17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Deutungsschlachten zur Geschichte des Ersten Weltkrieges

von Stefan Bollinger

Kriege sind keine Naturereignisse

Nicht überraschend hat Deutschland einen neuen Platz in der Geschichte zugewiesen bekommen. Sönke Neitzel und seine Kollegen triumphieren in der Welt (04. Januar 2014): Sie verstehen nicht, warum sich Deutschland mit der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg so schwer tut, und sie machen dafür die Schuldigen aus: „Es hat […] mit der seit den Sechzigerjahren unter deutschen Politikern, in Schulen und Redaktionsstuben verbreiteten Weltsicht zu tun, Deutschland habe nicht nur den zweiten, sondern auch den ersten der beiden Weltkriege angezettelt. Bei manchen unserer europäischen Nachbarn verdichtet sich das heute zu dem Diktum, mit seiner Euro-Politik drohe Deutschland den Kontinent ein drittes Mal zu ruinieren. Das ist nicht nur historisch falsch, es ist auch politisch gefährlich.“ Damals hatte ein westdeutscher Historiker, Fritz Fischer, gegen den Widerstand seiner konservativen, reaktionären Kollegen den Weltkrieg im Wesentlichen als Resultat des deutschen Strebens, des deutschen „Griff(s) nach der Weltmacht“, wie der programmatische Titel seines Schlüsselwerkes hieß, ausgemacht. Das passt vielen Verantwortungsträgern in Deutschland und ihren intellektuellen Wasserträgern nicht mehr ins Konzept. Wir sind wieder wer in der Welt und wenn wir schon nicht die Schmach des Faschismus loswerden, dann sollte doch zumindest die Schuldfrage für den Ersten Weltkrieg neu gestellt und beantwortet werden. Alle waren da irgendwie schuld, die Deutschen vielleicht sogar ein wenig weniger. Denn, so die Autoren des genannten Artikels, „Die deutsche Führung […] verfolgte, getrieben von Abstiegsängsten und Einkreisungssorgen, das defensive Ziel, jene prekäre Situation einer begrenzten Hegemonie auf dem europäischen Kontinent wieder zu errichten, die das Reich unter Bismarck besessen hatte, weit entfernt davon, übermütig und größenwahnsinnig nach der Weltmacht zu greifen.“ Fischers Aktenfunde und Interpretationen sollen dem Vergessen anheimfallen, die vielleicht weniger auf die Schuld-, denn die Ursachenfrage gerichtete Analyse der kommunistischen Historiker aus dem anderen Deutschland muss man ja sowieso nicht erwähnen. Alle waren „schlafwandlerisch“ in den Krieg geschlittert. Warum soll darum noch gestritten werden? Es ist keineswegs nur ein Paradigmenwechsel der Geschichtsforschung, es ist ein Umschreiben der Geschichte aus politischem Kalkül.
Aber eine neue Historikerdebatte oder auch nur eine gesellschaftliche Debatte zur Bewertung der Ursachen des Ersten Weltkriegs findet nicht statt. Dabei gäbe es mehr als einen Grund, denn seine Geschichte wird nach 50 Jahren erneut umgeschrieben – zugunsten Deutschlands, seiner Eliten und des internationalen Monopolkapitals, das hinter den Entscheidern in Berlin, Wien, Moskau, Paris und London wenn schon nicht die Strippen zog, so denn doch den Herrschenden half, im Interesse des eigenen Landes und der eigenen Wirtschaft zu entscheiden. Von einigen marxistischen Nachhutkämpfern abgesehen sind es Volker Ullrich in der ZEIT, John C. G. Röhl und wenige andere, die jener seit 1961 mühselig im Westen durchgesetzten Lesart der Kriegsursachen die Treue halten, die damals Fritz Fischer gegen wütende Angriffe auch im Westen versuchte durchzusetzen: Deutschland und seine Wirtschaftsführer setzten auf Krieg und Weltmacht im Interesse des Reiches und seiner Wirtschaft.
Auch wenn dies nur ein Teil der Wahrheit sein konnte, weil ähnliche Interessenlagen auch die anderen Staaten umtrieben, war doch der aggressivste, entschlossenste und verbrecherischste Kriegstreiber damit ausgemacht. Deutschland war nicht Alleinschuldiger, aber in der konkreten Krise auf Grund der welt- und europapolitischen Gesamtlage diejenigen Macht, die an der Neuverteilung der Welt und dem Neuziehen der Grenzen das nachhaltigste Interesse besaß und risikofreudig genug war, einen Krieg vom Zaune zu brechen, der nur im kurzfristigen Erfolgsfall Deutschland den Sieg bot, ansonsten den Niedergang der Alten Welt, den Niedergang des Deutschen Reiches, die Entfesselung revolutionärer Erschütterungen mit sich tragen konnte.

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Die Bundeskanzlerin ist vor Studenten eines „HistoryCamp 14/14“ begeistert von den Aufbrüchen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, den neuen technischen, kulturellen, sozialen Möglichkeiten, die anfingen, Wirklichkeit zu werden. Daran zu erinnern ist ihr 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs wichtig. Ihr Blick wird aber sogleich diffus, wenn sie sich diesem Krieg zuwendet. „Die Menschen von damals rücken plötzlich ganz weit weg, sobald unser Blick auf den Ausbruch des Krieges am 28. Juli 1914 fällt. Die Menschen, die in den Städten Europas darüber gejubelt haben, gerade auch hier in Berlin, die sind uns fremd. Diese Seite des beginnenden 20. Jahrhunderts hat etwas Verstörendes. Wir alle wissen heute, was dann kam: Der Erste Weltkrieg hat sich ausgebreitet wie ein Flächenbrand. Er riss ein Land nach dem anderen in die Katastrophe. Tiefe Feindschaften, jahrelang gesät, keimten auf und trugen abscheuliche Blüten. Deutschland hatte daran seinen entscheidenden und traurigen Anteil. Europa stürzte in einen fürchterlichen Strudel der Gewalt. Ein rücksichtsloses und menschenverachtendes Aus-spielen technischer und militärischer Möglichkeiten begann.“ (Bulletin der Bundesregierung 52-2 vom 07.05.2014) Nicht nur sie gerät ins Schwimmen, wenn nach den Ursachen dieser „Urkatastrophe“ zu fragen ist. Es bleibt bei einer simplen Aussage: „1914 war unser Kontinent von diplomatischer Sprachlosigkeit geprägt. In den Staaten Europas herrschte eine übersteigerte nationale Perspektive vor. Die Konfrontation galt als Chance, und heute muss man sagen: Welch ein fataler Irrtum!“
Es waren aber weder Irrtümer noch Naturgewalten, die ein Drittel der Menschheit in Krieg und Elend trieb. Kriegsbegeisterung und Widerstand gegen den Krieg hatten Ursachen, erst recht das tödliche Handeln der Machteliten der beteiligten Staaten. Ihnen auf den Grund zu gehen müsste Anliegen der Wissenschaft sein, der Medien, erst recht der heutigen Politiker aller Lager. Das Beschwören des Irrwegs von 1914 ist sicher richtig. Der Blick auf die vermeintlichen und tatsächlichen Parallelen 100 Jahre später wird aber zur Farce, wenn nicht nach den Mechanismen gefragt wird, die hinter dem Handeln dieser Eliten standen. Sarajewo, „Euro-Maidan“, Krim, Syrien, Irak, Afghanistan, Venezuela, die Inseln im Südchinesischen Meer haben mehr gemeinsam als nur unprofessionelles Verhalten von Politikern und Diplomaten. In diese Rechnung gehören die Ideologen, die mit ihren wohl gesponserten Verbänden und Medien wirksam werden und Stimmungen anheizen, ökonomische und geopolitische Interessen verkleistern oder rechtfertigen.

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Es kann nicht wundern, jedes historische Ereignis, das Konsequenzen, Folgen, Konstellationen für die Gegenwart hat, ist zwangsläufig auch Argument in der politischen Auseinandersetzung der Gegenwart. Wer die Geschichte schreibt, der ist in der Lage, die Gegenwart und Zukunft zu bestimmen. Das macht Geschichtswissenschaft wie immer zur Hure der Politik, stellt allerdings auch für alternative, kritische, gar marxistische und linke Geschichtsschreibung und -schreiber besondere Herausforderungen. Der Grat des Schwankens zwischen Parteinahme und Vereinnahmung ist schmal, aber die Flucht in eine wissenschaftliche „Objektivität“ wird kaum der Ausweg sein können.
Der Erste Weltkrieg, seine Vorgeschichte und seine Folgen sind Schlüssel für das Verständnis des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt für die Spaltung der Arbeiterbewegung, schließlich für die bereits unmittelbar im letzten Kriegsjahr 1917/18 einsetzende System- und Blockkonfrontation zwischen dem, was später als Realsozialismus und Realkapitalismus im Konflikt auf Leben und Tod stand, nun allerdings von allen Utopien und unbefleckten Hoffnungen entledigt. Heute geht es nicht mehr – wie damals viele meinten und wie ihnen eingeredet wurde – um das Schicksal von Kaisern oder Königen. Selbst die alte Erbfeindschaft mit Frankreich ist lange erledigt. Dafür erlebt die Angst vor Unruhen auf dem Balkan, weit hinten in und nach der Türkei und ganz aktuell die Angst vor dem russischen Bären und der gelben Gefahr fröhliche Urständ. All dies wird heute meist unter demokratisch-weltbürgerlichen Firniss verdeckt. Denn über die Interessen des Westens, die Interessen Deutschlands an seinen Absatzmärkten, seine Kapitalsicherheit, seiner Energieversorgung soll weniger geredet werden. Es geht um Demokratie, Menschenrechte, Freiheit für Minderheiten, um westliche Werte – und nicht um westliches Kapital, könnte auch heute der unbedarfte Zeitgenosse meinen.
Um ihn in seinem Glauben zu lassen muss auch die Geschichte nichts mit ökonomischen Interessen, mit Machtverhältnissen und Bündnissen von Großagrariern und Großkapitalisten zu tun haben. Da ist es besser, die Gelegenheit zu nutzten, die Vorgänge um den Ersten Weltkrieg als Beginn eines Jahrhunderts der totalitären Regime zu stilisieren. Hitler und Stalin, oder vielleicht lieber Stalin und Hitler werden dann zu den Hauptakteuren und Machern des Weltkriegs Numero Eins, auch wenn sie noch Randfiguren waren.
Wie überhaupt Euphemismen diesen wie jeden Krieg verklären, ihn jenseits gelegentlicher handwerklicher Fehler der damaligen unfähigen politischen und militärischen Eliten zum Naturereignis machen. Das Georg F. Kennan-Wort von der „Urkatastrophe“ ist das meistgebrauchte, der Krieg ist „ausgebrochen“. Die Eigenlogik der Ereignisse nach einem eigentlich in dieser Zeit fast alltäglichen Attentat auf einen künftigen Potentaten nebst Ehefrau soll vergessen machen, dass es Menschen waren, die diesen Krieg geplant, organisiert, tatsächlich gemacht haben, und trotz mancher nervlicher Schwäche auf keinen Fall verhindern wollten.
Im Kern geht es um den keineswegs erledigten Imperialismus, nicht als ein nur politisches, aggressives Konzept einiger mehr oder minder machtgeiler Potentaten und Militärs, vielleicht auch noch einiger Diplomaten und generell Politiker, maximal vielleicht einiger unmittelbar an der Rüstung verdienender Kapitalisten. Es geht um das Wesen eines modernen Kapitalismus, der mit der Herausbildung der Monopole zwanghaft auf Expansion setzt. Er braucht neue Absatzmärkte, neue Ressourcen, und die dafür aus Sicht des Kapitals notwendigen politischen Rahmenbedingungen. Es geht um Expansion, gerne auch friedlich, solange es geht und das Geld für den Kapitalexport reicht. Darum freute man sich über den Bau der Bagdad-Bahn und war enttäuscht, dass die Osmanen nach immer mehr Bakschisch lechzten und andere in Paris und London finanzkräftiger waren. Aber dieser Expansionsdrang, zumal für jene Mächte wie Deutschland, Italien, Japan und die USA, die etwas spät gekommen waren, konnte und musste auch militärisch verwirklicht werden.
Historiker wie Christoph Münkler bewegt allein die Frage nach dem „Wie“ des Zustandekommens von Entscheidungen. Großtheorien wie der Marxismus oder auch nur seine gesellschaftsgeschichtlichen Adaptionen können da nur stören. Denn „die Frage nach dem Warum (lädt) ein, nach fernen und nach Kategorien geordneten Ursachen zu suchen: Imperialismus, Nationalismus, Rüstung, Bündnisse, Hochfinanz, Vorstellungen der nationalen Ehre, Mechanismen der Mobilisierung. Der ‚Warum-Ansatz’ bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt. Die Faktoren türmen sich auf und drücken auf die Ereignisse; politische Akteure werden zu reinen ausführenden Organen der Kräfte, die sich längst etabliert haben und ihrer Kontrolle entziehen.“ Was hier als möglicherweise berechtigter methodischer Einwand daherkommt, ist aber genau der positivistische Blick auf Geschichte, der letztlich in einem Faktenmeer hilft kenntnislos zu ertrinken.
Den Krieg zu verstehen erfordert das Fragen nach den sozioökonomischen Ursachen für die Bereitschaft Kriege zu entfesseln. Das ist aber eben nicht allein der Blick auf die innenpolitischen Konstellationen, sondern auf das Grundverständnis des Kapitalismus in seiner monopolistischen Ausprägung. Profitmaximierung und Expansion sind hier die entscheidenden Triebkräfte, die mit allen Mitteln realisiert werden sollen. Es gibt unterschiedliche Interessenlagen und Erwartungen, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Krieg ist eine – im Erfolgsfalle oder zumindest bei keiner auslöschenden Niederlage zumindest für die Rüstungswirtschaft profitträchtige Möglichkeit. Allein das Vernichtungsrisiko – seit den 1950er Jahren mit den Kernwaffen zunehmend im Kalkül auch imperialistischer Wirtschaftsführer und Politiker – kann dies begrenzen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen diesbezüglich die Welt und die möglichen Kriegsbilder noch unproblematisch. Da bietet sich das Deutsche Reich besonders an, das lässt aber auch all die anderen imperialistischen Mächte nicht außen vor. Anlässe, besondere Konstellationen und Interessenlagen lassen sich immer finden, aber erst die Rahmenbedingungen mehr oder minder gleich motivierter Mächte und ihrer großen Wirtschaftsführer entfesseln den Großen Krieg. Diese Welt von 1914 war aufgeteilt. Es galt sich bei denen zu bedienen, die offenbar zu schwach waren auf Grund innerer nationaler und sozialer Widersprüche. Das Osmanische Reich, das Russische Reich, Österreich-Ungarn boten sich förmlich als Objekte der Begierde an, aber auch als eigenständige Akteure einer Flucht nach vorne, um ihre maroden Staaten zusammenzuschweißen an. Das enfant terrible musste aber das Deutsche Reich sein, dessen besondere Machtkonstellationen aus Adel und Großkapital endlich Weltpolitik machen wollten – und dies hieß „Griff nach der Weltmacht“, wie dies Fritz Fischer seinen Historikerkollegen in den 1960er Jahren vor die Füße warf. Solche „Großtheorien“ sind für Münkler und Co. Teufelszeug, altes Denken.

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So verstanden, ist die Kriegsschuldfrage eigentlich sekundär. Am Krieg verdienten die Kapitalisten aller Mächte, alle hatten Kriegsziele, die wenig mit Frieden, aber viel mit Machtzuwachs und Schwächung oder Vernichtung des jeweiligen Gegners zu tun hatten. Insofern musste jedes Liebäugeln mit der Vaterlandsverteidigung Kriegsgegner und erst recht eine sozialistische Arbeiterbewegung, die den Kapitalismus abschaffen wollte, ins Verderben führen. Aber das hätte erfordert, den Imperialismus als Monopolkapitalismus und machtpolitische Strategie in ihrer Einheit zu begreifen. Das trauten sich damals und auch heute nach dem Ende des Staatssozialismus und seiner ideologischen, theoretischen Grundlagen nur noch wenige.
Für die Herstellung einer weltpolitischen Normalität ist die BRD heute aber sehr interessiert, die Geschichte wieder gegen den Strich und gegen die Einsichten der Fischer-Kontroverse zu bürsten. Wenn heute ein hegemonialer Anspruch in der freien Welt Europas kraft der ökonomischen Potenz beansprucht wird oder gerne solche Zuschreibungen aufgenommen werden, dann wäre es schön, zumindest von einer geschichtlichen Sünde freigesprochen zu werden. Vom Faschismus mit seinen Verbrechen wird dies kaum gelingen, obschon auch dieser mehr und mehr auf die Verantwortung für den Holocaust reduziert wird. Aber wenn die neuen Weltkriegshistoriker wie Clark schwadronieren, dass „der Kriegsausbruch von 1914 […] kein Agatha-Christie-Thriller ist, an dessen Ende wir den Schuldigen im Konservatorium über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen“, dann wäre es tatsächlich so: „In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs.“ Wenn wir nicht über Ursachen und Schuldige reden wollen, dann ist es nur eine Tragödie, vielleicht ein Versehen und es reicht auch künftig ein allgemeines Gewäsch über den Frieden und Europa.
Diese Entwicklung sollte allerdings auch Linke wieder dazu bringen, die Einschätzungen der radialen Linken wie Fritz Fischer von der besonderen Rolle Deutschlands ernster zu nehmen als die allgemein Kriegsschuld-Diskussion im Gefolge von Versailles eigentlich verantwortlich zu machen. Denn das Kaiserreich war tatsächlich besonders aktiv, machte die Wiener Führung erst stark mit dem Blankoscheck, führte einen Krieg unter Bruch des Völkerrechts mit dem Einfall in Belgien und Luxemburg, griff früh zu Kriegsverbrechen und duldete die bei ihren Verbündeten auf dem Balkan und in der Türkei, machte mit Giftgas und uneingeschränktem U-Boot-Krieg erst modernes Massentöten möglich.

Die Linken, die Macht, der Krieg

Zu den wenig beachteten Fragestellungen hinsichtlich der Entfesselung des Großen Krieges gehört die Rolle der Linken. Möglicherweise hat der dafür wenig gelittene Jürgen Kuczynski in seiner Schrift „Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“ recht gehabt, als er 1957 die Frage nach einer Mitverantwortung der SPD und der deutschen Arbeiterklasse herausstellte. Natürlich ist die Vorgeschichte der sozialdemokratischen Zustimmung zu den Kriegskrediten auch als eine Geschichte der bewussten Täuschung der SPD durch die Reichsleitung zu verstehen. Kanzler Bethmann Hollweg hatte die Ressentiments der SPD gegen die zaristische Despotie für die Zwecke der aggressiven deutschen Führung ausgenutzt. Und sicher trug die Sorge, ja die Angst der SPD vor Verbot und Repressalien ein Übriges dazu bei, sich auf die Seite des Vaterlandes zu stellen. Das Versagen der deutschen Sozialdemokratie ist aber eben nur ein Mosaikstein des Handelns aller Parteien der II. Internationale, mit Ausnahme der russischen (und bulgarischen). Damit wäre aber nach dem Selbstverständnis von Linken zu fragen, die die revolutionäre Phrase hochhielten. Auf den großen Sozialistenkongressen seit 1907 thematisierten sie die Kriegsgefahr, erklärten, dass es um einen imperialistischen Krieg gehen würde und dass Widerstand erforderlich wäre. Als es Ernst wurde, verstanden sie sich, auch die deutsche Partei, längst sich als Gestalter einer staatragenden Politik, die Verantwortung wahrnehmen wollte, die die Reformen von Regierung und Kapital – dank deren geschickterer Politik und den neuen Möglichkeiten imperialistischen Profiterzielung und deren Nutzbarmachung für den Ausbau der Sozialpolitik und die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter – nun auch in gesamtstaatlicher Verantwortung umgemünzt sehen wollte. Insofern steht dahinter die grundsätzlichere Frage nach der Entwicklung der Linken, dem Verzicht einer Entscheidung in der Revisionismus- oder in der Generalstreik-Debatte, dem Erfolg einer zentristischen Politik, die die Flügel der Partei beieinander halten wollte.
Hier ersteht auch die Frage nach dem Verhalten und den Alternativen der radikalen Linken und der Kriegsgegner. Denn obwohl der Bruch in der Kriegsfrage nicht identisch mit den Frontstellungen der Revisionismusdebatte war, stand doch recht schnell die Frage, wie sich radikale Linke und Kriegsgegner in oder vielleicht auch außerhalb ihrer Partei verhalten konnten. Der Weg Liebknechts ist hier symptomatisch. Von dem Beugen vor Partei- und Fraktionsdisziplin am 4. August zum einsamen Aufbegehren am 2. Dezember 1914 bis hin zu einer schließlich durchaus breiten Antikriegsposition bisher sozialdemokratischer Abgeordneter. Dazu gehört die Erfahrung, dass die Mehrheitssozialdemokratie vom erste Widerwort an bereit war, die Linke auszustoßen, ja zu opfern im Interesse der „Ideen von 1914“, dem Burgfrieden, der Anerkennung durch Reichsleitung wie bürgerliche Parteien. Dazu gehört eben auch der schwierige Weg von Liebknecht, Luxemburg, Zetkin hin zu einer eigenen politischen Organisation mit „Spartakus“, mit der Teilnahme an der USPD, bis hin zur Gründung der KPD. Genau diese Auseinandersetzung wird in den meisten der aktuellen Darstellungen ausgeblendet, bestenfalls als Randthema verhandelt, denn Blick bleibt ja auf die großen Entscheider gerichtet. Dass diese großen Mühe aufwandten, die Heimatfront stabil und geschlossen zu halten spielt kaum eine Rolle. Ebenso wenig der vom einem Rinnsal schließlich zum breiten Strom sich entwickelnde Antikriegskampf von Individuen, Unorganisierten, Spartakusleuten, Revolutionären Obleuten, die schließlich 1917 und 1918 in ernste Bedrohungen für die herrschende Macht wurden. Und die ihre Entsprechung in der Entwicklung bei allen Kriegsparteien mit ihren Soldatenstreiks und Meutereien, mit Munitionsarbeiterstreiks und Flottenaufständen fanden. Die wurden zwar allesamt immer wieder abgewürgt, niedergeschlagen, mit Todesstrafe unterdrückt. Aber mit dem Übergreifen und dem Triumph in den russischen Revolutionen eröffneten sie einen tatsächlichen Ausweg aus dem Krieg. Der Eintritt der USA in den Krieg, die Revolutionen und Russland waren zusammen mit der Erschöpfung, ja dem Zusammenbruch von Front und Heimat in den Mittelmächten ausschlaggebend. Aber es ist auch nicht zu vergessen, dass auch die Entente längst am Rande der inneren Entkräftung darbte. Die revolutionären Erschütterungen in Europa und den kolonialen und abhängigen Gebieten waren so nur konsequent. Jedoch konnten diese außer in Russland kanalisiert, unterdrückt werden. Aber der Krieg erwies sich prophezeiungsgerecht – ohne einen raschen Sieg würde er in Chaos und Revolutionen enden und die Kronen über das Pflaster rollen.
Das Problem besteht darin, aus heutiger Sicht zu bewerten, wohin eine reformorientierte antikapitalistische Politik führen kann, wenn sie auf dem Boden, in Akzeptanz und in Verantwortung für das bestehende politische System geführt wird. Die konkreten Konsequenzen 1914 waren fatal – die einstige große, internationalistische Antikriegspartei und ihre internationalen Organisationen versagten, weil die Einzelparteien sich den Argumenten ihrer jeweiligen Regierungen beugten und brav das Vaterland vereidigen wollten. „Vaterlandslose Gesellen“, der Ehrentitel für eine internationalistische Bewegung, wollten sie in der Stunde der Not nicht auf sich sitzen lassen. Und die Anerkennung, die sie seitens weiter Teile der Eliten erwarten konnten, sollte sich langfristig in gesellschaftlichen Veränderungen im Interesse der Arbeiterschaft auszahlen. Die erwies sich 1914-18 als problematisch, denn die Zugeständnisse waren letztlich Ergebnisse des durch die Verweigerung von unten und den Ausbruch der russischen Revolutionen eingesetzten Prozesses der Kriegsbeendigung. Der Linken und der bürgerlichen Gesellschaft erwuchs zudem in Gestalt eines starken Teils der radikalen Linken, der Kommunisten, ein unerbittlicher Gegner, der die nächsten Jahrzehnte, mit der russischen Sowjetmacht im Rücken, die Weltgeschichte mitbestimmen sollte. Wobei das Entstehen dieser radikalen, revolutionären Alternative im Unterschied zu dem auch mit dem Weltkriegsjahrestag verbundenen Totalitarismusgezetere eben nicht ursächlich für die gewaltsame, diktatorische Alternative war, sondern nur eine Reaktion auf einen entfesselten imperialistischen Krieg mit Mord, Völkermord, Exzessen gegen politische Gegner, mit frühfaschistischen, rassistischen, chauvinistischen Bewegungen angefangen mit den Alldeutschen, die die sowieso schon harten politischen Auseinandersetzung in den keineswegs goldenen Vorkriegsjahren nun auf eine blutige Spitze trieben. Der Krieg und die Mitschuld der Sozialdemokratie begründeten ein verhängnisvolles Schisma der Arbeiterbewegung und eine Feindschaft, die nur scheinbar 1989/91 beendet wurde.

Nebelkerzen. Erinnerung und Aktualität des Großen Kriegen

In der heutigen Auseinandersetzung um die Geschichte dieses Großen Kriegs werden zielgerichtet Nebelkerzen gezündet, um nicht das Wesen der damaligen Vorgänge, das Geheimnis, aus dem Kriege heraus entstehen, organisiert, entfesselt werden, zu verschleiern. Da ist wohlgemerkt nur bedingt ein Vorwurf an jene Historiker und Politologen, die zuhauf ihre Bücher herausbringen. Dass aber Clark und Münkler hochgeschrieben werden im bundesdeutschen Feuilleton, dass ihre Überlegungen Eingang in die Gedenkartikel wie in die Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung finden ist eben kein Zufall. Es entspricht der gewollten politischen Aufarbeitung der Vergangenheit, der aktuell gewünschten Mode, wie geschichtliche Ereignisse gelesenen und verstanden werden sollen. Allein die immer noch vorhandenen pluralistischen Elemente verhindern, dass diese Sichtweise nicht nur dominiert, sondern auch nicht bei kritischem Willen durchdringbar bleibt.
Wenn nicht nach den sozialökonomischen Ursachen des Krieges gefragt werden soll, wenn nicht die Interessenlagen der Monopolkapitalisten und Großagrarier in den Mittelpunkt gestellt werden sollen, dann muss das Publikum mit anderen Feldern der Auseinandersetzung beglückt werden. Die haben mit Rückblick auf die Geschichte wie mit – weit wichtiger – dem Blick auf die Kriege und Konflikte der Gegenwart und nahen Zukunft den entscheidenden Vorteil, genau diese Interessenlagen, die Wege der Profitrealisierung und -maximierung eben nicht zu verfolgen, nicht hinter die Beweggründe für nationale, ethnische, menschenrechtsbestimmte, religiöse oder andere Dunstschleier zu suchen.
Hier kann nur auf zumindest vier solche Nebelkerzen hingewiesen werden, die genau dies verhindern sollen:
Erstens wenden sich fast alle Betrachtungsweisen der Geschichte der Diplomatie und Entscheidungsfindung am Vorabend des Krieges zu – und dies hinsichtlich des Vorabends keineswegs im übertragenen Sinne. Zum wiederholten Male durchforsten Historiker die Akten des Entscheidungsprozesses in der Julikrise 1914, finden Ungereimtheiten, handwerkliche Fehler, Vorurteile und Fehlurteile. Das liest sich spannend – wirft aber nur eine Frage auf: Warum handelten die Akteure so, wie waren sie ideologisch, mental, sozialisiert und verwoben in Elitenstrukturen, in Machklüngel, Wirtschaftsinteressen, was geschah nicht in den fünf Wochen vor dem Kriegsbeginn, sondern in den zehn, fünfzehn Jahren des neuen Jahrhundert? Dass bis auf wenige Ausnahmen dabei auch eine multipolare Sicht verlorengeht, ist vielleicht jenseits der „Büchse der Pandora“ und eines anderen weitgefächerten Blicks … schon fast nebensächlich.
Zweitens fällt auf, dass viele Darstellungen, auch von gestandenen Historikern, betonen, dass diesen Krieg, wie er dann verlief, mit seinen Schützengräben, seinem Verheizen von hunderttausenden Soldaten in kurzer Zeit, seinen Materialschlachten und seinen modernen Waffensystemen niemand gewollt habe. Auch das entbehrt jeder realen Grundlage. Wenn von den Ansprüchen der Stammtischstrategien und der flotten Sprücheklopfern auf Universitätskathedern und vor Schulklassen abgesehen wird. Den Staatsmännern und noch mehr den Militärs waren die Risiken eines modernen Krieges mit Millionenarmeen, starken Defensivwaffen, den Notwendigkeiten einer umfassenden Kriegswirtschaft wohl bekannt. Sie kannten die Kriege der zweiten Hälfte des 19. und die des beginnenden 20. Jahrhunderts. Militärbeobachter hatten an diesen Kriegen teilgenommen, die intelligenteren Militärs hatten ebenso wie Kriegsgegner und Pazifisten seit den 1880er Jahren einen solchen Krieg mit seinen militärischen und auch revolutionären Risiken sehr wohl beschrieben und beschworen. Nur, die Militärs wollten genau diesen Krieg vermeiden, wollten pfiffiger, vor allem schneller, und schneidiger als der Gegner sein. Spätestens mit dem Scheitern des Schlieffenplanes hatte sich solch ein Herummogeln um den modernen Krieg erledigt. Die Sorgenfalten und gar Tränen der obersten Befehlshaber bei Unterzeichnung der Kriegserklärungen waren wohl echt gewesen, Ahnungen hatten sie sehr wohl – und die Bereitschaft für den Sieg auch Vabanque zu spielen.
Drittens gibt es aus der vermeintlich verstandenen Geschichte abgeleitete Versprechungen, wie Kriege künftig verhindert werden sollen. Dass dies in Zeiten geschieht, wo gerade an den unterschiedlichsten Ecken der Welt gezündelt wird und hinter den vorgeschobenen nationalistischen, menschenrechtlichen oder religiösen Parolen handfeste wirtschafts- und geopolitische Machtinteressen lauern, lässt diese Erklärungen allerdings nur als makaber erscheinen. Aus der Geschichte wurde nichts gelernt, weil die Interesse und deren Träger die gleichen geblieben sind.
Zentrale Botschaft sowohl mancher Historiker als auch der westlichen, nicht zuletzt der deutschen Politiker ist das Versprechen, dass mit Europa, seiner Gemeinschaft und seinen Institutionen die Bewahrung des Friedens als Lehre aus den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts gesichert sei. So, wie die Vorkriegszeit von 1914 geschönt als eine vermeintliche kriegsfreie beschrieben wird – es krachte ja nur in den Kolonien, auf dem Balkan, im Fernen Osten – so wird nun die Entwicklung nach 1989 schöngeredet. Ausgeblendet bleiben die Kriegshandlungen und immer noch offenen Konflikte im Gefolge der Staatenauflösungen auf dem Balkan, in Kaukasien und Mittelasien, die auch europäische Interessen tangierenden Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika. Die vermeintliche Friedensorganisation Europäische Union ist mit ihren Vorläufern nach 1945 als eine zweifelsohne erfolgreiche Abwehrorganisation gegen den Ostblock und die Sowjetunion ins Leben gerufen worden. Vielleicht erfolgreicher als ihr militärisches, noch raumgreifenderes Pendant NATO hat diese Gemeinschaft es allerdings verstanden, einen alternativen, aber immer noch kapitalistischen Entwicklungsweg zu praktizieren und als bereitwillig von den Nachfolgestaaten des Ostblocks aufgegriffenes Modell zu entwickeln. Immerhin hat diese imperialistische Expansion erst im Falle der Ukraine zu einer inzwischen latenten militärischen Konfrontation mit der eingekreisten wiedererstarkten russischen Macht geführt.
Der größere Hohn mit dem anempfohlenen europäischen Modell besteht allerdings darin, dass die Idee eines, wie es damals genannt wurde – sowohl in dem Kriegszielprogrammen Bethmann Hollwegs wie in der bürgerlichen Kriegszielpropaganda – „Mitteleuropa“ ein ganz besonderes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell darstellte: Die politische Absicherung einer deutschen Hegemonie nicht allein militärisch sondern wirtschaftlich.
Wenn viertens in den Mittelpunkt der Geschichtspolitik die Kontinuität eines totalitären 20. Jahrhunderts und des Antitotalitarismus gestellt wird, fällt auf, dass die dort unterstellte gleiche Verworfenheit der roten wie der braunen Diktatur nur bedingt in dieser – selbst wie es akzeptiert würde – „Urkatastrophe“ ihren Ausgang genommen haben sollte. Einmal abgesehen davon, dass wenig über den Charakter des Kaiserreichs als einer keineswegs demokratischen Veranstaltung sondern als einer zumindest autoritären Diktatur eines Kaiser mit seinem „persönlichen Regiment“, also einem nur bedingt demokratisch eingefriedeten absolutistischen Machtanspruch, seinen Ausgang nahm – ganz abgesehen von vergleichbaren oder schlimmeren Despotien in Wien, St. Petersburg oder Konstantinopel oder den auch nur formal parlamentarisch organisierten Westmächten. Dazu gehört auch die faktische Militärdiktatur im Deutschen Reich, spätesten mit der 3. Obersten Heeresleitung und Ludendorff/Hindenburg ausgeprägt, aber in allen kriegführenden Mächten, auch den sogenannten Demokratien die alltägliche Praxis. Bewusst wird vor allem ausgeblendet, dass die pazifistischen und linken antisozialistischen Kräfte von Anfang an unterdrückt und verfolgt wurden, sie bei als Angriff auf die Kriegsanstrengung diffamierten Streiks Gefahr liefen, an die Front in den Tod geschickt zu werden, sie in den einzelnen Staaten unterschiedlich, aber auch nicht selten mit tödlichem Risiko der polizeilichen und juristischen Verfolgung unterlagen und im Zweifelsfalle bei Soldatenstreiks, Meutereien oder Aufständen zusammengeschossen wurden, ganz abgesehen von den Kämpfen der revolutionären Nachkriegskrise, die mit dem Sieg der Konterrevolution und oft genug mit ihrem Blutgericht endeten. Revolutionäre Diktatur und gar Terror, Teil der gegen den Krieg und seine Macher gerichteten Revolutionen und Revolutionsversuche in Russland, Ungarn, Bayern, Berlin waren Reaktionen, nicht die Ursache und nicht gleichberechtigt mit der rechten Gewalt, die oft genug auch von treuen sozialdemokratischen Politikern exekutiert wurde.