von Wolfgang Schwarz
Man sollte meinen, dass die Frage, ob und, wenn ja, wofür die USA Russland brauchen, spätestens mit dem Wiener Übereinkommen zum iranischen Atomprogramm auch für den eindimensionalsten Schmalspurstrategen in Washington beantwortet sein sollte. Doch weit gefehlt. Zwar hat sich Präsident Obama beim Kollegen Putin persönlich telefonisch für den wichtigen russischen Beitrag zum Zustandekommen des Deals bedankt, im Übrigen aber, so Marco Overhaus von der Stiftung Wissenschaft und Politik, herrsche am Potomac „weiterhin Uneinigkeit darüber, ob Russland nur Feind oder teilweise ein Partner“ sei. Das State Department stehe für einen pragmatischen Ansatz, das Pentagon und die Streitkräfte hingegen würden Russland als „größte Sicherheitsbedrohung für die USA“ betrachten.
Allerdings ist dieser Bedrohung militärisch nicht beizukommen, denn so lange Russland nukleare Supermacht ist, bleibt Sieg im Krieg nach rationalen Maßstäben unmöglich: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Schon von daher wäre es auch für die Sicherheit der USA besser, es setzte sich auf Dauer die pragmatische Linie durch. Aber damit ist kaum zu rechnen. Dafür sorgen allein schon die militanten Republikaner im Senat mit ihrer holzschnittartigen russophoben Weltsicht. Sollte dieser Flügel den nächsten US-Präsidenten stellen, dann kann das durchaus zu einer noch konfrontativeren Gangart gegenüber Moskau führen. Andererseits – ein Ronald Reagan war auch als republikanischer Ultra-Falke gestartet, bevor er zusammen mit Michail Gorbatschow maßgeblich zur Beendigung des Kalten Krieges beigetragen hat. Die Geschichte bleibt also einmal mehr (oder: immer wieder) offen …
*
Käme es je zu einem militärischen Konflikt zwischen der NATO und Russland, würde der sich mit einiger Sicherheit vor allem in Europa abspielen. Zwar nicht mehr primär auf deutschem Boden, aber würde die nukleare Schwelle überschritten, müsste mit dem Schlimmsten gerechnet werden.
Nun meint allerdings Wulf Lapins, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kosovo (früher auch mal in der Ukraine) und gelegentlicher Blättchen-Autor, in einem Beitrag für IPG. Internationale Politik und Gesellschaft, bedroht sei derzeit die „Souveränität der Ukraine – nicht der Weltfrieden“. Doch sollte man wirklich Sachverhalte wie die Beteiligung amerikanischer Kernwaffenträger vom Typ B-52 an NATO-Manövern nahe russischer Grenzen oder die russische Vorverlegung nuklearfähiger Kurzstreckenraketen vom Typ „Iskander“ ins Gebiet von Kaliningrad und Putins atomare Hintergedanken im Kontext des Krim-Anschlusses, die er später öffentlich machte, auf die leichte Schulter nehmen? Wir haben, wenn auch erst Jahrzehnte später, erfahren, dass es während des Kalten Krieges wiederholt Situationen gab, in denen derartiges Abschreckungs-Pingpong der Kontrolle zu entgleiten drohte.
Von daher wäre es aus Sicht EU-europäischer Interessen noch größerer Nonsens denn aus dem Blickwinkel US-amerikanischer, Russland als „nur Feind“ zu betrachten. Dies tut Wulf Lapins nicht – ganz im Gegenteil. In einem Aufsatz an anderer Stelle – in WeltTrends. Das außenpolitische Journal vom Juni 2015 – schreibt er: „Die Mitgliedstaaten der EU müssen gemeinsam daran arbeiten, eine erneute politische Spaltung Europas zu verhindern. Deshalb darf Russland nicht ausgegrenzt werden […] Russland ist nicht unser Antagonist, und einen Ost-West-Konflikt 2.0 gilt es unbedingt zu vermeiden“. Hierzu sei auch Moskau gefordert.
Wie das jedoch praktisch funktionieren soll mit einem Mix von „keine Feindschaft, aber vorerst auch keine Partnerschaft mehr“, wie Lapins vorschlägt, bleibt vorerst im Dunkeln, denn über allgemein Gehaltenes wie, „so viel Zusammenarbeit wie möglich, so viel demonstrierte sicherheitspolitische Entschlossenheit wie nötig“ geht der Autor leider nicht hinaus.
Und ob damit der von ihm zu Recht diagnostizierten Bedrohung der Souveränität der Ukraine beizukommen ist, erscheint mehr als fraglich, denn die wurde doch genau in dem Moment virulent, als sich mit dem herbeigeputschten Führungswechsel in Kiew für Moskau das Menetekel einer Ukraine als potenzielles Aufmarschgebiet der NATO abzeichnete. Solange für dieses Problem keine für Moskau akzeptable Regelung angeboten wird, hält Putin an der aus Moskauer Sicht zweitbesten Lösung fest – an einem (im günstigsten Fall „eingefrorenen“) Konflikt in der Ostukraine. Der blockiert die von Washington, Kiew und einigen kleineren Paktstaaten unverändert gewollte NATO-Mitgliedschaft des Landes und stellt natürlich dessen Souveränität zur Disposition. Zwar gilt auch im internationalen Rahmen durchaus „Was du nicht willst das man dir tu‘ das füg‘ auch keinem andern zu!“, aber das Hemd ist Putin allemal näher als der Rock. Das gilt nicht minder im Hinblick auf den immer wieder zu hörenden westlichen Vorwurf, Russlands Vorgehen gegenüber der Krim und in der Ostukraine sei ein Bruch der mit dem Budapester Memorandum von 1994 eingegangenen Verpflichtungen, die Souveränität und die Grenzen der Ukraine zu garantieren – ein Vorwurf, der, mindestens soweit er von amerikanischer Seite erhoben wird, höchst fragwürdig ist, denn das State Department betrachtet dieses Memorandum als rechtlich nicht bindend (not legally binding).
*
Apropos Krim – die stereotypen, vom Westen sekundierten Forderungen Kiews nach simpler Rückführung konfrontiert Erhard Eppler in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik mit folgenden Überlegungen zur Sezession der Scharzmeerhalbinsel, als die er den Beschluss des zuständigen regionalen Parlaments, sich von der Ukraine zu trennen und der Russischen Föderation beizutreten, bezeichnet:. „Natürlich haben Russen dabei mitgewirkt. Aber immerhin hat kein einziger Mensch dafür sterben müssen. Die Zustimmung von 97 Prozent war sicher nicht völlig identisch mit den Meinungen im Land. Aber dass die Mehrheit der Krimbewohner zu Russland wollte, war und ist kaum zu bezweifeln. Das zeigt sich auch heute. Zwar wird in Kiew einfach die Rückgabe der Krim verlangt, aber ohne die Leute dort zu überhaupt fragen. Wenn Frau Merkel zwar immer wieder – formal korrekt – die Verletzung des Völkerrechts tadelt, aber nie andeutet, wie sie sich reparieren ließe, hat dies wohl einen guten Grund: Kann gerade sie, die Deutsche, verlangen, dass die Krim, was immer ihre Bewohner wollen, wieder ukrainisch wird? Schließlich haben wir Deutschen uns vierzig Jahre lang nicht auf das Völkerrecht, sondern auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Und das soll nun für die Krimbewohner nicht mehr gelten?“
Auf eine gänzlich andere Parallele, eine ganz ohne Analogie-Aspekt, macht Eppler ebenfalls aufmerksam: „Vergleicht man dies (den Völkerrechtsbruch in der causa Krim – W.S.) mit einem anderen Bruch des Völkerrechts, dem Irakkrieg, dann kann man schwermütig werden. Der amerikanische Bruch des Völkerrechts, der militärische Angriff – mit verlogenen Begründungen – auf einen anderen Staat, hat den Nahen Osten in ein Gewaltchaos verwandelt, das auch die Weltmacht USA nicht mehr bändigen kann.“
Welche destruktive Rolle die Regierung in Kiew in der Krise spielt, wie es dort um Demokratie und Menschenrechte bestellt ist und was zum ukrainischen Nationalismus zu sagen wäre, ist westlichen Groß- und Mainstreammedien in der Regel so gut wie kein Wort wert, denn wo Russland-Bashing das Primat hat, würden entsprechende Informationen nur Verwirrung stiften. Dazu Eppler: „Was ich der ukrainischen Regierung übel nehme, ist, dass sie alles tut, um die einzige Chance für ihr Land und seine Menschen gar nicht erst erkennbar werden zu lassen: dass nämlich nur die EU und Russland zusammen die Ukraine sanieren können. […] Man kann es der ukrainischen Regierung nicht verdenken, dass sie den Konflikt als einen Kampf der Demokratie gegen die Diktatur inszeniert. Aber dass weite Teile der europäischen – und natürlich der amerikanischen – Öffentlichkeit darauf hereinfallen, ist eher peinlich. Was in Kiew an Demokratie geboten wird, erreicht uns meist gar nicht. Wenn in Russland ein Oppositionspolitiker erschossen wird, ist das – zu Recht – wochenlang ein Thema, gespickt mit Vermutungen, wer hinter dem Mord steckt. Wenn in der Ukraine ein halbes Dutzend ‚Verräter‘ ihr Leben lassen müssen, erfährt der deutsche Zeitungsleser nichts. Opposition gegen die Regierung ist in Kiew jedoch kein größeres Vergnügen als in Moskau. Der ukrainische Nationalismus ist eher noch schriller, irrationaler als der russische. Natürlich schaukeln sich beide Regierungen gegenseitig auf. Und natürlich sorgen sie dafür, dass in beiden Ländern klar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Nur: Ist es die Pflicht eines deutschen Demokraten, die Welt durch eine ukrainische Brille zu betrachten?“
Vor allem aber äußert Eppler einige höchst berücksichtigenswerte Gedanken über den russischen Präsidenten: „Was ich nun hinzufüge, wird viele überraschen, vielleicht verstören: Ich fürchte nicht Putin, sondern seinen möglichen Nachfolger. Was auch immer diesem Präsidenten in den letzten 15 Monaten an weitergehenden bösen Absichten unterstellt worden ist […], es ist alles nicht eingetreten. Er hat die Krim ‚heimgeholt‘ zur Freude fast aller Russen, und er ist offenbar entschlossen, einen militärischen Sieg der ukrainischen Armee über die Separatisten zu verhindern, was auch immer im Westen beschlossen wird. Das ist erkennbar. Und sonst? Putin weiß, dass er einen Krieg mit dem Westen nicht riskieren kann, schon aus einem sehr plausiblen Grund: Sein Volk wird ihm darin nicht folgen, es wird ihn fallen lassen, wenn der große Krieg droht. Und er selbst weiß allzu gut, was Krieg ist, wie ein bewegender Artikel beweist, der zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘* erschien. Putin ist ein außerordentlich rationaler Typ, ein Rechner, der Kräfteverhältnisse einzuschätzen weiß. Und er ist immer noch der Präsident, der vor dem Bundestag Deutsch gesprochen hat, als er seinen Platz in Europa suchte. Er hat auf den Maidanputsch so reagiert, wie die Russen es von ihrem Präsidenten erwartet haben. Daher sitzt er fest im Sattel. Und er ist und bleibt ein Gesprächspartner, der zuhört, seine westlichen Gegenüber einzuschätzen weiß, einige davon schätzt, andere weniger. Er darf sich nicht anbiedern, wenn er die 85 Prozent Unterstützung nicht gefährden will. Aber er darf – auf Augenhöhe – Frieden mit Europa machen, wenn dabei nichts übrig bleibt von der schulmeisterlichen Demütigung, an die sich einige Politiker im Westen seit 1989 gewöhnt haben. Wenn es dazu kommt, wird der russische Nationalismus nicht gleich verschwinden, aber es werden ihm die Giftzähne gezogen. […] Dann müssen wir nicht mehr fürchten, dass sein Nachfolger all das wirklich tut, was man Putin zu Unrecht unterstellt.“
Derzeit sieht es allerdings nicht nach „Ende gut, alles gut“ aus.
* – Seltsamerweise ist es im (kostenpflichtigen) Online-Archiv der FAZ ein Geduldsspiel, den Beitrag zu finden. Die Eingabe von kombinierten Suchbegriffen wie „putin+krieg“, „putin+leningrad“, „putin+bruder“ führt nicht zum Ziel; die letzteren beiden Kombinationen ergeben gar „0 Treffer“ (bei unserer Recherche am 30. Juli um 18:40 Uhr). Fündig wurde die Redaktion erst bei bloßer Eingabe von „putin“ und rücklaufender Durchsicht aller angezeigten Beiträge (immerhin 15.723) bis zum 6. Mai 2015.
Schlagwörter: der Westen, Erhand Eppler, NATO, Russland, Ukraine, USA, Wolfgang Schwarz, Wulf Lapins