von Bernhard Mankwald
Wenn kluge Diplomaten ihren Verbündeten Komplimente machen, artet das manchmal in Schmeichelei aus. So erging es Egon Bahr, als er neulich in einer Rede Großbritannien als „Mutterland der Demokratie” bezeichnete. Die Ehre gebührt wohl eher dem antiken Griechenland; ausführliche Abhandlungen über Theorie und Praxis dieser Herrschaftsform sind aus dieser Zeit überliefert.
Eine lange und einflussreiche Tradition hat dagegen in der Tat der britische Parlamentarismus. Führend war dabei zunächst die Versammlung der höchsten Adligen. Heute hat das House of Lords kaum noch Macht, die meisten Mitglieder werden de facto von der Regierung auf Lebenszeit ernannt, tragen aber immer noch wohlklingende Titel vom Baron an aufwärts.
Zu den Mitgliedern des House of Commons zählten immer auch „einfache” Adlige wie etwa Sir Winston Churchill, Sohn eines Barons, Enkel eines Herzogs. Noch heute ist das angelsächsische Mehrheitswahlrecht die Grundlage einer andauernden Hegemonie der konservativen Partei; gerade erst wurde sie wieder durch einen deutlichen Wahlsieg bestätigt. Als Staatsoberhaupt auch einer Reihe befreundeter Länder fungiert eine sehr wohlhabende Grundbesitzerin, die dieses Amt von ihrem Vater geerbt hat. Ihr Bild ziert Münzen; Kriegsflotte und Luftwaffe kämpfen in ihrem Namen.
In den Vereinigten Staaten von Amerika finden wir ähnliche Machtverhältnisse immerhin im Rahmen einer republikanischen Verfassung vor. Die oligarchische Komponente, die nach Auffassung des antiken Staatsphilosophen Aristoteles zu einem ausgewogenen Staatswesen gehört, kommt dabei jedoch mit Sicherheit nicht zu kurz.
In Deutschland waren die „Bestrebungen der Sozialdemokratie” zwischen 1878 und 1890 per Gesetz als „gemeingefährlich” klassifiziert; die Mehrheit des Reichstags hatte dem zugestimmt. Für Karl Marx war dieses Regime „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“.
Es folgte eine Republik; sie schämte sich ihres Daseins derart, dass sie den alten Namen „Deutsches Reich“ weiter führte. Die „republikanische Partei Deutschlands“ passte nach einer ironischen Darstellung Kurt Tucholskys in eine Droschke. Der Reichspräsident hatte derartige Vollmachten, dass Rechtsexperten von seiner „Diktatur“ sprachen. Diese Vollmachten dienten 1933 dazu, der Gewaltherrschaft Hitlers einen legitimen Anstrich zu geben, bevor ihm die bürgerlichen Abgeordneten mit dem Ermächtigungsgesetz einen Blankoscheck auch für die Gesetzgebung gaben.
Nach dem Krieg wurde in einem Teil des Landes ein Staat gegründet, der sich als „Demokratische Republik” bezeichnete. Max Hageböck schrieb dazu im Blättchen Nr. 1/2011, „dass es niemandem gelungen war, das Demokratische der DDR zu zerstören. Es dauerte nur etwas länger und die Republik wurde ihrem Gründungsnamen gerecht. Das war dann aber auch das Ende der DDR.“
Die erfolgreichere und dauerhaftere Staatsgründung hingegen definiert sich über ihre föderale Struktur und firmiert als „Bundesrepublik“. Sie hat bis heute keine Verfassung, sondern lediglich ein „Grundgesetz“, das von einer recht kleinen Gruppe von Delegierten der Landtage nach Vorgaben der westlichen Siegermächte ausgearbeitet wurde. Wann daher jemals, wie im Gesetz postuliert, die Staatsgewalt vom Volke ausgegangen sein soll, bleibt unklar.
Der Bundesrat ist die Erste Kammer; sein Präsident vertritt gegebenenfalls den Bundespräsidenten. Er gleicht nicht einem demokratischen Parlament, sondern einer Versammlung von Aktionären, deren Stimmrecht sich nach der Zahl ihrer Anteile richtet. Dieses Gremium gab es in fast identischer Form schon im Kaiserreich. Damals machte es seinen Erfinder Bismarck, der zugleich preußischer Ministerpräsident war, zum mit Abstand mächtigsten Mann der Legislative. Heute dient es mit Ausnahme hochpolitischer Fragen vor allem als Instrument, durch das die Bürokratien der Länder Einfluss auf die Gesetzgebung des Bundes nehmen. Auf der übergeordneten europäischen Ebene dagegen ist das gewählte Parlament kaum mehr als ein demokratisches Feigenblatt für eine ausufernde Bürokratie.
Die Abgeordneten des Bundestags erlangen ihre Mandate – anders als etwa der Präsident der USA – durch eine Wahl, die nach allen gängigen Maßstäben tatsächlich frei, gleich und geheim ist. Dazu müssen sie allerdings zunächst eine Kandidatur auf der Landesliste oder in einem Wahlkreis erringen, die in einem wesentlich weniger durchsichtigen Verfahren vergeben wird. Statt ihre Partei- und Fraktionsführung zu überwachen, werden die vorgeblich nur ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten also in der Praxis eher von ihr abhängig. Die Institution der Fraktionsdisziplin, die von „Einpeitschern“ überwacht wird, wurde ebenfalls vom britischen Parlamentarismus übernommen. Die einfachen Abgeordneten erscheinen dieser Mentalität offenbar als unmündiges Stimmvieh; der Sprachgebrauch teilt diese Einschätzung, wenn er ein verbreitetes Abstimmungsverfahren als „Hammelsprung“ bezeichnet.
Das gewählte Parlament ist verpflichtet, die eigentliche Staatsgewalt umgehend einer Regierung zu übertragen, die es nur mit absoluter Mehrheit wieder abwählen kann. Immerhin wirken die einzelnen Abgeordneten in Ausschüssen an der Formulierung von Gesetzen mit – soweit die Fraktionsdisziplin, die übermächtige Konkurrenz der Ministerialbürokratie, der massive Einfluss von Heerscharen von Lobbyisten dies zulassen.
Anders als früher bekennen sich die bürgerlichen Parteien wenigstens dem Namen nach zur Demokratie. Bei näherer Betrachtung sieht man jedoch die Einschränkungen: Die „freie“ Demokratie bedeutet für eine Minderheit vor allem die Freiheit des Eigentums – für die große Mehrheit dagegen eher die Freiheit vom Eigentum. Die „christliche“ Demokratie basiert auf Religionsgemeinschaften, die in sich hierarchisch organisiert sind. In Österreich dagegen gibt es weiterhin eine Österreichische, in der Schweiz eine Schweizer und eine Christliche „Volkspartei“ –hier hat das einfache Volk die Gelegenheit, den Machteliten als Fußvolk zu dienen. Zugrunde liegt dem die Auffassung, dass wir alle in einem Boot sitzen –eine Parole, mit der schon Königin Kleopatra ihre Rudersklaven zu motivieren versuchte.
Es wäre also wohl ebenfalls Schmeichelei, unsere Republik ohne ergänzende Attribute wie „föderal“, „frei“, „christlich“, „bürgerlich“ schlicht als „demokratisch“ zu bezeichnen, wobei man froh sein muss, in dieser Mixtur wenigstens noch eine Spur von „sozialer“ Demokratie vorzufinden. Eine gängige These bezeichnet derartige Verhältnisse als „postdemokratisch“. Angesichts der skizzierten deutschen Zustände fragt man sich aber, wann denn der demokratische Idealzustand je verwirklicht gewesen sein soll. Leben wir also in Wirklichkeit in einer Prädemokratie?
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Demokratie, Deutschland, Großbritannien, Parlamentarismus