18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Washington: Sicherheitspolitisch nur grenzdebil?

von Sarcasticus

Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage nach dem sicherheitspolitischen Geisteszustand der herrschenden Machteliten der Vereinigten Staaten. Diese Frage sollte eigentlich nicht gestellt werden müssen. Denn die USA seien unser engster Freund und wichtigster Verbündeter in dieser Welt – so das regelmäßig wiederholte Mantra unser aller Bundeskanzlerin. Doch es gibt gleichwohl aktuellen Anlass, die Frage aufzuwerfen.
Beginnen wir mit einem Blick zurück.
Anfang der 2000er Jahre hatten die USA die massivste Aufrüstungsrunde der Neuzeit gestartet. Das US-Rüstungsbudget stieg von 312 Milliarden Dollar (2001) auf 711 Milliarden (2011) und lag 2011 damit um über 130 Milliarden über dem der im globalen Ranking nachfolgenden neun Staaten – zusammengenommen, wohlgemerkt.
Dabei soll es immer noch Zeitgenossen geben, die diese Entwicklung für einen etwas hypertrophen Reflex auf 9/11 halten. Dieser Annahme steht entgegen, dass bereits 1997 ein exklusiver Kreis von Neokonservativen in der Republikanischen Partei das „Project for the New American Century“ aus der Taufe gehoben und begonnen hatte, die Regierung Clinton in öffentlichen Briefen zu einer entschlosseneren Führung in der Weltpolitik und zur Erhöhung der Rüstungsausgaben aufzufordern. Zu den Gründern des Projektes zählten Donald H. Rumsfeld und Richard B. Cheney. Beide übernahmen nach dem umstrittenen Wahlsieg von Bush junior Ende 2000 Schaltstellen in der Administration – Rumsfeld als Verteidigungsminister und Cheney als Vizepräsident. Und schon im Sommer 2001 präsentierte der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz im Streitkräfteausschuss des US-Senats ein gigantisches Aufrüstungsprogramm – unter dem Label „great deterrence“ (große Abschreckung). „Ohne jede Herausforderung“, so fasste Egon Bahr später zusammen, „wollte die einzige Supermacht eine qualitativ neue Rüstung beginnen, um jede andere Macht zu entmutigen, sich überhaupt auf ein Rennen einzulassen.“ Dass seinerzeit gar keine Macht in Sicht war, die dafür – unter welchen Kriterien auch immer – infrage gekommen wäre, auch China nicht, konnte den Neocons kein Hinderungsgrund sein, war doch allein schon ihre Verschwisterung mit dem einheimischen Militär-Industrie-Komplex ausreichend für eine entsprechende Kursnahme. Welche Rolle speziell Rumsfeld und Cheney sowie Entourage Gleichgesinnter in der ersten Bush-junior-Administration dabei spielten, kann detailliert in einer Arbeit von Michael Hennes nachgelesen werden.
Wenige Wochen nach der Wolfowitz-Präsentation im Senat ereignete sich 9/11 und anschließend wurde das Aufrüstungsprogramm praktisch ohne Diskussion und folglich auch ohne Abstriche durchgewinkt. 9/11 war also nicht der Auslöser des Programms, hat dem Vorhaben als solchem aber auch nicht geschadet, um es neutral zu formulieren. Manche Beobachter, vornehmlich so genannte Verschwörungstheoretiker, sehen allerdings bis heute durchaus weiterreichende Zusammenhänge.
Schon als die USA das Programm verkündeten, waren sie mit kaum noch zu bemessendem Abstand die größte Militärmacht der Welt und überdies als einzige militärisch global präsent sowie als einzige befähigt zur militärischen Machtprojektion in beliebigem Umfang an jede Stelle des Globus. Und diese Abstände zu allen anderen sollten in den nächsten Jahren noch kräftig weiter wachsen.
Im Jahre 2012 bewegte den Autor dann aus gegebenem Anlass die Frage: Und was hat es den USA (und der Welt) gebracht? Wozu ist das mächtigste Militär aller Zeiten nütze?
Da kam dann schon einiges zusammen! So hatten sich die USA in die Lage versetzt:

  • zusammen mit anderen (Deutschland eingeschlossen) Afghanistan zu überfallen, um unter anderem die Taliban zu stürzen, und dies so erfolgreich, dass 13 Jahre später viel dafür spricht, dass diese nach einem Abzug der westlichen Streitkräfte in kurzer Zeit an die Macht zurückkehren werden;
  • mit ihrer „Koalition der Willigen“ im Irak erst einen Diktator zu stürzen und dann Staat und Gesellschaft so nachhaltig zu zerstören, dass weder vor noch gar nach ihrem Abzug von dem als hehre Begleitmelodei intonierten Hymnus des nation building aber nur eine Note wirklich materialisiert worden wäre;
  • wiederum mit anderen in Libyen einen weiteren Diktator von der Macht zu bomben und dort Verhältnisse zu hinterlassen, im Vergleich zu denen das vorherige Regime nachgerade als Idylle erscheinen muss.

Das genügte dem Autor, den über die Jahre durchaus wechselnden Führungsmannschaften in Washington zu attestieren – sicherheitspolitisch: grenzdebil.
Übrigens eine eher konservativ-zurückhaltende Diagnose. Denn die amerikanische Bilanz hätte schon damals durchaus ergänzt werden können, waren doch die USA seinerzeit ebenfalls bereits in der Lage gewesen:

  • Nordkorea nicht daran zu hindern, seinen Status als Atommacht mit Verfügungsgewalt über interkontinentale Trägersysteme aufrechtzuerhalten und auszubauen; und
  • nochmals mit anderen in den Bürgerkrieg in Syrien einzugreifen sowie – in Ergänzung zu den erfolgreichen Jahren im Irak – damit den idealen Nährboden für die Entstehung und Ausweitung des Islamischen Staates zu schaffen.

Jetzt, Ende 2015, folgte der nächste Paukenschlag in Sachen Aufrüstungsforcierung. Im Rahmen eines Auftritts in der Ronald-Reagan-Presidental-Library im kalifornischen Simi Vellay erklärte US-Verteidigungsminister Ashton Carter am 7. November, dass die USA wieder (noch) mehr Geld für Rüstung ausgeben werden. (Nach vor allem durch den Rückzug aus Irak möglichen und fiskal- sowie innenpolitisch motivierten Rückgängen in den Vorjahren lagen die US-Militärausgaben 2014 allerdings immer noch bei 640 Milliarden Dollar und damit immer noch gleichauf mit den addierten Ausgaben der im Ranking nachfolgenden neun Staaten.)
Carter hob dabei die Modernisierung der US-Nuklearwaffen und die Beschaffung eines neuen Langstreckenbombers (B3) besonders hervor. Allerdings ist derzeit nicht klar, welche möglichen weiteren Komponenten in nächster Zeit über die bis 2020/2021 geplanten unmittelbaren strategischen Rüstungsprogramme der Obama-Administration im Umfang von 100 Milliarden Dollar sowie die flankierenden Maßnahmen zur Modernisierung der zugehörigen Forschungs- und Produktionsinfrastruktur im Umfang von 80 Milliarden – bereits Blättchen 12/2011 hatte berichtet – noch hinausgehen könnten.
Darüber hinaus kündigte Carter neue Drohnen-Systeme, technologische Innovationen wie die elektromagnetische Schienenkanone, neue Systeme der elektronischen Kampfführung, Technologien im Weltraum sowie im Cyberspace an. Die Berliner Morgenpost kommentierte den Vortrag Carters knapp und treffend wie zustimmend mit den Worten: „Opulenter Ausbau amerikanischen Militärs“.
Natürlich lieferte der US-Verteidigungsminister auch eine einschlägige Begründung des Verkündeten – hier in der Wiedergabe durch die FAZ: „Die Vereinigten Staaten wollen Russland [und China – Ergänzung S.] stärker als bisher militärisch abschrecken.“ Und diesem Ziel kann man wahrlich nur Weisheit bescheinigen! Hatte sich doch gerade in jüngerer Zeit die segensreiche Wirkung US-amerikanischer Abschreckung gegenüber den beiden Erzrivalen nachhaltig gezeigt:

  • im Hinblick auf die russische Heimholung der Krim und das russische Agieren in der Ost-Ukraine allemal; aber auch
  • hinsichtlich des militärischen Eingreifens Russlands in Syrien; und nicht minder
  • bezüglich des expansiven Inselspringens Chinas im Südchinesischen Meer.

Gemäß der empirisch vielfach bewährten Maxime „viel hilft viel“ kann da ein Mehr an Abschreckung wirklich nur ein Mehr an Abschreckung bewirken!
Doch die Sache ist zu ernst, um in der Satire zu verharren. Russland (und inzwischen wahrscheinlich auch China) verfügen über eine gesicherte nukleare Zweitschlagskapazität, und keine der jetzt von Carter angekündigten Schritte wird daran etwas ändern. Überdies wird zwar schon seit Reagans SDI-Vision von 1983 und bis in unsere Tage immer mal wieder über neue (exotische) Technologien spekuliert, die in dieser Hinsicht einen Durchbruch bringen sollen. Aber (gottseidank) ist nichts davon auf absehbare Zeit im Bereich des Realisierbaren. Und damit verfügen die USA letztlich, wie immer sie auch rüsten, über keinen militärischen Hebel, ihre Handlungsspielräume gegenüber Russland und China spürbar zu erweitern.
Es heute trotzdem immer wieder aufs Neue zu versuchen, offenbart eine augenscheinlich unüberwindbare intellektuelle Hürde, die den Blick für die Erkenntnis zu versperren scheint, dass der ganze Ansatz, militärische Macht als Nonplusultra in der internationalen Arena zu betrachten und zu handhaben, falsch – oder sagt man jetzt moderner: nicht zielführend? – ist und es auch durch periodische Bekräftigung in Wort und Tat nicht wird.
Angesichts der internationalen Erfahrungen und militärischen Fiaskos der USA allein seit 9/11 stellt sich damit im Hinblick auf den sicherheitspolitischen Geisteszustand der herrschenden Machteliten der Vereinigten Staaten allerdings die Frage, ob die Diagnose grenzdebil im Jahre 2012 eigentlich zutreffend war, und wenn ja, ob sie noch zu halten ist?