17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Baltische Staaten: Äußere Bedrohung oder Diskriminierung im Inneren?

von Rolf Geffken

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt wurde Russland wiederholt unterstellt, es beabsichtige auch gegen die baltischen Staaten militärisch vorzugehen. Die NATO und die USA nahmen dies zum Anlass, verstärkt militärische Einsatzbereitschaft zu demonstrieren. Insbesondere die Regierungen der betroffenen Staaten, vor allem in Estland, betonen immer wieder, dass sie ohne Schutz der NATO Annexionsabsichten Russlands ausgeliefert seien. Was ist dran an diesen Befürchtungen und was ist der mutmaßliche Grund für die ständige Beschwörung einer angeblich russischen Bedrohung der baltischen Staaten?
Zunächst: Alle baltischen Staaten verfügen nur über sehr kleine Streitkräfte. Ein Angriff Russlands wäre militärisch äußerst leicht durchzuführen. Russland hat aber zu keinem Zeitpunkt eine militärische Intervention auch nur angedeutet. Zudem sind die baltischen Staaten Mitglieder der NATO. Ein Angriff auf deren Territorium würde möglicherweise die Gefahr eines Weltkrieges heraufbeschwören und wäre für Russland ein unkalkulierbares Risiko. Warum wird aber dann trotzdem diese angebliche Bedrohung immer wieder beschworen?
Einer der wesentlichen Gründe dürfte rein innenpolitischer Natur sein. Die baltischen Staaten – vor allem Lettland und Estland – verfügen über eine bedeutende russischsprachige Minderheit. An sich wäre dies noch kein Grund für innenpolitische Konflikte mit außenpolitischen Folgen. Vor allem dann wenn man bedenkt, dass die baltischen Staaten auch EU-Mitglieder sind und die EU bekanntlich die Rechte und den Schutz nationaler Minderheiten auf ihren Schild gehoben hat.
Doch die Lage der russischen Minderheiten ist in den baltischen Ländern „hausgemacht“. Zum einen handelt es sich begrifflich kaum um eine wirkliche „Minderheit“. Bei der Abspaltung von der Sowjetunion war etwa die Hälfte der Bevölkerung Estlands und Lettlands russischsprachig. Auch heute noch sind russischsprechende Bürger in den großen Städten etwa Lettlands sogar in der Mehrheit.
Obwohl es sich also eigentlich um Zwei-Sprachen-Länder handelt, werden der russischen Bevölkerung grundlegende Bürgerrechte weiter verweigert. Sie besitzt kein Wahlrecht. Ihr Recht auf politische Betätigung ist eingeschränkt, sie müssen ihren Namen der „Staatssprache“ anpassen und für die „Einbürgerung“ bestehen nach wie vor erhebliche Hürden. Das Bildungs- und Hochschulsystem grenzt faktisch und rechtlich russischsprachige Bürger aus. Für bestimmte Berufe und vor allem im öffentlichen Dienst bestehen Eingangsvoraussetzungen, die Angehörige dieser sogenannten „Minderheit“ nur selten erfüllen können. Unter dem Vorwand eines „Schutzes“ der ehemals unterdrückten „Staatskultur“ und „Staatssprache“ wird einem großen Teil der Bevölkerung die Loyalität abgesprochen. Dieser Teil der Bevölkerung ist rechtlich und faktisch staatenlos und soll auf diese Weise zur Auswanderung nach Russland veranlasst werden.
Es erscheint deshalb wenig verwunderlich, dass russischsprachige Bürger aus Lettland und Estland nicht nur äußerst unzufrieden sind mit ihrer Lage, sondern sogar junge russischsprachige Bürger inzwischen als „Freiwillige“ in der Ostukraine kämpfen. Nach einer langen Periode des Schweigens nehmen sie zunehmend ihre Rechte insbesondere auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wahr. In einer Reihe von Fällen, so etwa bei Ausweisungen und der Aberkennung politischer Mandate waren sie bereits erfolgreich. Doch ist unverkennbar, dass vor allem Estland und Lettland weiterhin zentrale völkerrechtliche Bestimmungen verletzen – so insbesondere die Rahmenkonvention zum Schutze der Minderheiten, aber auch die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Charta. Der UN-Sonderberichterstatter für Rassismus kritisierte wiederholt die hohen Einbürgerungshürden und die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit der russischsprachigen Bevölkerung. Die EU forderte Estland auf, die EU-Richtlinie über Rassengleichheit in nationales Recht umzusetzen. Doch anstatt sich den Regeln dieser „Wertegemeinschaft“ zu fügen, setzte vor allem Estland – schon vor dem Ukraine-Konflikt – auf aggressive Verschwörungstheorien. So griff die offizielle Polizeibehörde des Landes das „Juristische Informationszentrum für Menschenrechte“, eine unabhängige NGO, an und unterstellte Russland „wissenschaftliche Forschungen zu Propagandazwecken“ über dieses Zentrum durchzuführen. Außerdem wurde ohne jeden Beleg dem Zentrum unterstellt, es verheimliche seine „Finanzierung aus russischen Quellen“.
Umso erstaunlicher und unverständlicher ist es, dass insbesondere die EU Kritik an der unhaltbaren Diskriminierung in Estland und Lettland nur verhalten äußert. Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (der gar kein Organ der EU ist) bezeichnete das Ziel Lettlands, den „Schutz der Staatssprache“ zu garantieren, als „legitim“ (um auf diese Weise eine „Lettisierung“ der Namen zu rechtfertigen). Demgegenüber wird versucht, Kritik an den Zuständen ausgerechnet Russland anzulasten. So wird in einem Arbeitspapier der Forschungsgruppe Osteuropa der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ vom September 2013 Russland die „Instrumentalisierung der Menschenrechte“ unterstellt, weil es sich wiederholt bei den verschiedenen internationalen Institutionen über die Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit beschwert habe… Das fehlende Wahlrecht bezeichnen die Experten der Stiftung als nur „sekundär“. Die Vorschriften in der Charta der EU gegen Diskriminierung seien „für den Minderheitenschutz ungeeignet“. Die Absicht, auf diese Weise die Völkerrechtsverstöße der baltischen Regierungen zu verharmlosen, ist unverkennbar. Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen sei nicht anwendbar, weil sie von Estland und Lettland nicht unterzeichnet und nicht ratifiziert seien. Man fragt sich dann aber, warum die Länder nicht aufgefordert wurden, dies immerhin fast 25 Jahre nach dem Ausscheiden aus der Sowjetunion zu tun. Geradezu abenteuerlich ist die Behauptung, dass etwa die estnische Regierung „mit der estnischen Sprache als Zentrum staatlicher Identifikation“ Kompromissbereitschaft gegenüber den Belangen der Minderheiten reflektiere. Wie kann man durch den Zwang zur Assimilation „Kompromissbereitschaft“ gegenüber Minderheiten signalisieren?
Bei alledem darf nicht vergessen werden, dass die Angehörigen der russischsprachigen Minderheit in den baltischen Staaten dort geboren wurden und zunächst in dem Glauben aufwuchsen, dies sei auch ihre Heimat (die Sowjetunion). Aber die Zugehörigkeit dieser Staaten zur Sowjetunion wird retrospektiv pauschal als „Okkupation“ eingestuft und gut die Hälfte der Bevölkerung wird dafür heute immer noch haftbar gemacht.
Zusätzlich bedeutet die nun schon über zwei Jahrzehnte anhaltende Ausgrenzung der russischsprachigen Minderheit zugleich deren soziale und ökonomische Diskriminierung, die tendenziell auch zur Verelendung dieses Bevölkerungsteils geführt hat. Das sich daraus ergebende Konfliktpotential wird von den dortigen Regierungen scheinbar bewusst in Kauf genommen.
Die Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit verstößt gegen alle geschriebenen und ungeschriebenen Normen des Völkerrechts und der menschlichen Zivilisation. Die verbalen Angriffe gegen Russland sollen von diesem Sachverhalt offensichtlich ablenken und die EU täte gut daran, endlich effektiv gegen diese Diskriminierung einzuschreiten, anstatt den Bedrohungsszenarien zulasten Russlands weiter Glauben zu schenken.