16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Wir verabscheuen uns mit Respekt

von Erik Baron

Wir verabscheuen uns mit Respekt. Mit großem Respekt, keine Frage – auf diesen Nenner brachte Heiner Müller 1990 das ambivalente Verhältnis der beiden Antipoden der DDR-Dramatik, Hacks und Müller. Was der eine geschichts-pessimistisch in Tragödien fasste, formulierte der andere in optimistische Komödien. Hier kollidierten zwei ästhetische Konzepte und deren geschichtsphilosophische Fundamente miteinander. Mehr Antagonismus schien nicht möglich zu sein!
Und dennoch stecken in den so konträren Ansätzen mehr Gemeinsamkeiten, als auf den ersten Blick auszumachen ist. Der Theater- und Literaturwissenschaftler Gottfried Fischborn (Jahrgang 1936), der zu DDR-Zeiten sowohl den einen als auch den anderen mehrfach interviewt hat, versucht sich in seinem Essay an der Vermittlung zwischen beiden. Und was bietet sich bei einem solchen Annäherungsversuch besseres an als ein essayistisches Streitgespräch. Zu Fischborn gesellen sich zwei von ihm geschaffene Figuren hinzu, Procebio und Oppolonius, die munter drauflos diskutieren. Aber was heißt, Procebio und Oppolonius gesellen sich hinzu? Fischborn spaltet sich in seiner eigenen Ambivalenz auf und schlüpft in diese beiden Gesellen hinein. Denn für ihn lassen sich Müller und Hacks sehr wohl miteinander vereinbaren. Und in ihrer frühen Phase standen sie gar in Augenhöhe nebeneinander, schufen mit ihren Stücken (LohndrückerDie Sorgen und die Macht sowie Die UmsiedlerinMoritz Tassow) ähnlich strukturierte Werke der frühen DDR-Gegenwartsdramatik, die nicht zufällig nach dem XX. Parteitag der KPdSU ihren Aufschwung fand. Denn in der Ablehnung der kapitalistischen Verhältnisse einerseits und in der kommunistischen Utopie andererseits waren und blieben sie vereint. Nur der Weg aus der kapitalistischen Vergangenheit in die kommunistische Zukunft stellte sich für Müller und Hacks diametral entgegengesetzt dar. Der entscheidende Dissens war die Haltung zu Stalin. Von hier aus trennten sich die Wege und ließen die beiden Dramatiker zu Antipoden der Gegenwart werden: Müller als anarchistischer Anti-Stalinist und Hacks als stalinistischer Aristokrat. Und hier will Fischborn mit Hilfe seiner Gesellen Procebio und Oppolonius vermitteln!
Nun lässt sich heutzutage mit der Stalin-Keule ein jeder, der nur ansatzweise in stalinistischen Verdacht gerät, mit einem Schlag auslöschen. Peter Hacks hat dies, insbesondere nach der für ihn konterrevolutionären Wende, dauerhaft zu spüren bekommen. Diese oberflächlichen Keulenschläge des agierenden Zeitgeistes haben zumindest dazu geführt, dass Hacks seit gut zwanzig Jahren von der Bühne verschwunden ist. Um ihm jedoch gerecht zu werden, reicht die Stalin-Keule bei weitem nicht. Sie gehört aus der Hand gelegt, um sich in die Denkweise von Hacks hineinversetzen zu können. Dies die Voraussetzung beim Versuch der Vermittlung zwischen Müller und Hacks. Hierzu zieht sich Fischborn Felix Bartels’ Essay „Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks“ zu Hilfe und zitiert ihn mit der prägnanten Einschätzung: Die Idee, daß ausgerechnet das Volk, dessen eingeborene Unzulänglichkeit doch gerade der Grund für die Existenz von staatlicher Gewalt, von Gesetz und Verwaltung ist, darüber entscheiden könne, ob die Verwaltung des Landes ihre Arbeit richtig macht oder nicht, ist von einer solchen Weltfremdheit, daß die extremen Ausbrüche, die bei ihrer Realisierung hervorgerufen werden, kaum verwunderlich sind. Hacks’ Verständnis von Demokratie, hier von Bartels auf den Punkt gebracht, resultiert aus seinem Verhältnis zu Stalin (und umgekehrt). Diese Sichtweise, die die Stalinschen Strukturen bis hin zum Terror gegen das eigene Volk einschließt, zeugt einerseits von einer aristokratischen Arroganz dem Volk gegenüber, wird andererseits aber gespeist durch Erfahrungen mit eben diesem. War es nicht das Volk, das sich letztlich sehenden Auges 1989 in die gierigen Fänge des Kapitalismus zurückbegeben hat, nachdem es von Gorbatschows Glasnost infiziert war? Spricht dies nicht für Hacks’ diktatorisches Verständnis von Demokratie? Über Brechts Forderung, eine Köchin müsse den Staat regieren können, konnte Hacks nur müde lächeln. Für ihn gab es nur zwei herrschende Klassen, die Klasse der Spezialisten und die Klasse des Apparates, die unter der Führung eines absolutistischen Herrschers das Gemeinwohl des Volkes garantieren können. Öffentlichkeit, wie sie aus intellektuellen Kreisen eingefordert wurde, wirkte für Hacks nur destabilisierend für das System. So hat er selbst das Verbot seiner beiden Gegenwartsstücke „Die Sorgen und die Macht“ und „Moritz Tassow“ aus den sechziger Jahren im Nachhinein befürwortet – und sich fortan mit sozialistischer Klassik befasst. Politische Gegenwartsdramen, so Hacks, seien immer verboten worden, gehörten geradezu verboten: Wenn man aus historisch notwendigen Gründen Maßnahmen brutalen Charakters durchführen muß, kann man nie zulassen, daß in der Kunst eine Gegenwartserörterung stattfindet und Geschichten über die Folgen dieser unumgänglichen Maßnahmen geschrieben werden. In der Tat: welch bestürzender Satz, wie auch Oppolonius feststellt. Ein Offenbarungseid, in seiner kalten Logik bis ins Extreme zu Ende gedacht! Und das Schlimme: der Verlauf der Geschichte scheint ihm recht zu geben! Tut sie das wirklich? Oder spricht die Geschichte nicht genau die gegenteilige Sprache? Hat sich das Volk nicht deswegen in die Fänge des Kapitals zurückbegeben, weil es diktatorisch verwaltet und also nicht frei und selbstbestimmt agieren konnte? Womit wir bei Müller wären, der genau diese Selbstbestimmung als eigenständige Produktivkraft und somit als Voraussetzung für die sozialistische Gesellschaft eingefordert hat. Sozialismus funktioniert nur, wenn er auf breiten Schultern getragen wird. In seinem ersten Stück Lohndrücker zeigt Müller auf, wie die durch den Faschismus disziplinierte Arbeiterklasse für den Aufbau des Sozialismus produktiv gemacht wurde. Den gesellschaftlichen Motor anzukurbeln, war der Weg der Disziplinierung der einzig gangbare. Doch wie macht man Produktivität auf Dauer attraktiv? Durch die Freisetzung von Kreativität und Initiative, gepaart mit demokratischer Teilhabe, die Umwandlung dieser Disziplin in Emanzipation. Dies wurde in der DDR verpasst. Man setzte weiter auf Disziplinierung – Geburtsstunde der sozialistischen Diktatur. Ganz im Sinne von Peter Hacks, der in Ulbricht das wahre staatpolitische Genie sah. Mit dem Sturz von Ulbricht durch Honecker und der Liberalisierung der Kulturpolitik begann für Hacks die Aufweichung des Systems von innen her, getragen von der intellektuellen Fraktion der Romantiker wie Fühmann, Wolf, Braun und andere. Von Müller ganz zu schweigen. Der gefällt sich, aus Hacks’ Sicht, in seinem Geschichtspessimismus und produziert eine Tragödie nach der anderen, immer blutrünstiger werdend – bis er sich endgültig ins postdramatische Theater ohne Fabel und ohne Dialoge verabschiedet. Hacks hingegen schwingt sich zum sozialistischen Klassiker auf und schreibt Komödien – die für ihn einzig vorstellbare Dramenform im Sozialismus, weil im postrevolutionären Zeitalter die antagonistischen Widersprüche ausgemerzt und somit auch die Krise des bürgerlichen Dramas überwunden wäre(n)! Nun ist diese verabsolutierende Trennung zwischen Tragödie und Komödie mit Vorsicht zu genießen, zumal Müller immer wieder betont hat, dass seine Dramen tragikomisch seien, man müsse nur genau hinsehen. Und auch Hacks’ Komödien bewegen sich immer dicht am Tragischen. In diesem ästhetischen Spannungsfeld von Müllers Tragödie und Hacks’ Komödie lässt sich am Ende mehr Nähe feststellen, als auf den ersten Blick sichtbar wird. Man sollte nicht Müller gegen Hacks lesen, sondern mit ihm. Denn beide Dramatiker, so Fischborn mit seinen zwei Gesellen, waren im Zeitalter der Extreme Extremisten, Extremisten im Denken. Sie loteten ihr Denken radikal bis zum Äußersten an die eigenen Grenzen aus und produzierten somit jenen Schrecken, von dem Müller sagte, dass er die erste Erscheinung des Neuen sei. Und wenn, wie Fischborn meint, in Zukunft sowohl die Stücke von Hacks als auch die von Müller eher philosophisch denn politisch gelesen werden, braucht es auch keiner Stalin-Keule gegen Hacks mehr, um sich in diesem Spannungsfeld bewegen zu können. Dann sollten die Widersprüche, die sich aus diesem Feld ergeben, produktiv gemacht werden. Dazu gehören die Stücke auf der Bühne gespielt – im besten Fall parallel.

Gottfried Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller – Essay, Edition Neue Klassik im VAT Verlag André Thiele, Mainz am Rhein 2012, 183 Seiten, 16,90 Euro.