von Bernhard Romeike
Am 17. Juli 2014 hatte Angela Merkel ihren 60. Geburtstag. Des Nachts, die Uhr zeigte schon den neuen Tag, stand die Kanzlerin in Brüssel vor der Presse, um die Gipfel-Gespräche, die nichts gebracht hatten, auf ihre Weise zu deuten. Udo van Kampen, alter Fernseh-Hase vom ZDF, stellte keine Frage, sondern sang beherzt: „Happy birthday!“, wohl in der Hoffnung, andere deutsche Korrespondenten würden einstimmen. Die aber schauten betreten zu Boden. Van Kampen hat sicherlich andere Stärken als Singen. Die Kanzlerin dankte es ihm huldvoll und meinte, es hätte wohl besser geklungen, hätte sie selbst mitgesungen.
Schon vor zehn Jahren, zu ihrem 50. Geburtstag, hatte Merkel – da war sie noch Oppositionsführerin – keinen Stehempfang veranstaltet oder sich Lobreden organisiert, sondern zu einem wissenschaftlichen Vortrag in die CDU-Zentrale eingeladen. Damals redete der Neurophysiologe Wolf Singer über die Selbstorganisation des menschlichen Gehirns und meinte, wenn wir die besser verstünden, könnten wir auch andere komplexe Systeme, wie das der Wirtschaft oder die sozialen Systeme besser verstehen. Die Evolution zeige, dass große Sprünge oft zu tödlichen Mutationen führten, während kleine Veränderungen, deren Effekt immer wieder überprüft werde, nachhaltige Ergebnisse zeitigten. Der Vortrag wurde im Nachgang zum „Leitfaden für die Kanzlerschaft“ Merkels hochstilisiert.
Zum 60. hat sich Merkel den Historiker Jürgen Osterhammel eingeladen. Bereits zehn Tage zuvor hatte Jakob Augstein diesen mit den Worten zitiert: „Die Geschichte mahnt zur Skepsis gegenüber jedem Lösungsangebot, das den Zeitfaktor für beherrschbar hält.“ In diesem Sinne habe Merkel, so Augstein im Spiegel vom 7. Juli, in Osterhammel „jemanden gefunden, der ihren passiven Pragmatismus wissenschaftlich erklärt“. Augstein verweist auf das derzeitige Reden von „deutscher Verantwortung“, zitiert Habermas und macht geltend, Merkel weiche der Verantwortung aus.
Aber ist das eine zutreffende Beschreibung? Es ist wohl zunächst angezeigt, „Verantwortung“ im Sinne von Interessen, Macht und Einfluss zu buchstabieren. Weiter ist gewiss richtig, dass Merkel zwar immer die „Freundschaft“ mit den USA beschworen hat, zugleich aber die Spielräume deutscher Außenpolitik insbesondere gegenüber den USA vergrößerte. Sie hat gesagt, Deutschland solle gestärkt aus der Finanz- und Euro-Krise hervorgehen. Heute befindet es sich faktisch in einer dominierenden, manche sagen gar einer hegemonialen Position in der EU. In Bezug auf Russland hat Merkel einerseits stets mit der Menschenrechtskarte gespielt, zugleich aber die strategischen Beziehungen weiterentwickelt. Jetzt wird gerade – unter Nutzung der USA – die Ukraine aus dem Einflussfeld Russlands gelöst und in das der EU, das heißt Deutschlands, eingeordnet. Russland hat sich im Gegenzug die Krim genommen, was vom Westen mit Protesten quittiert wurde, aber am Ende ist Russland froh, dass die Beziehungen mit dem Westen, sprich Deutschland, aufrecht erhalten bleiben.
Allein diese Neuordnung ist ein grandioser außenpolitischer Vorgang, der nur deshalb funktioniert, weil er nie programmatisch verkündet, sondern in schrittweiser Pragmatik durchgesetzt wird. Das ist Merkelsche Außenpolitik. Nicht alle im bürgerlichen Lager haben verstanden, dass hier etwas realisiert wird, woran Deutschland in zwei Weltkriegen gescheitert war. Und viele Linke haben das auch nicht begriffen, sonst wäre es in dieser Frage nicht so still im Lande. Die beste Tarnung ist, wenn Leute wie Augstein Merkel attestieren, sie mache gar keine Außenpolitik.
Jürgen Osterhammel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz, erhielt für den Merkel-Vortrag das Thema: „Vergangenheiten: Über die Zeithorizonte der Geschichte“. Sein über 1.500 Seiten starkes 2009 im Beck Verlag München publiziertes Opus magnum hat den Titel: „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“. Es ist in der Tat der gelungene Versuch, eine Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben.
In der Einleitung zu diesem Buch vermerkt der Autor: „Es ist keine abgeschlossene Binnengeschichte einer durch Jahreszahlen eindeutig demarkierbaren Epoche. Deshalb fehlen solche Jahreszahlen im Titel […] Das Buch verankert das 19. Jahrhundert auf wechselnde Weise ‚in der Geschichte‘, und es leistet sich bewusst scheinbar anachronistische Rückgriffe weit hinter 1800 oder 1780 zurück oder Vorgriffe bis nahe an die Gegenwart heran. Auf diese Weise soll der Stellenwert des 19. Jahrhunderts in längeren Abläufen gleichsam trianguliert werden. Manchmal ist es uns fern, manchmal sehr nah, oft ist es die Vorgeschichte der Gegenwart, zuweilen versunken wie Atlantis.“ Wenn man das in außenpolitische Pragmatik überträgt, hieße es: Die grandiose Neuordnung Europas im Osten wird ideologisch unterfüttert, indem man die geopolitische Ausdehnung des Westens nach Osten qua EU- und NATO-Osterweiterungen als Ausdehnung der Zone der Freiheit und Demokratie im Geiste des 21. Jahrhunderts interpretiert und Russlands Gegenreaktion zu einer „Geopolitik des 19. Jahrhunderts“ erklärt. In diesem Sinne kann mit Osterhammel davon ausgegangen werden, dass man flexible Zeitlichkeiten braucht, um gleiche Akte zu verschiedenen zu machen. Und so passt der Professor denn zur tatsächlichen Politik der Kanzlerin.
Ein Teil der bürgerlichen Presse stöhnte um Merkels Geburtstag herum einmal mehr, sie solle doch endlich abtreten, habe lange genug regiert. Warum sollte sie das tun? Wenn sie 2017 wieder antritt, hat sie 2021 sechzehn Jahre lang das Land regiert – wie einstmals Helmut Kohl. Wenn sie 2021 nochmals antritt, war sie 2025 länger Bundeskanzlerin, als Bismarck Reichskanzler. Dann ist sie 71 Jahre alt. Immer noch zwei Jahre jünger, als Konrad Adenauer 1949, als er anfing zu regieren.
Schlagwörter: Angela Merkel, Außenpolitik, Bernhard Romeike, EU, NATO, Russland, Ukraine