von Erhard Crome
Am Ende des Ersten Weltkrieges wähnte sich Deutschland in der Lage, nach dem Zusammenbruch der Zarenreiches und den russischen Revolutionen eine große Kolonial- und Einflusszone im Osten zu errichten. Die deutsche Unterstützung für den gegen Russland und gegen die Bolschewiki gegründeten ukrainischen Staat wurde am 7. September 1918 bekräftigt, als Kaiser Wilhelm II. den Hetman der Ukraine, Pawel P. Skoropadski, auf Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel empfing. In einem vergleichbaren Sinne betonte Zbigniew Brezinski, einer der Vordenker US-amerikanischer Globalstrategie, nach dem Ende des Kalten Krieges, eine unabhängige Ukraine sei ein „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“ dafür, dass Russland in einer geschwächten Position verbleibt. Das müsse fester Bestandteil einer umfassenden Strategie der USA und des Westens in Eurasien sein.
Die Europäische Union, die in ihrer Außenpolitik oftmals so wirkt, wie die Handelsföderation in „Star Wars“ – sie setzt auf wirtschaftliche Erpressung, zettelt Konflikte an, die schließlich zur Abschaffung der Demokratie führen, lässt die Kriege aber vor allem durch andere führen, durch Söldner oder das dunkle Imperium der Macht –, hat gerade wieder einen solchen Versuch unternommen. Mit der Ukraine sollte ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen abgeschlossen werden, das eine engere Zusammenarbeit und Marktzugänge ermöglichen sollte. „Es ist das weitestreichende, das die Europäische Union jemals mit einem Nichtmitglied ausverhandelt hat, und könnte beim Gipfel der Östlichen Partnerschaft im November in Litauen besiegelt werden“, schrieb der österreichische „Standard“ im März 2013. In Aussicht gestellt wurden umfangreiche Kreditlinien, darunter des Internationalen Währungsfonds. Zugleich hatte die EU innere Reformen in der Ukraine und die Freilassung der verurteilten früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko gefordert. Damit hatte sich die EU allerdings selbst eine Falle gestellt, aus der sie nicht wieder heraus kam: Keine Regierung, die etwas auf sich hält, kann eine solche Bedingung ohne Gesichtsverlust erfüllen.
Hinzu kam, dass Russland, mit dem die Ukraine wirtschaftlich weiter eng verbunden ist und von wo das Land den Hauptteil seiner Energielieferungen bezieht, deutlich machte, bei Zustandekommen des Vertrages mit der EU „Schutzmaßnahmen“ ergreifen zu müssen. So hatte der ukrainische Präsident Janukowitsch erklärt, parallel zu dem Vertrag mit der EU mit dem „Einheitlichen Wirtschaftsraum“ von Russland, Kasachstan und Belarus zusammenarbeiten zu wollen. Daraufhin hatte EU-Kommissionspräsident Barroso gefordert, die Ukraine müsse sich entscheiden, sie könne nicht gleichzeitig ein Freihandelsabkommen mit der EU und eine Zollunion mit Russland haben. Auch diese Alternativ-Falle hatte also die EU gestellt.
Nachdem Janukowitsch nun den Vertrag nicht unterzeichnet hatte, war das Geschrei groß. Es hieß, Russland habe einen Sieg errungen, die Ukraine sei für lange Zeit für den Westen verloren, dieser müsse „Putin die Macht entreißen“, die Ukraine erpressen zu können, so der italienische Corriere della Siera. In der konservativen Presse auch Deutschlands wurde versucht, eine neue „Revolution in Orange“ herbeizuschreiben. Der Boxweltmeister Vitali Klitschko und andere Oppositionspolitiker riefen zu Großdemonstrationen und zum Sturz der Regierung auf.
In den vergangenen Jahren waren die vorherigen Regierungen in Georgien („Rosenrevolution“ 2003), der Ukraine („Orangene Revolution“ 2004) und Kirgisistan („Tulpenrevolution“ 2005) gestürzt und jeweils durch pro-westliche Politiker ersetzt worden, die mittlerweile jedoch ihrerseits wieder abgewählt wurden. In all diesen Fällen hatten sich US-amerikanische Stiftungen dessen gerühmt, daran aktiv mitgewirkt zu haben. Es scheint, Revolutionen seien zu einem probaten Mittel westlicher Politik geworden, das man nach Belieben einsetzen könne. Durch die arabischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die zunächst ohne Zutun des Westens ausgebrochen waren, wurde der Eindruck verstärkt, dass man nur lange genug auf Straßen und Plätzen demonstrieren muss, damit die Regierung abtritt. In Kairo wurde das dann mit der gewählten Regierung des Präsidenten Mursi wiederholt. Nun sollte es also in Kiew wieder erreicht werden.
Mit der Ukraine aber ist das so eine Sache. Das Land besteht im Innern aus zwei Teilen, die Westukraine gehörte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nie zu Russland, sondern abwechselnd zu Polen und Österreich, während die Ostukraine immer zu Russland gehörte. Die Bevölkerung dort hat kein Problem mit guten Beziehungen zu Russland. Janukowitsch kommt von dort, seine Wähler überwiegend auch, die dortigen Wirtschaftsbosse stützen ihn. In Kiew demonstrieren überwiegend die auf den Westen orientierten Kräfte. Aber der Eifer lässt bereits nach.
Im Hintergrund steht, dass die geopolitische Strategie in Widerspruch zu den handfesten wirtschaftlichen Interessen steht. So schrieb die russische Nachrichtenseite Slon: „Europa braucht die Ukraine so, wie wir Zentralasien brauchen: Diese Region brauchen wir eigentlich nicht, wir haben jedoch Angst, dass ohne unsere Präsenz dort andere kommen, die Chinesen, die Taliban, die Amerikaner, die Tataro-Mongolen oder Dschingis-Khan… Und das Europa, das die Ukraine im Sinn hat – eine Familie von gleichen, kultivierten und reichen Menschen – existiert ohnehin nicht. Dort gibt es Reiche und Arme, und manche Länder sind gleicher als andere… Durch ein paar Unterschriften auf einem Dokument mit Sternen verändert sich weder die Lebensqualität, noch das BIP, noch das Verhältnis von Staatsschulden und Währungsreserven.“
Deshalb kritisierte die konservative polnische Rzeczpospolita, die zunächst ebenfalls dem Aufruhr in der Ukraine das Wort geredet hatte, den Auftritt des deutschen Außenministers Westerwelle in Kiew am 4. November. Die Ukraine müsse eine innenpolitische Lösung finden. Sonst drohen Chaos und Untergang. Insofern ist die Idee von Präsident Janukowitsch, eine vertragliche Dreier-Konstruktion zu schaffen, durch die die Ukraine sowohl mit der EU als auch mit Russland verschränkt ist, eben nicht so falsch. Es wäre eine Neuerung. Allerdings müsste die EU von ihren Entweder-Oder-Positionen abrücken und die Idee einer neuerlichen Surrogat-Revolution begraben.
Schlagwörter: Erhard Crome, EU, Geopolitik, Russland, Ukraine