von Wolfgang Brauer, aus Buenos Aires
Die Avenida del Libertador verbindet das Zentrum von Buenos Aires mit dem Vorort San Fernando. Sie gehört zu den schönsten Straßen der argentinischen Metropole. Im Stadtteil Belgrano führt sie allerdings an einem der grauenhaftesten Orte der argentinischen Geschichte entlang, der Escuela de Mecánica de la Armada („Mechanikerschule der Marine“ – ESMA). Hier kommandierte ab Mitte der 1970er Jahre Emilio Massera, Chef der argentinischen Marine.
Am 24. März 1976 putschte Massera an der Seite von Jorge Videla, dem Oberbefehlshaber des Heeres, und Luftwaffenchef Orlando Agosti Präsidentin Isabel Perón weg. Sie war im Juli 1974 ihrem verstorbenen Gatten, General Juan Perón, auf dem Präsidentenstuhl gefolgt. Unter ihr hatte sich der katastrophale Niedergang der argentinischen Wirtschaft verschärft. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen trieben das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Die schon unter Juan Perón installierten Todesschwadronen der „Argentinischen Antikommunistischen Allianz“ („Triple A“) verschärften ihren Mordfeldzug gegen alles, was irgendwie linker Sympathien verdächtig war – und übrigens auch gegen Gegner der Präsidentin innerhalb der perónistischen Partei. Als Antwort darauf intensivierte die linke Guerilla ihre Aktivitäten.
In dieser Situation erschien der Putsch des Militärs vielen Angehörigen des mittleren und gehobenen Bürgertums geradezu als Erlösung. Die Putschisten bedienten diese Erwartungshaltung propagandistisch, indem sie ihre Herrschaft als „Prozess der Nationalen Reorganisation“ („Proceso“) deklarierten. Junta-Chef Videla machte allerdings unverblümt klar, dass „so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben“ müssten, „damit das Land wieder sicher wird“. General Luciano Benjamin Menéndez wurde konkreter: „Wir werden 50.000 Menschen töten müssen. 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten und wir werden 5.000 Fehler machen.“ Sie töteten etwa 30.000 Menschen, dann mussten sie abtreten.
Die ESMA gehörte zu einem Netz von Folterhöllen, das die Hauptstadt überzog. Massera baute die Schule zum größten geheimen Folterzentrum des Landes aus. Hier litten etwa 5.000 Inhaftierte teilweise monatelang, ohne zu wissen, wo sie sich befanden. Dann entledigte man sich ihrer. Unter dem Vorwand in reguläre Gefängnisse verlegt zu werden, wurden die Menschen betäubt in Flugzeuge verbracht, in diesen entkleidet und entweder über dem Atlantik oder dem Rio de la Plata aus mehreren hundert Meter Höhe abgeworfen. Die angespülten Leichen wurden in Massengräbern als „Unbekannte“ verscharrt. Nach dem Ende der Diktatur vorgenommene Obduktionen ergaben, dass die Menschen in der Regel durch den harten Aufprall auf die Wasseroberfläche starben. Die ESMA selbst überlebten nur 200 Menschen.
Die Folterungen und Morde geschahen mit Billigung der katholischen Kirche. Vertreter des Klerus segneten die Waffen der Täter. Sie segneten die Maschinen der regelmäßig stattfindenden „Todesflüge“. Sie billigten das Abwerfen der Opfer als „christliche Art des Sterbens“. Priester sollen bei vielen Folterungen anwesend gewesen sein. Nicht um den Opfern geistlichen Bestand zu leisten – „Beistand“ gewährten sie den Folterern. Der seinerzeitige Chef der argentinischen Filiale des Jesuitenordens, Jorge Maria Bergoglio, war offenbar gut mit Admiral Massera bekannt. Die damalige Rolle Bergoglios ist umstritten; heute ist er als Papst Franziskus Chef des Vatikans. Dieser Tage sprach er sich in einem anderen Zusammenhang gegen „Staatsterrorismus“ aus: Wenn „sich jeder Staat das Recht gibt, die Terroristen zu massakrieren, werden zusammen mit den Terroristen […] viele unschuldige Menschen sterben“, zitierte ihn die AFP nach einem Besuch der Straßburger EU-Institutionen Ende November. Dieser Papst weiß aus eigener Erfahrung, dass die Bezeichnung „Terrorist“ ein fragwürdiges Monopol der Herrschenden ist. Lassen wir einmal beiseite, dass zu den Opfern der argentinischen Militärs auch etliche, der „Theologie der Befreiung“ nahe stehende Priester und Mönche, darunter zwei Bischöfe, gehörten. Unbestritten ist die Beteiligung seiner Kirche am Kindesraub durch die mordenden Militärs. Eine Praxis, die man aus dem faschistischen Spanien Francos übernahm (siehe ausführlicher „Von guten Päpsten“, Das Blättchen 7/2013).
An den Gedenkwänden des Parque de la Memoria in Buenos Aires sind die Namen der Opfer und ihr Alter eingetragen. Neben vielen Frauennamen findet sich eine Ergänzung: „Abdala, Lilia Nora 34 años, embarazada“ („Abdala, Lilia Nora 34 Jahre alt, schwanger“). Lilia Nora durfte – falls sie die Folter überlebte, aber da passten die Militärärzte auf – ihr Kind noch entbinden. Die ESMA hatte eine eigene „Entbindungsstation“. Danach wurden die Mütter auf den Todesflug verbracht. Die Kinder gab man an Militärfamilien zur Adoption. Mindestens 500 Neugeborene wurden so ihren Müttern geraubt, bis heute konnten lediglich 118 identifiziert werden. Videla verstieg sich während des gegen ihn und seine Mittäter in dieser Sache im Sommer 2012 angestrengten Prozesses zu der Behauptung, diese Frauen hätten ihre Kinder nur als „embryonalen Schutzschild“ für ihre „terroristischen Aktivitäten“ missbraucht.
Auf Videlas direkten Befehl soll übrigens auch die Ermordung der deutschen Studentin Elisabeth Käsemann am 24. Mai 1977 zurückgehen. Das Auswärtige Amt in Bonn unter Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und die Botschaft in Buenos Aires wussten um das Schicksal der jungen Frau – wie auch anderer deutscher „Verschwundener“ –, sie hätten ihre Freilassung erwirken können. Man verhielt sich anders: Als die US-Administration unter Jimmy Carter gegen die Junta ein Waffenembargo erließ, wurden die deutschen Rüstungsexporte nach Argentinien mit Hermes-Bürgschaften abgesichert. Im Jahr nach der Ermordung Elisabeth Käsemanns fand in Argentinien die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Berti Vogts, damals Kapitän der Elf, lobte Argentinien als „Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen“. Im Sommer 2014 veröffentlichte Eric Fiedler seinen Film „Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.?“. Klaus von Dohnanyi, als Staatsminister im Auswärtigen Amt in die Vorgänge involviert, wird von Fiedler zitiert: Heute wäre „das sicher ganz anders“. Die Geschehnisse rund um die WM in Brasilien sprachen eine andere Sprache.
Am Ufer des Rio de la Plata im nördlichen Stadtgebiet von Buenos Aires – in unmittelbarer Nachbarschaft zur Universität und nur wenige hundert Meter vom Stadtflughafen, von dem auch die Todesflüge abgingen, – befindet sich zum Gedenken an die „Opfer des Staatsterrorismus“ der bereits erwähnte Park. Im Zentrum stehen lange Wände mit Namenstäfelchen. Für jedes Jahr der Diktatur eine, insgesamt für 30.000 Desaparecidos („Verschwundene“). Nur 9.000 Täfelchen sind beschriftet, von 21.000 Menschen konnten bislang Identität und Schicksal nicht ermittelt werden. Sie sind nach wie vor „verschwunden“.
Unsere Besuchergruppe wurde von Anibal Ibarra beim Gang durch die Gedenkstätte begleitet. Dem redegewandten Politiker – Ibarra war einige Jahre Bürgermeister der Stadt – stockte die Stimme, als er uns die Namenstafel einer 18-jährigen Frau, seiner Cousine, zeigte. Ihr letzter bekannter Aufenthaltsort war die ESMA. Ibarra blieb noch einige Male vor einzelnen Täfelchen stehen. Zehn seiner ehemaligen Mitschüler wurden von den Militärs umgebracht. Anibal Ibarra war vor seiner kommunalpolitischen Karriere unter anderem als Jurist tätig und gehörte zu den wenigen Bundesanwälten, die gegen die Amnestiegesetzgebung Staatspräsident Carlos Menems Ende der 1980er Jahre Sturm liefen. Aufgehoben wurden diese Gesetze erst 2003 durch Präsident Néstor Kirchner. Seitdem laufen auch wieder die Prozesse – gegen ein Kartell des Schweigens.
Die Wahrheit kommt nur langsam an das Tageslicht – aber viele Opfer, die dem Vergessen anheimfallen sollten, gewinnen ihr Gesicht wieder. Wir kennen inzwischen auch das Gesicht von Pablo Míguez. Pablo „verschwand“ am 12. Mai 1977 um 3.00 Uhr morgens. Er war 14 Jahre alt. Auch er starb im Rio de la Plata. Die Bildhauerin Claudia Fontes schuf für ihn in der Denkmallandschaft des Parque de la Memoria ein anrührendes Werk: Die ihm nachgebildete lebensgroße Figur steht im Wasser des Flusses und blickt in die uferlos scheinende Weite. Uns wendet sie den Rücken zu. Pablo ist gleich den unzähligen anderen gegangen – aber er ist dennoch da.
Die Mord-Herrschaft der Junta war seinerzeit Bestandteil der CIA-gelenkten „Operation Condor“ auf dem Subkontinent. In Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien kostete dieser erste „Krieg gegen den Terror“ mindestens 500.000 Menschen das Leben. Die Traumata der Diktatur prägen Argentinien nach wie vor. Das wird noch lange der Fall sein.
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