19. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2016

Zu Köln

von Bernhard Romeike

Ist den Ereignissen zu Köln in der Silvesternacht, besser den vielgestaltigen, dann wieder unisono vorgetragenen Debatten zum Thema danach noch etwas hinzuzufügen? Oft versinken die wenigen neuen Aspekte unter der Flut des Geredes. Plötzlich, aber nicht unerwartet, war auch Alice Schwarzer wieder da. Nach ihrer Liaison mit der BILD-Zeitung gegen den Wetterfrosch Kachelmann schien sie hinreichend diskreditiert. Jetzt sitzt sie wieder in der Talk-Show wie eh und je. Sie sagt, die massenhaften Angriffe auf Frauen durch arabisch-sprechende, oft nordafrikanische Männer hätten nach derzeitiger Kenntnis nicht nur in Deutschland, so in Köln, Hamburg, Stuttgart, Bielefeld, sondern ebenfalls in Schweden und Dänemark stattgefunden, und fragt, ob das nicht vielleicht organisiert worden sei. Durch Provokateure im Dienste des „Islamischen Staates“. Da reichten ein paar unter den Tausenden. „Verschwörungstheorie!“ jault sofort einer der politisch korrekten Talk-Runden-Kontrahenten auf.
Wer aber bei all den alten und neuen „Islam-Experten“ genauer zugehört hat, die allabendlich die Nachrichtensendungen und „Brennpunkte“ bevölkern, weiß, dass genau dies zum Vorgehen des IS und anderer Terrororganisationen gehört: durch Provokationen – das müssen ja nicht immer Maschinenpistolen und Sprengstoffgürtel sein, massenhafte sexuelle Angriffe auf einheimische Frauen tun das auch – die westliche Staatlichkeit so provozieren, dass ihr entweder Schwäche und Unfähigkeit nachgesagt werden kann, oder sie gezielt dazu gebracht wird, demokratische Grundrechte zu suspendieren, in deren Namen der Westen gerade gegen den dschihadistischen Islamismus antritt. Die daraus folgende Verfolgung gerade der islamischen Bevölkerungsteile in Europa hätte dann, so der beabsichtigte Effekt, eine weitere Zunahme der Zahl freiwilliger Dschihadisten zur Folge, die aus Europa in die Camps in Syrien und Irak gehen, wo sie militärisch und zum Terroreinsatz ausgebildet werden.
Bisher sollen es insgesamt an die 30.000 sein, die sich dorthin auf den Weg gemacht haben. Wie viele inzwischen zurück nach Europa gekommen sind, weiß niemand. Die vom Bundestag neu beschlossenen Ausweise werden das in Bezug auf jene, die zusammen mit den tatsächlich Zuflucht Suchenden bereits ins Land geschlichen sind, nicht im Nachgang lösen. Insofern hat Schwarzer den Finger auf eine Wunde gelegt, von der die politisch Korrekten bisher nichts wissen wollten.
Was haben die Debatten zu Köln in Nordrhein-Westfalen aber gebracht? Der Innenminister hat den bisher zuständigen Polizeipräsidenten von Köln geschasst, offenbar um seiner eigenen Ablösung zuvor zu kommen. Er sei nicht verantwortlich gewesen, sagt der Innenminister, und seine Chefin, die Ministerpräsidentin, sagt die Erhöhung der Zahl der Polizisten zu. Nachdem Sozialdemokraten in vielen Bundesländern, in Brandenburg auch unter der tätigen Mitwirkung der Linken, jahrelang die Zahl der Polizisten reduziert hatten. Darüber wird geredet. Aber die Frage, ob es denn nun üblich war, die nationale Herkunft von Straftätern nicht öffentlich zu nennen, wenn es sich um Migranten oder Flüchtlinge handelt, wurde zumindest in Bezug auf die Ereignisse zu Köln nicht hinreichend beantwortet.
Es sind inzwischen jedoch etliche Positionen in Bewegung geraten. Auch Linke und Grüne, die bisher ein eher ambivalentes Verhältnis zur Polizei hatten, erkennen, dass es ohne diese nicht geht. Für 2015 wurde zwar „Gutmensch“ zum obersten Unwort erklärt. Es ist aber älter als das Flüchtlingsproblem des vergangenen Jahres, und bezog sich ursprünglich nicht auf die gutwilligen Helfer in den Flüchtlingsunterkünften, sondern auf jene 1968er Studienräte, die „das Gute“ propagierten, ohne auf die wirklichen gesellschaftlichen Probleme einzugehen, etwa des Sinnes: Wir tun was für Afrika, indem wir fair gehandelten Kaffee trinken, reden aber nicht über die Handelspolitik der EU. Das ging auch umgekehrt: Linke riefen „Kein Mensch ist illegal!“, interessierten sich aber nicht für die wirklichen Probleme, die sich im Lande daraus ergeben.
Nachdem nun über eine Million Flüchtlinge in Deutschland sind, sagte Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linken im Deutschen Bundestag, noch eine Million Flüchtlinge 2016 werde das Land nicht verkraften. Das war ein Dementi des „Kein Mensch ist illegal“, ohne dass es in der Linken einen Aufschrei gab.
Auch im Ausland werden die Entwicklungen in Deutschland aufmerksam beobachtet. In einer der Fernsehsendungen zu Köln sagte Alison Smale, Leiterin des Berliner Büros der New York Times, die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel sei ein „großangelegtes soziales Experiment“, das aus Sicht der USA sehr genau verfolgt werde. Ist das Sorge oder Drohung? Die bulgarische Zeitung Novinar betonte Anfang Januar: „Keine Frau hat es verdient, zum Jagdopfer von Afrikanern und Arabern zu werden. Aber war es nicht eine Frau, die die Jagdsaison eröffnet hat? Merkel ist zum Symbol der liberalen Naivität geworden.“ Die dänische Jyllands-Posten schrieb: „Man kann nicht wissen, ob die Geschehnisse in Köln einen Vorgeschmack darauf geben, was uns hierzulande erwartet, aber die Befürchtungen sind bedrückend, weil man auch hier viele Jahre lang die Türen für manche Menschen offen gehalten hat, die ziemlich andere Verhaltensweisen haben, als solche, die wir für ordentlich erachten. Auch hier besteht die Befürchtung, dass man versucht hat, die Probleme totzuschweigen. Aber die Situation ist unumkehrbar. Eine Masse frustrierter junger Männer aus fremden und oft Gewalt verherrlichenden Kulturen ist hier. Das ist eine Realität, zu der sich Behörden und Bevölkerung verhalten müssen, und eine ganze Generation verantwortlicher Politiker muss zugestehen, dass sie für die jetzige Situation mit verantwortlich ist.“
Der Blogger Sascha Lobo (Spiegel Online) dagegen will sich nicht irritieren lassen: Die Sorge um die Frauen sei „nur verdeckter Rassismus“. Der Tagesspiegel will ebenfalls nicht die wirkliche Lage in den Blick nehmen, sondern sieht nur Instrumentalisierung: „Es ist der Gau, auf den rechte Kreise gewartet haben. Was in der Silvesternacht in Köln und anderswo passiert ist, könnte sich zum gefährlichen Brandbeschleuniger entwickeln im Verhältnis zu den Flüchtlingen, im Umgang mit alteingesessenen Zuwanderern.“
Es ist aber inzwischen nicht mehr eine Frage der Benutzung durch „rechte Kreise“, sondern der tatsächlichen Stimmung im Lande. Nach dem ARD-Deutschlandtrend vom 15. Januar stimmen noch 44 Prozent der Befragten einem „Wir schaffen das“ zu, 51 Prozent meinen, „Wir schaffen das nicht“. Dem Satz: „Die vielen Flüchtlinge machen mir Angst“ stimmen 48 Prozent zu, nur noch 50 Prozent lehnen ihn ab. Im Grunde ist jeder Zweite dieser Meinung. Das hat politische Konsequenzen. Bei der sogenannten Sonntagsfrage hinsichtlich der Bundestagswahl kämen bei dieser ARD-Umfrage die CDU – Flüchtlinge hin oder her – auf immer noch 37 Prozent, die SPD auf 25 Prozent, die Grünen auf zehn Prozent, die Linke auf acht Prozent. Die AfD käme auf zehn Prozent.
Es wäre aber völlig verfehlt, die AfD für die Stimmung im Lande verantwortlich zu machen. Es ist die Stimmung, die die AfD macht. Es wäre wahrscheinlich überhaupt am besten, zunächst die Sache als solche – Warum vergreifen sich Horden ausländischer Männer an hier lebenden Frauen, als seien sie Freiwild? Was ist dagegen zu tun? – zu diskutieren, und erst in einem zweiten oder dritten Schritt, welche Folgen das für die Parteienlandschaft hat.
Dass die Kritik an den obwaltenden Verhältnissen aber nach rechts führt, nicht nach links, ist ein Problem, das die Linke – im weitesten Sinne des Wortes – viel stärker umtreiben sollte. Aber nicht, indem man wie in Brechts „Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher“ die Frage verbietet, sondern indem man sie löst…