von Erhard Crome
Vor einigen Jahren war ich Teilnehmer eines sicherheitspolitischen Seminars in Moskau. Es ging um den Iran und die Frage, ob der Westen nach dem Irak nun den Iran überfallen werde. Da machte ein alter Professor vom Asien-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften auf eine wichtige kulturelle Differenz aufmerksam: Bei aller Rhetorik müsse man bedenken, dass die USA eine Nation von Pokerspielern seien; was immer für ein Blatt sie in der Hand hielten, sie müssten ein siegessicheres Gesicht machen und einen entschlossenen Eindruck vermitteln. Der Iran dagegen sei ein altes Volk, und es werde Schach gespielt, das heißt, die Akteure hätten nicht nur den nächsten Zug, sondern auch noch einen sechsten und zehnten Zug im Kopf, wenn sie das Spiel eröffnen.
Die Russen sind ebenfalls Schachspieler. Es war von Anfang an völliger Unsinn, wenn schon nach wenigen Tagen im Westen verantwortliche Politiker jammerten, nun habe man so schöne Sanktionen gegen Russland beschlossen, und der Putin lenke in der Krim-Sache immer noch nicht ein. Auffällig ist, dass Leute, die bekanntermaßen von Strategie und Militärwesen etwas verstehen, wie Henry Kissinger, Peter Scholl-Latour oder General a.D. Harald Kujat, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, den Westen davor warnen, die Beziehungen mit Russland weiter zu verschlechtern und den Streit in Sachen Krim zu eskalieren. Während eher naive Politiker, die heute eigentlich für Verantwortung zuständig sind, wie Rebecca Harms von den Grünen oder Frau von der Leyen und Herr Steinmeier, ständig von „Sanktionen“ reden und die Eskalation befeuern wollen. Die Strategen fordern, die Interessen Russlands tatsächlich zu analysieren, die des Westens zu definieren, und dann eine Vereinbarung zu treffen. Auch Herfried Münkler, bekannter Professor für Bellizismus und bisher immer für einen „kleinen Krieg“ gut, sagte auf die Frage, ob denn 2014 wie 1914 ausgehen werde, dass der Westen nicht wegen der Krim in den Krieg ziehen wird.
Versuchen wir einmal, die Sache aus russischer Sicht zu betrachten. Russische Nationalisten schimpften schon Anfang der 1990er Jahre, dass es das größte Verbrechen der Kommunisten gewesen sei, das Land in Republiken aufgeteilt zu haben, die nach nationalen Gesichtspunkten definiert waren. Hätte man das Land in Gouvernements belassen, wie es beim Zaren war, die nicht der Logik ethnischer Zugehörigkeiten folgten, hätte die Sowjetunion nicht entlang dieser Linien auseinander fallen können. Ist sie aber, und seit der Stalinschen Verfassung von 1936 hatten die Republiken das Recht auf Austritt. So haben die politischen Spitzen 1991, die überwiegend aus der KPdSU-Nomenklatura kamen, das Land entlang dieser Linien zerlegt und sich gegenseitig die territoriale Integrität auf dieser Grundlage zugesagt. Aber schon der im Westen immer hochgelobte Alexander Solschenizyn, ebenfalls russischer Nationalist, bemerkte damals zu den nunmehrigen Grenzen der Russischen Föderation, Russland sei auf die Grenzen zur Zeit Iwans des Schrecklichen (1530-1584) zurückgeworfen und hätte alles Territorium verloren, das Generationen seither für Russland erworben hatten.
Daraus folgte aber kein unbedingter Expansionsdrang Russlands nach 1991. Die Moskauer Eliten hatten sich mit dem Ende der Sowjetunion abgefunden. Dass die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken als das „nahe Ausland“ im Unterschied zum „richtigen“ Ausland angesehen wurden, hieß nicht, sie zurückzuerobern, sondern besondere Beziehungen zu ihnen zu unterhalten. Gewiss auch in dem Sinne, dort weiterhin einen bestimmten Einfluss auszuüben, so wie die USA in Lateinamerika. Das waren jedenfalls Debatten der 1990er Jahre in Moskau.
Einige Politikwissenschaftler und Politiker im Westen, von den USA bis Polen und Estland, meinen nun alarmistisch, Russland werde nach Abchasien und Südossetien nun die Krim und dann weitere Teile der Ukraine und Kasachstans annektieren wollen. Ist das ernst zu nehmen? Was aber ist mit der Krim? Gewiss, nach Auseinandersetzungen des ukrainischen Parteichefs Nikita Chruschtschow mit dem georgischen Partei- und Regierungschef der Sowjetunion Jossif Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg hat Chruschtschow, nun selbst KPdSU-Chef, nach Stalins Tod 1954 die Krim der Ukraine überantwortet. Es war gewissermaßen ein Geschäft zu Lasten Dritter, nämlich des russischen Volkes. Und es war illegal, denn es gab weder einen Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR, die Krim zu übergeben, noch des Obersten Sowjets der Ukraine, die Krim zu übernehmen. Gleichwohl war die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine geübte Praxis. Und mit dem Budapester Memorandum zwischen Russland, den USA und Großbritannien einerseits und der Ukraine andererseits über die Übergabe der auf dem Territorium der Ukraine befindlichen Atomwaffen der Sowjetunion an Russland vom 5. Dezember 1994 hatte die russische Regierung die territoriale Integrität der Ukraine ausdrücklich anerkannt.
Der Westen aber hat viele seiner Zusagen seit dem Ende des Kalten Krieges nicht eingehalten. Das beginnt mit der ausdrücklichen Erklärung der Regierung Bush sen. vom Februar 1990, die einzige NATO-Osterweiterung werde die um das Territorium der DDR sein, und reicht jüngst bis zu der Unterschrift der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens unter die Vereinbarung in Kiew zwischen der Janukowitsch-Regierung und der damaligen Opposition über die geordnete Übergabe der Macht, die bereits Stunden später das Papier nicht mehr wert war und zur Machtergreifung der jetzigen ukrainischen Regierung unter Einbeziehung der Faschisten führte. Durch die NATO-Osterweiterung ist der Ring um Russland in seinen jetzigen Grenzen immer enger gezogen worden. Ein NATO-Beitritt der Ukraine wäre eine neue Qualität dessen. Und Russland dürfte nicht fest damit rechnen, seinen Kriegshafen auf der Krim dauerhaft weiter nutzen zu können. Der aber ist essentiell für die wiedererstarkte geopolitische Rolle Russlands. Dazu gehören die Aufrechterhaltung des russischen Seestützpunktes in Syrien und Seemanöver gemeinsam mit der chinesischen Flotte im östlichen Mittelmeer. Insofern dürfte das eigentliche strategische Ziel Russlands nicht der Besitz der Krim sein, sondern die Erhaltung des Kriegshafens Sewastopol und die Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine.
Die westliche Argumentation jetzt ist, die Grenzen in Europa dürften nicht einseitig verändert werden. Das ist lächerlich. Der Westen hat sie geändert im Falle der Abtrennung des Kosovo von Serbien in Verbindung mit einem Volksentscheid. Insofern wäre eine Abtrennung der Krim von der Ukraine in Verbindung mit einem Volksentscheid qualitativ nichts anderes. Auch wenn deutsche Völkerrechtler nicht müde werden zu erklären, der Kosovo sei ein Einzelfall, der nicht verallgemeinerbar sei. Es war der Präzedenzfall.
Auf die Erklärung Russlands, es sei verpflichtet, in den Wirren in der Ukraine russische Bürger zu schützen, entgegnete die US-Vertreterin im UNO-Sicherheitsrat, Samantha Power, das sei ja gerade so, als wäre Russland die Polizeitruppe des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Wahrscheinlich ist Power (Jahrgang 1970) zu jung, um zu wissen, dass genau mit diesem Argument die USA 1983 in Grenada und 1989 in Panama militärisch eingefallen waren, um jeweils die dortigen Regierungen zu stürzen, die der Weltmacht nicht in den Kram passten. So ist die derzeitige Krim- und Ukraine-Politik Russlands auch symbolisch gemeint: Wer strategische Atomwaffen hat, kann in seinem Umfeld machtpolitisch auch Schritte gehen, die sich über das Völkerrecht hinwegsetzen, ohne dass er real daran gehindert werden kann.
Das Geschimpfe der US-Regierung bei gleichzeitiger Mitteilung, keine Truppen in die Ukraine zu schicken, bestätigt genau dies. Dennoch sind schon jetzt NATO-Offiziere und Söldner der Privatfirma, die früher Blackwater hieß, in der Ukraine. Die USA haben sich die Herbeiführung der Situation dortzulande bisher fünf Milliarden Dollar kosten lassen. Sie wollen die Ukraine nicht loslassen und gemeinsam mit der EU im westlichen Einflussgebiet haben und gegen Russland positionieren. Russland aber will sich nicht weiter einkreisen lassen und hält in der Krim-Frage dagegen.
Zugleich aber scheint es ein größeres Spiel zu geben. Die USA sind dabei, sich gegen China zu wenden. Für diese pazifische Ausrichtung aber brauchen sie EU-Europa als Hinterland. Eine EU, die wirtschaftlich eng mit Russland und mit China zusammenarbeitet, die gleichsam die eurasische Verbindung herstellt, schwächt die US-Positionen in der pazifischen Ausrichtung. Deshalb das Interesse der USA, die transatlantische Freihandelszone zu schaffen. Die würde die Bindungen der EU in Eurasien schwächen und deren Abhängigkeit von den USA stärken. Wenn es in Verbindung mit Krim und Ukraine tatsächlich zu ernsthaften Sanktionen gegen Russland käme, wäre dies die Folge. Zugleich schwadroniert mancher im Westen, man könne Russland dadurch in die Knie zwingen, dass seine Wirtschaft und der Rubel weiter geschwächt werden. China hat bereits deutlich gemacht, dies nicht zuzulassen. Gleichzeitig hat es angeboten, bei westlichem Boykott russischen Erdgases dieses zusätzlich abzunehmen. Das aber würde bedeuten, dass Russland nicht mehr zwischen EU-Europa und China wählerisch Politik machen könnte, sondern von China abhängt. Das heißt: die ukrainische Zuspitzung hätte das Ergebnis, dass eine neuer Eiserner Vorhang zwischen der EU und Russland niedergeht mit der Folge, dass die EU als Hinterland der USA und Russland als Hinterland Chinas in deren Auseinandersetzung dienen. Und die führenden Politiker der EU-Länder lassen sich genau in dieses Spiel einbinden, wenn sie den Sanktionen gegen Russland das Wort reden. Die USA pokern nicht nur, sie spielen auch Schach.