskrise hat Angela Merkel geirrt. Die Vertreter der Visegrád-Länder – das zeigt sich immer deutlicher – hatten von Anfang an Recht. Man kann vor der Realität nicht ewig die Augen verschließen. Zur Realität gehört die Einführung von Obergrenzen in Dänemark, Schweden und Österreich. […] Nur Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn unterstützt noch die Kanzlerin und warnt die V4, abtrünnig zu werden. In Wahrheit ist nur eine einsam: Königin Angela.“
Am 24. Februar 2016 hat Orbán auf einer Pressekonferenz in Budapest mitgeteilt, über die Quoten ein Referendum abhalten zu lassen. Bis jetzt habe niemand die Menschen in Europa gefragt, „ob sie die verpflichtende Quote zur Zwangsansiedlung von Migranten haben wollen“. Die Quoten seien ein „Machtmissbrauch“ der EU. Die von der Regierung formulierte Frage lautet: „Wollen Sie, dass die Europäische Union die verbindliche Ansiedlung von nicht-ungarischen Bürgern in Ungarn sogar ohne Zustimmung des Parlaments bestimmt?“ Der Ausgang einer solchen Abstimmung steht wohl schon fest, bevor sie überhaupt stattgefunden hat.
Viktor Orbán, der im September 2015 in der EU isoliert schien, kann sich jetzt auf breiten Zuspruch berufen. Am selben 24. Februar hatten die Innenministerin und der Außenminister Österreichs zu einem Treffen der Balkanstaaten nach Wien geladen, um die Balkanroute zu schließen. Griechenland wird wieder einmal in den Regen gestellt und mit geheucheltem Mitleid verhöhnt.
Nachdem in Deutschland auch die österreichische Regierung in den Medien zunächst des Nationalismus und Rassismus gescholten wurde, dreht sich auch hierzulande der Wind. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gibt wieder einmal den Ton vor. Zu dem Treffen in Wien kommentierte sie: „Wenn Einigkeit über das Ziel besteht, die Zahl der Neuankömmlinge zu verringern, muss es also darum gehen, diesen Rückstau mit möglichst viel Menschlichkeit gegenüber den Migranten und ohne politische Erschütterungen in den betroffenen Ländern zu erzeugen. Daher ist die von Österreich initiierte Zusammenarbeit mit den Balkanstaaten ein Schritt in die richtige Richtung.“
Schlagwörter: Erhard Crome, EU, EU-Gipfel, Flüchtlingskrise, Herfried Münkler, Nationalismus, Visegrád-Staaten