18. Jahrgang | Nummer 1 | 5. Januar 2015

Gerard Braunthal, eine Erinnerung

von Mario Keßler, New York

Die „Generation Exodus“, wie sie Walter Laqueur in seiner Kollektivbiographie dieser Gruppe bezeichnete, verlässt uns nun: Nur noch wenige der zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Machtantritt Hitlers Geborenen und durch sein Regime aus Deutschland Vertriebenen sind noch unter uns. Die Flüchtlinge dieser Jahrgänge waren jung genug, um in den Ländern ihres Exils dauerhaft Wurzeln zu schlagen, doch alt genug, um klare Erinnerungen an Deutschland zu behalten. So sie wissenschaftlich tätig wurden, blieb Deutschland oft eines ihrer Arbeitsgebiete.
Dies gilt auch für den Politikwissenschaftler Gerard Braunthal. Am 27. Dezember 1923 wurde er in Gera geboren. Dort leitete sein Vater Alfred die Heimvolkshochschule im Schloss Tinz, eine der SPD nahestehende Bildungsanstalt für Erwachsene, an der aber auch Kommunisten wie Karl Korsch und Karl August Wittfogel zeitweilig unterrichteten. 1929 gab Alfred Braunthal die Funktion in Gera zugunsten der Arbeit an der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik in Berlin auf, wohin die Familie alsbald zog.
Alfred Braunthals Schwester Bertha war als Kommunistin in Berlin, sein Bruder Julius als Sozialdemokrat in Wien ebenfalls politisch aktiv. Julius Braunthal wurde ein bekannter Funktionär der internationalen Sozialdemokratie sowie ein renommierter Historiker der Arbeiterbewegung. Sein dreibändiges Hauptwerk „Geschichte der Internationale“ (1961-1963) wurde mehrmals aufgelegt und übersetzt.
Alfred heiratete Erna Elkan, die 1929 bei einem Bergunfall starb, und danach ihre jüngere Schwester Hildegard. Sie wurde zur zweiten Mutter für die beiden Kinder aus erster Ehe. Die Tochter Jagna, verehelichte Zahl, arbeitete in der Computerabteilung des Instituts für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Chicago, dann in Harvard, bevor sie 1967 ein eigenes Puppentheater gründete. Später unterrichtete sie Englisch an zwei Community Colleges, trat jedoch auch als Schriftstellerin und Übersetzerin hervor.
Der Sohn Gert, später Gerard, musste als Kind lernen, was es heißt, um sein Leben zu laufen. Sofort nach Beginn des Hitler-Regimes floh die Familie, als Juden und Sozialisten doppelt bedroht, nach Belgien. Dort arbeitete Alfred Braunthal unter anderem als Assistent des (damals noch) sozialistischen Theoretikers Hendrik de Man. Im März 1936 gingen die Braunthals nach New York, wo Alfred Braunthal in Forschungsinstituten der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung arbeiten konnte.
Gerard Braunthal meldete sich nach Absolvierung der Oberschule in New York freiwillig zur US-Armee. Dies trug ihm die amerikanischen Staatsbürgerschaft sowie nach dem Krieg ein Stipendium am New Yorker Queens College ein. Zuerst hatte er Japanologie studieren wollen und sich bereits in die Anfangsgründe der japanischen Sprache vertieft. Doch seine persönlichen Erfahrungen sowie die Nürnberger Prozesse bewogen ihn schließlich, sich der Politikwissenschaft zuzuwenden und das Nachkriegsdeutschland zu seinem Forschungsfeld zu machen. Nach Studienabschlüssen am Queens College und an der University of Michigan sowie einer bei Franz Neumann angefertigten Dissertation an der Columbia University arbeitete Gerard Braunthal ab 1953 kurz am National Bureau of Economic Research in Cambridge (Massachusetts), bevor er 1954 eine Assistentenstelle an der University of Massachusetts in Amherst antrat. Dort blieb er und absolvierte die akademische Laufbahn bis zum Professor für Politische Wissenschaft.
In Amherst entfaltete er eine weitgespannte Tätigkeit als Universitätslehrer und Forscher. Zu seinen Büchern gehören „The Federation of German Industry in Politics“ (1965), „The West German Legislative Process“ (1972), „Socialist Labor and Politics in the Weimar Republic“ (1978), „The German Social Democrats since 1969“ (1994) und „Parties and Politics in Modern Germany“ (1996).
Zwei Bücher verdienen, besonders hervorgehoben zu werden: „Political Loyality and Public Service in West Germany“, 1990 erschienen, behandelte die gegen – nicht nur kommunistische – Linke verhängten Berufsverbote in der Bundesrepublik ab 1972. Kein westdeutscher Wissenschaftler, wollte er nicht seine Laufbahn ruinieren, konnte es damals wagen, sich diesem heißen Eisen kritisch auch nur zu nähern. Das Buch erschien zwei Jahre später in einem kleinen Marburger Verlag unter dem Titel „Politische Loyalität und öffentlicher Dienst“ auch auf Deutsch, wurde aber in den Pressorganen, die die feinen Leute lesen, ignoriert.
2010 erschien “Right-Wing Extremism in Contemporary Germany”. Darin zählte Braunthal Propagandisten oder Trägergruppen von Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, doch auch Kräfte, die solche Bestrebungen mittelbar begünstigen, zum Rechtsextremismus. Wer glaubte, alles über Zeitschriften, Verlage und Internetauftritte des rechten Randes zu wissen, konnte nach der Lektüre einen Zugewinn an Kenntnis verbuchen. Nicht weniger informativ sind die Passagen über die verschiedenen Varianten des Rechtsrock, des Netzwerkes entsprechender Konzertagenturen und Versandhäuser, aber auch Hinweise auf Computer-„Spiele“. Braunthal unterstrich als einer der ersten (jedenfalls im englischen Sprachraum), dass Neonazis nicht nur im martialischen Skinhead-Aufzug daherkommen, sondern auch Kleidungsstile der Linken kopieren, sich mit fortgeschrittenem Alter dann oft ein „bürgerliches“ Image zulegen – er schrieb, als hätte er die „Pegida“-Bewegung vorausgesagt. Doch gab er der Leserschaft auch unbequeme Wahrheiten über den rechten Rand der, wie er ausdrücklich betonte, demokratischen CDU mit auf den Weg.
Der freundliche, stets hilfsbereite, am Schicksal der „abgewickelten“ DDR-Intelligenz besonders interessierte Gerard Braunthal ist bereits am 26. Oktober 2014 in Amherst verstorben. Der seit 2009 Verwitwete hinterlässt zwei Söhne und drei Enkel. Es spricht für die Bescheidenheit des an Publicity nie interessierten Jerry, wie ihn seine Freunde nannten, dass er auch sein Begräbnis nicht groß zelebriert wissen wollte. Er sah sich als einfachen Arbeiter im Dienste der Aufklärung. Das trifft wohl die Sache nicht ganz: Er war ein bedeutender Wissenschaftler und ein bedeutender Mensch, der die Worte Ehrlichkeit und Solidarität sehr selten im Munde führte, sie aber zu den beiden Grundprinzipien seines Lebens und Schreibens gemacht hatte.